Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
02.02.2005. Das wichtigste Buch zum Thema "Islam", Goethe in Italien, russische Einwanderer in Deutschland und eine Frau, die weiß, wie man einem Krokodil das Maul stopft - Arno Widmann hat Bücher von Ibn Warraq, Norbert Miller, Lena Gorelik und Richard Bausch vom Nachttisch geräumt.
Eine wütende Aufforderung zum Lesen

Es ist das wichtigste Buch zum Thema "Islam". Jeder sollte es gelesen haben. Es ist 1995 auf Englisch erschienen und liegt seit 2004 auch auf Deutsch vor: "Warum ich kein Muslim bin" von Ibn Warraq. Der Autor wurde 1946 in Indien geboren,wuchs in Pakistan auf und lebt heute oder lebte doch, als er dieses Buch schrieb, in London. Wer mehr über ihn wissen will, muss sich anstrengen, denn mehr scheint der Autor nicht über sich verraten zu wollen. Er ist, wie der Titel seines Buches verrät, kein Muslim, er glaubt an keinen Gott. Er hält Religion für einen gefährlichen und nun gar monotheistische Religionen für einen mörderischen Mumpitz. Er ist kein Gelehrter und kein Buchautor. 2003 ist von ihm bei "Prometheus Books" eine Anthologie erschienen, in der Muslime erzählen, wie sie vom Glauben abkamen: "Leaving Islam". Es ist nur auf Englisch zu haben. Ein Interview mit Ibn Warraq findet der interessierte Leser in der Islam Review, seinen Kommentar zum Anschlag auf das World Trade Center beim Institute for the Secularisation of Islamic Society.

"Warum ich kein Muslim bin" ist ein Pamphlet, ein Frontalangriff auf die zentralen Glaubensgüter des Islam. Und eine Begründung, warum das nötig ist. Ibn Warraq wird nicht müde, die liberalen Reformer und Interpreten des Islam davor zu warnen, sich und den anderen ein falsches Bild von der Realität des Islam zu vermitteln. Wer sich auf das Feld der Heiligen Texte begebe und versuche, aus diesen einen humanen Islam herauszudestillieren, der werde scheitern, für jeden fortschrittlichen Beleg werde die Gegenseite mindestens sechs Gegenstellen vorlegen können, die das Ermorden der Ungläubigen und Abtrünnigen als höchste Form des Gottesdienstes feiern. Man kann keine humane Gesellschaft auf den Islam gründen, sowenig wie man sie hat aufs Christentum gründen können. Erforderlich ist ein radikaler Bruch. Religion und Staat müssen radikal getrennt werden. Freie Religionsausübung, also auch der Verzicht auf Religion, muss vom Staat garantiertes Grundrecht sein. Jeder Versuch, die eigenen religiösen Überzeugungen seiner Umwelt aufzuzwingen, muss unter Strafe gestellt werden.

Man ist geneigt, dazu freundlich zu nicken und weiterzugehen zum nächsten Tagesordnungspunkt. So selbstverständlich erscheint einem das. Aber Ibn Warraq erinnert seine Leser daran, wie wenig selbstverständlich das ist. Amerikas wichtigster Partner im Nahen Osten, Saudi-Arabien, vertritt nicht nur eine besonders rabiate Form des Islam, sondern Abweichungen von der herrschenden Lehre stehen dort unter Strafe. Es gibt kein muslimisches Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht. Das liegt nicht nur an den despotischen Regimen dort, sondern es hat mit dem Kern der muslimischen Lehre zu tun. Die Vorstellung, dass Menschen, allein auf ihren Verstand gestützt, sich über ihre unterschiedlichen Ansichten auseinandersetzen und durch die Abwägung von Argumenten herausbekommen, was wahