Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
06.02.2006. "Wenn er filmte, dann filmte ein Täter." Arno Widmann über Fassbinder, über die großartige Erzählerin Claire Keegan, über die gar nicht finstere Adenauerzeit, über seinen Riesenappetit auf Liu Zongyuan: Vom Nachttisch geräumt
Wir hängen an ihren Lippen

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einem Bauernhof in Irland auf. "Wo das Wasser am tiefsten ist" ist eine Sammlung von 16 kurzen Erzählungen. Ich kenne sonst nichts von ihr. Aber ich werde mir jede Zeile, die sie jemals geschrieben hat, besorgen. Ich weiß nicht mehr, warum ich mir ihr Buch bestellt hatte. Jedenfalls las ich es auf der Zugfahrt von Berlin nach Frankfurt. Nein, nicht ganz. Nicht einmal die Hälfte, nur die ersten vier Geschichten. So kurz sie nämlich sind, so lange gehen sie einem nach, die Geschichten der Claire Keegan. Sie sind altmodisch. Sie spielen auf dem Lande. Das Wetter ist wichtig, aber es symbolisiert nichts. In der Welt von Claire Keegan gibt es keine großen Worte, dafür gibt es immer ein paar Handgriffe zu tun. Es wird geerntet und gebuttert. Aber mitten aus den einfachen, klaren Wörtern einer sehr zurückhaltenden Erzählerin, entstehen im Leser große, sehr große, ihn überwältigende Gefühle. Claire Keegan analysiert keine Welt- nicht einmal Gemütslagen. Sie beschreibt Situationen. Und sie beschreibt, wie sie kippen und plötzlich ganz neu sind.

Dabei bleibt die Erzählerin ganz ruhig. Es gibt in ihren Sätzen keine Hektik. Sie dreht nie durch. Sie ist niemals virtuos. Niemals wenden wir uns von ihrer Geschichte ab und ihren Sätzen zu. Wir folgen Claire Keegan vom ersten, vom zweiten oder spätestens vom dritten Satz an. Wir hängen an ihren Lippen, aber wir wissen nicht, warum. Claire Keegan versetzt uns in einen Zustand gespannter Erregung, dem wir verfallen. Wir tun das um so leichter, als Claire Keegan mit jedem ihrer Atemzüge uns ihres Schutzes versichert. Die Erzählung, das zeigt uns Claire Keegan, ist die Form, in der dem Menschen die Wahrheit zumutbar ist. Man hat viel vom allwissenden Erzähler gesprochen, und man hat sich gerne über ihn lustig gemacht. Aber allwissend war er immer nur nebenbei. Er hatte das Glück alles zu wissen, was er brauchte. In erster Linie war der Erzähler allgütig. Jeder, jede und jedes hatte sein Plätzchen, und er mochte sie alle. Während er schrieb, achtete er darauf, dass es gut war. Auch gut geschrieben, vor allem aber gut gemacht. Man betone das gut. Zu etwas Gutem gemacht, heißt das. Die Erzählung war ein Akt der Erlösung. Die garstige Welt wurde in etwas Schönes verwandelt. Nicht indem man das Böse verschwieg, sondern indem man es zu einer Episode in einer schönen Geschichte machte.

Man wird die Ähnlichkeit dieser Art Kunst mit dem, was uns Religion ist, nicht übersehen. Man hat darin stets einen Einwand gegen die Kunst gesehen. Man sollte statt dessen vielleicht begreifen, dass die Religion nichts Apartes für sich ist, dass nur Kleriker und Theologen an dieser separatistischen Idee ein Interesse haben. In Claire Keegans Erzählungen gibt es nicht eine einzige theologische Zeile, aber ihre Geschichten lösen uns von der Wirklichkeit, in dem sie sie uns nahe bringen. Die Geschichte von der Frau, die über Jahre ein Verhältnis mit einem verheirateten Manne hat, das der schließlich löst, als seine Frau davon erfährt, ist voller Liebe erzählt, sie hat diesen wunderbar melancholisch-resignativen Ton, der sie weich macht und anschmiegsam, aber dann kommt eine verblüffende Wendung ins Harte und Reale, die aber nur dazu führt, dass wir am Ende vor so viel Glück bei der Lektüre fast vergehen.

Claire Keegan: "Wo das Wasser am tiefsten ist". Erzählungen. Aus dem Englischen von Inge Leipold und Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2005, 239 Seiten, 9 Euro. ISBN 3865211704. Bestellen.


Kein Sozialdemokrat

Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) war wahrscheinlich die wichtigste Figur des deutschen Nachkriegsfilms. Ganz sicher kam ihm an Produktivität niemand gleich. Seine Filme sind nur noch selten zu sehen. Die frühen, die ihn sehr schnell bei der damals filmisch sehr interessierten politischen und kulturellen Avantgarde berühmt machten, sieht man so gut wie nie. Wer aber "Liebe ist kälter als der Tod", "Katzelmacher" oder "Warum läuft Herr R. Amok?" gesehen hat und mehr über Fassbinder erfahren möchte, der renne in die nächste Buchhandlung und kaufe "Fassbinder über Fassbinder", eine Sammlung von Interviews mit Fassbinder. Sie entstanden zwischen 1969 und 1982.

Er muss anfangen mit dem ersten Interview. Es entstand 1973 und wurde völlig zu Recht dem Band vorangestellt. Corinna Brocher wollte damals einen Film über Fassbinder drehen und unterhielt sich dafür mehrere Tage mit ihm. Diese Gespräche nehmen hier mehr als 150 Seiten ein. Sie sind nicht nur die beste Einführung in Leben und Werk Fassbinders, sie sind einer der besten Texte über 1968. Die Ursprünge und der Verlauf der Revolte werden selten so klar, so erschreckend klar wie hier. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass kaum jemand sie so extrem gelebt hat wie Fassbinder. Wer damals gegen den Vietnamkrieg war und nur drei, vier Mal im Jahr gegen ihn demonstrierte, ansonsten aber Schule und Studium brav absolvierte, der war gefeit vor den selbstmörderischen Verrücktheiten, wie sie im Fassbinder-Clan gelebt wurden. Aber man versteht 1968 nicht, wenn man nicht begreift, dass es damals vor allem um diese Verrücktheiten ging. Man nannte das "Bewusstseinserweiterung". Darunter versteht man damals wie heute in erster Linie extensiven Drogenkonsum. Aber 1968 gehörte zur "Bewusstseinserweiterung" auch die Infragestellung aller überkommenen Ansichten. Je selbstverständlicher sie einem erschienen, desto heftiger wurden sie in Frage gestellt. Es war die Zeit, in der das Private öffentlich wurde und die Normalen für verrückt erklärt wurden.

Heute, da in langen Jahren heftigster Auseinandersetzung geklärt wurde, wie weit man mit den Gedanken gehen und wie kurz die Strecke ist, auf der man ihnen mit Taten folgen darf, ist einem das damals fast Selbstverständliche ganz fern gerückt. Die verzweifelten, selbstanalytischen Gespräche, die Hinterfragung einer jeden Handlung, sind wieder in die Intimität der Zweierbeziehung verschwunden. Damals waren sie ein paar Jahre lang wenn nicht öffentlich, so doch in den kleinen Öffentlichkeiten der sich politisch gerierenden Gruppen. Fassbinder erzählt zum Beispiel, wie er seine erste Theatergruppe bekam: Er schlief mit der Frau des Chefs. Der hieß übrigens Horst Söhnlein und war später bei den Kaufhausbrandstiftern in Frankfurt/Main dabei. Er sprang aber noch rechtzeitig ab, bevor die sich zur Roten Armee Fraktion entwickelten. Nicht anders - das wissen wir heute nach den Forschungen von Jane Goodall - geht es bei Schimpansengruppen zu. Vielleicht gibt es auch unter ihnen Männchen, die das mit ähnlich emanzipatorischen Floskeln garnieren, wie Fassbinder das tat. Das Großartige aber ist, dass je länger man das Interview liest, einem immer unklarer wird, ob Fassbinder seine Geschichten zur Verteidigung erzählt und ihm die Wahrheit - oder das, was wir dafür halten - nur so nebenbei entschlüpft, oder ob Fassbinder uns nicht doch die Wahrheit erzählen möchte, weil er besessen ist von ihr. So sehr besessen, dass er an ihr festhält, auch wenn sie gegen ihn spricht.

Er hat sich einfach mehr für die Wahrheit als für die Moral interessiert. Er zeigt sich als das Schwein, das er ist, nicht aus Demut, sondern weil er es interessant findet, dass jemand, der so begabt, so deutlich den anderen überlegen ist, nicht verzichtet auf die niedrigsten, verwerflichsten Mittel, um seine Begabung zu praktizieren und durchzusetzen. Wer heute glaubt, Fassbinder sei nur ein Meister der Darstellung des Psychoterrors gewesen - man denke nur an einen der großartigsten Filme der Filmgeschichte, an "Martha", für den Corinna Brocher übrigens das Script führte -, der wird hier eines Besseren belehrt. Fassbinder war Psychoterrorist. Wenn er filmte, dann filmte ein Täter. Ein Täter freilich, der seine Opfer sehr gut beobachtet hatte. Ein Folterer, der genau Bescheid wusste, wann es wo besonders weh tat. Gerade das macht Fassbinders einzigartige Stellung im Neuen Deutschen Film aus. Er war kein Sozialdemokrat.

Am 7. September 1967 stach Heine Schoof die Schauspielerin Marite Greiselis nieder. Beide waren sie Mitglieder des Münchner Action Theaters. Fassbinder erzählt diese Geschichte folgendermaßen: "Nein, nein, das war schon keine private Geschichte, es ist schon ganz konkret in dem Theater zu der Zeit möglich gewesen, in der Situation, in der sich das Theater befunden hat, zusammen mit der Aufführung. Die 'Antigone' war eine sehr aggressive Aufführung, dass einen das wirklich so direkt angesprungen hat und nicht auf so künstlerischen Wegen, Umwegen, sondern wirklich der einzelne Schauspieler dich direkt angesprochen hat. Um das herzustelllen, gehörte eine Portion Aggressivität dazu, und ich bin überzeugt - Ich meine, es war eine private Geschichte, verstehst du, es hätte ihm möglicherweise auch woanders passieren können, aber es war für uns ganz klar, es ist kein Zufall, dass das hier passiert ist. Mit diesem Vorgang hatten wir halt wirklich unsere erste Unschuld verloren. Die Marite war von da an krank, der Heine Schoof hat zehn Jahre Zuchthaus gekriegt. Das sind schon keine Kleinigkeiten. So eine querschnittsgelähmte Kollegin und so ein Junge, der zwar sehr eigenartig, sehr fremd, sehr verstiegen in seinen Gedanken war, war plötzlich im Zuchthaus, das hatte schon eine große Wirkung." Man wird gut daran tun, Fassbinders Gestammel nicht als Ausdruck der Betroffenheit zu lesen, sondern als Versuch, die Wahrheit gleichzeitig zu sagen und zu verschleiern. Auch darin war Fassbinder ein echter 68er.

Wer den noch jüngeren Fassbinder kennen möchte, der wird seine Gedichte und Prosatexte aus den Jahren 1962 und 1963 lesen, die in dem Band "Im Land des Apfelbaums" versammelt sind. Fassbinders Texten sind ergreifende Zeilen von Susan Sontag vorangestellt, in denen es heißt: "Der eindringliche Stil, die reine und nahezu einzigartige Sprache des jungen Fassbinder, der in seinen Gedichten und Kurzgeschichten nach einem eigenen Ausdruck ringt, haben mich tief beeindruckt. Ich bedaure es, nicht mehr Zeit zu haben, um meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Im Angesicht meiner eigenen Sterblichkeit werde ich, entgegen meiner Absicht, am Ende doch nicht in der Lage sein, der endgültigen Übersetzung beratend zur Seite zu stehen. Ich wünschte, ich könnte mich weiterhin an Fassbinders unglaublichem Talent als Dichter und Erzähler erfreuen. Meine Gedanken gehören den zukünftigen Lesern und Cineasten, die ich ermuntere, seine ersten literarischen Schätze zu lesen. Susan Sontag, New York, im Dezember 2004"

Am 28. Dezember starb Susan Sontag in New York. In dem Band mit Fassbinders Gedichten und Prosa gibt es hinten ein paar Fotos. Wer die Aufnahme seiner Eltern aus dem Jahre 1949 sieht, der hält seine Mutter für Hanna Schygulla. Ein Gedicht Fassbinders sei zitiert, schon damit der Leser nicht allein bleibt mit der Begeisterung der sterbenskranken Susan Sontag: "Heimkehr / Des Tötens überdrüssig / Kamen sie und wollten lieben / Sie waren gar nicht müßig / In ihren dunklen Trieben. / Sie lebten, tote Massen / Sie rasten und sie waren zart / Sie konnten lieben, konnten hassen / Und waren weich mal hart. / Es gibt verträumte Stunden / Die Erinnerung erwacht / Da brachen alle alten Wunden / Und Satan lacht, er lacht / Und es kam Frieden, / Es kam das Wunder überall / Wir können Freude bieten / Mit einem großen Widerhall."

"Fassbinder über Fassbinder". Hrsg. von Robert Fischer. Verlag der Autoren, Frankfurt/Main 2004. 673 Seiten, broschiert, 29,50 Euro. ISBN 3886612686. Bestellen.
Rainer Werner Fassbinder: "Im Land des Apfelbaums". Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren 1962/63. Hrsg. von Juliane Lorenz und Daniel Kletke. Schirmer/Graf, München 2005. 187 Seiten, farbige und s/w. Fotos, gebunden, 19,80 Euro. ISBN 3865550193. Bestellen.


Mit sechzehn war'n wir Held

Am ersten April 1958 veröffentlichte die Zeitschrift Die Kultur den Aufruf "Niemals Atomwaffen für Deutschland". Am 25. März hatte der Bundestag die Atombewaffnung der Bundeswehr beschlossen. Den Aufruf in Die Kultur hatten mehr als eintausend prominente Bürger unterzeichnet. Alfred Andersch und Ingeborg Bachmann, Peter Rühmkorf und Martin Walser. Wer weiter liest, stößt auch auf den Namen Horst Tappert. Ich hatte nicht erwartet, Deutschlands erfolgreichsten Schauspielerexport einmal in solchen Zusammenhängen zu sehen. Dieter Grossherrs kleines Buch über München zwischen 1949 und 1962, zwischen Gründung der BRD und Schwabinger Krawallen, bietet einige solcher Geschichtslektionen. Den eifrigen Leser versorgt es auch mit Tipps über Bücher und Autoren, die er womöglich zu gering achtete, und die es einmal wieder zu lesen gälte. Der Hinweis auf Siegfried Sommers 1953 erschienener Roman "Und keiner weint mir nach" ist einer davon.

Grossherrs Buch ist ein kleines Lob auf die Nachkriegszeit. Es widerspricht der Vorstellung der Nachgeborenen von den Adenauerjahren als einem finsteren, schwarzen Loch. Es zeigt, wie neugierig, wach und widerspruchslustig einige, viele damals waren. Die Legende, erst die 68er hätten den Muff unter den Talaren gelüftet, ist eine Selbststilisierung dieser Generation. Die historische Forschung, man betrachte die diesbezüglichen Arbeiten zum Beispiel von Wolfgang Kraushaar und die Erinnerungen der schon nach dem Krieg Aktiven, widersprechen diesem Märchen.

Dieter Grossherr, geboren 1929 in Zittau, studierte 1953 bis 1957 Geschichte und Zeitungswissenschaft in München, gründete 1954 die bayerische Studentenzeitung Profil, von 1958 bis 1960 war er Redakteur bei Die Kultur, von 1963 bis 1993 arbeitete er als Redakteur und Auslandskorrespondent beim Zweiten Deutschen Fernsehen. Er hat seinen kurzen Texten Fotos und Karikaturen sowie kleine Texte aus den Zeitungen jener Jahre beigefügt. Ein unscheinbarer Band, in dem man aber hängen bleibt. Nicht nur, weil man sich die Augen reibt, wenn man liest, dass der Hamburger Bundestagsabgeordnete Helmut Schmidt den Beschluss zur Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen so kommentierte: "Er wird in der Geschichte einmal als genauso verhängnisvoll angesehen werden wie es das Ermächtigungsgesetz Hitlers war."

Man liest auch das Gedicht "Die gebrannten Kinder" von Dieter Hildebrandt, erschienen in der Ausgabe November 1955 von Profil. Bei den ersten Zeilen schämt man sich, weil man immer wieder dazu neigt zu vergessen, welches Glück man hatte, nach 1945 geboren zu sein: "Fünfundvierzig war'n wir achtzehn, / achtzehn Jahre auf der Welt. / Älter waren wir als achtzehn, / denn mit sechzehn war'n wir Held."

Dieter Grossherr: "Aufbruchzeit". München 1949-1962. Mitarbeit Dr. Hans Prescher. Mit zahlreichen s/w Abbildungen. pro Literatur Verlag, Mammendorf 2005. 202 Seiten, broschiert, 14,80 Euro. ISBN 3937034692. Bestellen.


Jenseits von Gut und Böse

"Himmelstheorie" heißt der Text, in dem ein Schüler dem Meister die ewige Frage stellt: "Warum lässt 'der Himmel' zu, dass all das Elend auf Erden geschieht?" Die erste Antwort lautet: Was uns als Elend erscheint, ist in Wahrheit keines, denn das wahre Elend der Welt ist der Mensch selbst. Was ihm Böses widerfährt, tut dem Universum gut. "Wenn Obst und Gemüse, Getränke und Speisen verderben, wachsen Würmer darin; wenn Blut und Atem des Menschen ins Stocken geraten, bilden sich Furunkel und Geschwüre, Warzen und Geschwulste, Fisteln und Hämorrhoiden, und Würmer wachsen darin. Wenn Dinge schlecht werden, wachsen Würmer darin. Als die Urkraft und das Yin und Yang schlecht wurden, entstand der Mensch darin. Gierig und rücksichtslos treibt der Mensch ohne Unterlass sein zerstörerisches Werk voran und stiftet Verderbnis und Aufruhr. Ich bin der Meinung, wer es vermag, diese Menschen zu schädigen und ihren Einfluss von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr zu schmälern, so dass der Schaden an der Urkraft und an Yin und Yang abnimmt, der ist für Himmel und Erden von Nutzen, wer sie sich ungestört vermehren lässt, ist der Feind von Himmel und Erde."

Dieser zivilisationskritische Text stammt von dem chinesischen Dichterphilosophen Liu Zongyuan, einem Zeitgenossen Karls des Großen. Er schrieb ihn fern vom Kaiserhof, von dem er nach übereifrigen Reformversuchen verbannt worden war. Gar zu schrecklich muss man sich die Verbannung für Liu Zongyuan (773-819) nicht vorstellen. Er lernte so die Schönheiten der Natur kennen und beschreiben. Er hat der chinesischen Literatur neue Themen, neue Genres erschlossen. In Europa hat es ihm darin 500 Jahre später Petrarca nachgetan. Allerdings sind Zongyuans Landschaftsschilderungen deutlich eindrücklicher, genauer als die Petrarcas. Die kleine Broschüre, in der jetzt einige der Texte von Liu Zongyuan in der imponierenden Übersetzung von Raffael Keller - die Gedichte hat er in Zusammenarbeit mit Jürgen Theobaldy übersetzt - vorgelegt werden, weckt einen Riesenappetit auf mehr von diesem Autor.

Man wüsste auch gerne mehr über seine Lebensverhältnisse und über die Literatur seiner Zeit. Ein Text endet zum Beispiel mit der Bemerkung: "So machte ich das 'Gedicht von den Acht Törichten' und hielt es auf einem Felsen am Bach fest." War es gängige Praxis, dass dichtende Gelehrte, gelehrte Dichter ihre Texte in Felsen meißeln ließen? Haben solche Inschriften sich erhalten? Wie sehen sie aus? Gibt es einen schönen Bildband mit diesen in die Natur eingelassenen Schriften? Was und wen meinten die Texte? In dem zitierten Fall die Nachwelt, also auch uns. Aber es gibt einen sehr schönen Text Liu Zongyuans - ich sollte immer wieder diesen Namen schreiben, um ihn mir einzuprägen - über den "Kleinen Hügel westlich des Plätteisenteiches", ein Preislied auf das Naturschöne, der endet mit dem Satz: "Ich schrieb dies auf einen Stein, um dem Hügel damit zu seinem Glück zu gratulieren."

Da geht es nicht mehr um die Nachwelt. Die Schrift kommuniziert nicht mit anderen über das, wovon und worüber sie schreibt, sondern mit dem Beschriebenen selbst. Sie wird so zum Teil eines Selbstgesprächs der Natur, eine Stufe in deren Selbstauslegung. Im christlichen Europa gab es Vergleichbares. Aber ein Blick darauf, und uns wird der "himmelweite" Unterschied klar. Des Menschen Gottesebenbildlichkeit war die Figur, in der die Reflexion über die Schöpfung als Teil der Schöpfung selbst gedacht wurde. Gedanken und Taten des Menschen, ja er selbst konnten interpretiert werden und wurden in einer die Orthodoxie stets begleitenden und stets konterkarierenden Lesart interpretiert als Entfaltungen der Gottheit selber.

Die in die Natur versenkte Schrift, von der Liu Zongyuan spricht, erinnert natürlich auch an die chinesischen Gemälde, in denen Schrift und Bild gleich große Rollen spielten. Die Blätter, auf denen Berge und Täler, riesige Panoramen oder nichts als ein Bambus, ein Vogel zu sehen ist und dazu ein Gedicht oder auch nur ein paar Worte, die manchmal zu beschreiben scheinen, was wir sehen und ein andermal wieder scheinbar nichts zu tun haben mit dem Abgebildeten. Die Vorstellung, dass solche Bilder nicht nur in den Zimmern der Gelehrten und Liebhaber hingen, sondern gemacht wurden aus der Natur selbst und der Gärtner-, der Steinmetz- und der Dichtarbeit des Menschen, hat etwas Atemraubendes. Landart. Schade, dass ich nicht mehr über diesen chinesischen Abschnitt ihrer Geschichte weiß.

Liu Zongyuans "Himmelstheorie" ist übrigens noch nicht zu Ende. Der ersten die Menschheit als schädlichen Schmarotzer einschätzenden Antwort folgt eine "jenseits von gut und böse": Meister Liu antwortete: "Was dort oben ist und undurchdringlich, wird Himmel genannt; was unten ist und gelb, wird Erde genannt; was sich trüb in der Mitte befindet, wird Urkraft genannt; was kalt oder heiß ist, wird Yin und Yang genannt. Obzwar diese groß sind, sind sie nicht verschieden von Früchten, Furunkeln, Bäumen oder Gräsern. Wenn es nun jemandem gelänge, diejenigen, die jene angreifen und aushöhlen, zu beseitigen, könnte er dann von diesen Dingen Belohnung erwarten? Und wer jene sich ungestört vermehren lässt, muss er mit ihrem Zorn rechnen? Die Welt ist eine große Frucht, die Urkraft ist ein großes Geschwür, Yin und Yang sind große Gewächse, wie könnten sie fähig sein, Nutzbringendes zu belohnen und Schädliches zu bestrafen? Wenn der Meister nun an die eigene Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit glaubt und darin wandelt, von der Geburt bis zum Tod, wie kann er da Existenz und Vergehen, Gewinn und Verlust der Macht von Früchten, Furunkeln oder Pflanzen übertragen?"

Liu Zongyuan: "Am Törichten Bach". Prosa und Gedichte. Aus dem Chinesischen von Raffael Keller, bei den Gedichten zusammen mit Jürgen Theobaldy. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 31 Seiten, broschiert, 9,50 Euro. ISBN 3932109457. Bestellen.


Warum schreibst du nicht deinen eigenen Roman?

Auf nichts ist Verlass. Ein Buch, das 18 Wochen auf der Bestseller-Liste der New York Times steht, dürfte mir - sagt mir meine Arroganz - nicht gefallen. Aber ich bin begeistert von Azar Nafisis "Lolita lesen in Teheran". Es stand auf der Sachbuch-Liste, ich lese es aber als einen der schönsten Romane der letzten Jahre. Vielleicht ist ja auf alles Verlass, nur nicht auf mich.

"Lolita lesen in Teheran" (Auszug auf englisch) handelt von der Rolle der Literatur in einer Diktatur. Es erzählt auch die Lebensgeschichte der Autorin, die im Iran geboren wurde, aber von der Pubertät bis zum Abschluss des Studiums im Westen, vor allem in den USA lebte, 1979 einen Ruf als Professorin für englische Literatur an die Universität in Teheran bekam, in die islamische Revolution geriet und erst 1997 Iran wieder verlassen konnte. Heute schreibt sie für The New York Times, Washington Post, Wall Street Journal, New Republic und unterrichtet an der Johns Hopkins University in Washington. Das Buch erzählt auch die Lebensgeschichten einiger ihrer Studentinnen und Studenten, vor allem aber die des Iran in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren.

Azar Nafisi hat einen Plot, der all diese Geschichten vereint und in ein sehr persönliches Licht setzt. Sie schildert die Stunden, die sie, nachdem man sie aus der Universität entlassen hatte, in ihrer Wohnung mit einer Reihe ihrer ehemaligen Studentinnen bei der gemeinsamen Lektüre der Bücher von Vladimir Nabokov, F. Scott Fitzgerald, Henry James und Jane Austen verbrachte. Mithilfe dieser Konstruktion gelingt es Azar Nafisi, aus einem Sachbuch einen Roman zu machen. Die auftretenden Personen werden so plastisch, dass wir sie uns real denken. Sie sind keine Beispiele für Ansichten, Meinungen. Sie stehen nicht für etwas, sondern sie sind sie selbst. Das leistet Literatur. So echt kann nur Fiktion sein. "Lolita lesen in Teheran" ist auch ein Roman über die Vergeblichkeit.

Azar Nafisi erzählt viel aus den Anfängen des Khomeini-Regimes. Sie erinnert uns daran, dass der Islamismus kein Relikt aus uralten Zeiten ist, sondern ein Stück Moderne. Sie erzählt von ihrer Großmutter, die immer verschleiert ging, weil es ihrem Glauben entsprach, die aber sicher nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass jede Frau - auch gegen ihre religiösen Überzeugungen - staatlicherseits zum Tragen des Schleiers gezwungen würde. Nafisi erzählt von den Kämpfen gegen den Islamismus, von der Komplizenschaft der Linken bei der Stärkung des Regimes der Mullahs. Die schiitische Geistlichkeit hätte keine Chance gehabt, dem Iran ihre Politik aufzuzwingen, hätte die Linke sie nicht als Bundesgenossen im "Kampf gegen den US-Imperialismus" angesehen. Nafisi erinnert daran, dass es dabei nicht um parlamentarische Bündnisse, um Mehrheiten für dieses oder jenes Gesetz ging, sondern um Unterstützung bei der Ausübung terroristischer Gewalt gegen eine widerstrebende Bevölkerung.

Die Linke war weit davon entfernt, die bürgerlichen Freiheiten gegen das Mullah-Regime zu verteidigen. Sie half dabei, es so stark zu machen, dass es dann auch gegen die Linke vorgehen konnte. Nafisi schreibt nicht darüber, sondern sie erzählt Geschichten aus dem Iran der frühen achtziger Jahre, die uns diesen Gang der Ereignisse klar machen. "Lolita lesen in Teheran" ist - selbst wenn jedes Wort exakt so gesprochen worden wäre, wie Azar Nafisi es schreibt - ein hinreißender, spannungsgeladener Roman. Es geht in ihm wesentlich auch um das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit. Das Buch ist so auch ein Buch über sich selbst. Es ist das auf höchstem, dabei aber jedem Leser lustvoll erreichbarem Niveau.

Im Zentrum des Buches steht "der Prozess der Islamischen Republik Iran gegen den großen Gatsby". Es ist eine Veranstaltung im Seminar der Autorin. Ein Student hatte der Dozentin erklärt, "Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald sei ein unsittliches, Ehebruch und Geldgier propagierendes Buch, das verboten gehöre. Azar Nafisi schlug ihm daraufhin ein Seminar in der Form einer Gerichtsverhandlung vor, bei der der Angeklagte nicht der Autor, sondern das Buch selbst sein sollte. Die zwanzig Seiten, auf denen dieser Prozess dargestellt wird, gehören zum Klügsten, was in den letzten Jahren über die gesellschaftliche Rolle der Literatur geschrieben wurde. Selten ist das grundsätzliche Missverständnis, das darin liegt, Literatur als eine Art Gebrauchsanweisung fürs Leben zu lesen, klarer verstanden und kritisiert worden.

Nafisis Kritik ist darum so stark, weil sie nicht behauptet, Literatur habe mit dem Leben nichts zu tun. Sie weiß zu genau, welche Wirkung Literatur entfalten kann. Sie hatte es lange, bevor die Mullahs ihr das klarzumachen begannen, schon an sich selbst erlebt. Sie hatte lange von einer die Massen ergreifenden Literatur geträumt, bis sie dahinter kam, dass Literatur so viele Menschen sie auch ansprechen mag, immer den Einzelnen anspricht. Es entsteht eine Komplizenschaft zwischen Leser und Buch, die wenig zu tun hat mit den politischen Intentionen des Autors.

Das Buch öffnet den Horizont des Lesers. Es zeigt ihm, was ist, durch das, was sein könnte. Das Buch ist ein Kontrastmittel. "'Man liest Gatsby nicht', begann ich, 'um zu erfahren, ob Ehebruch gut oder schlecht ist, sondern um zu verstehen, wie kompliziert Dinge wie Ehebruch, Treue und Ehe sind. Ein großer Roman schärft die Sinne und das Einfühlungsvermögen in die Komplexität des Lebens und der Menschen und befreit uns von unserer Selbstgerechtigkeit, durch die wir Moral in ein festes Schema von Gut und Böse pressen...' 'Aber', unterbrach Nyazi verdrossen, 'was ist kompliziert daran, wenn man eine Affäre mit der Frau eines anderen hat? Warum sucht sich Mr. Gatsby nicht eine eigene Ehefrau?' 'Und warum schreibst du nicht deinen eigenen Roman?' ertönte es gedämpft aus den mittleren Reihen." Diese an den islamistischen Studenten gerichtete Aufforderung nahm Azar Nefisi an und schrieb ihren eigenen Roman. Zu unserem Glück.

Azar Nafisi: "Lolita lesen in Teheran". Aus dem Amerikanischen von Maja Ueberle-Pfaff. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 424 Seiten, gebunden, 17,90 Euro. ISBN 3421058512. Bestellen.


Dormi in osa rheu

Eine vergleichbare Anthologie kenne ich nicht. Der Lyriker Manfred Enzensperger ist der Herausgeber. Er arbeitet in der Gymnasiallehrerausbildung in Leverkusen. In diesem Buch stellen 36 deutschsprachige Autoren ein Gedicht, das Material, aus dem es entstand, und einen Kommentar zu beidem dem Publikum zur Verfügung. Bei Joachim Sartorius stehen am Anfang drei Fotos aus Samarkand. Auf einem sind Lilia Brik und Majakowski zu sehen, dann folgt das Gedicht, das die Dichter bedichtet, und danach erzählt Sartorius, wie er auf die Fotografie stieß und gleich im Zug mit dem Foto daneben sein Gedicht begann: "Was mir nie zuvor und auch seither nicht mehr passierte."

Nicht alle Autoren halten sich genau an Enzenspergers Vorgaben. Oswald Egger zum Beispiel hat sich ganz auf den Kommentar beschränkt. Ilma Rakusa nahm ein schwarzes Dessous, warf es, legte es immer wieder neu auf ein Bett und fotografierte das Ergebnis. Das bedichtete sie dann, und in einem kleinen Kommentar schilderte sie ihre Arbeit: "Ich zupfte am Stoff, bis er eine andere Form annahm. Schoss ein Bild. Etwas Neues sah mich an, auf frischer Tat ertappt. Es gab kein Halten mehr. Ich zupfte und knipste. Ich verschob und knipste. Ich brachte das Ding in alle möglichen Lagen, und so schnell, als hätte es sich selber bewegt. Beleben wollte ich es, im Kranz der Lakenfalten. Ich knipste von Form zu Form. Im Akt des Fotografierens steckte jene erotische Energie, nach der Dessous und Bett längst inständig riefen."

Dann ist von Vögeln und vom Vögeln die Rede. Kein Wunder, denn das kleine schwarzseidene Unterhemd liegt mit seinen Trägern da wie vom Himmel gefallen. Vor allem aber muss von dem Getier die Rede sein, weil Enzensperger "Ornithologisches" gefordert hatte. Darum haben die Vögel auch bei Sartorius zwei kurze Auftritte. Zu anderen Terminen waren "Hinterland" und "Intonationen" gefragt. Die Sammlung geht zurück auf drei Tagungen im schönen Schloss Elmau, das allein dafür schon einen Literaturpreis verdient hätte. Kathrin Schmidt bedichtet Orangensaft in Tetra Pak. Ihr Kommentar sagt noch einmal, was im Gedicht steht. Das hört sich an wie ein Einwand. In Wahrheit klingt es mehr, als wären es zwei Variationen über ein Thema. Die Prosa ist nicht die schlechtere, sondern nur anders. Ich hätte gerne die drei Seiten aufgestellt wie einen Flügelaltar. In der Mitte Tetra Pak und rechts und links die Texte. Wäre ich weniger schüchtern, ich fragte Kathrin Schmidt, was sie verlangte für dieses kleine Environment. So aber werde ich versuchen, den Kopierer die Arbeit machen zu lassen und dann könnte ich das Ganze aufhängen in meinem kleinen Büro, als Erinnerung daran, was möglich ist, wenn man es kann.

Oskar Pastior beschreibt wie ein Handwerker, wie er aus Charles Baudelaires "Harmonie du soir" aus den "Blumen des Bösen" einen Pastior machte. Eine Bastelanleitung vom Weltmeister für einen Lehrgang in der Kunst der Anagrammatik. Die Schönheit von "harmonie du soir" wird in meinen Ohren deutlich getoppt von "dormi in osa rheu". Das ist der Gutenachtkuss der Fee Morgane. Die Besessenheit Pastiors zieht aus den Wörtern, was in ihnen steckt, und immer wieder erwischt er uns dabei, wie wir uns begeistern an dem, was nicht ist, aber doch mitschwingt, an einem "dinosaurier ohm" oder dem wunderbaren "homeridian suor". Der von Bedeutung befreite Text, der ja keiner mehr ist, obwohl er doch nie - so gierig sind wir auf Sinn - aufhören kann einer zu sein, kalauert und lacht über uns und unsere Sehnsucht nach Schönheit. An keiner Stelle lässt Pastior die Wörter zerfallen in Buchstaben. Unsere Gier nach Sinn ist die seine. Aber keiner versteht sie - auch und gerade im Sinnlosen - so zu befriedigen wie er.

"Die Hölderlin Ameisen". Vom Finden und Erfinden der Poesie. Herausgegeben von Manfred Enzensperger. Mit zahlreichen s/w und farbige Abbildungen. DuMont, Köln 2005. 256 Seiten, gebunden, 19,90 Euro. ISBN 3832179216. Bestellen.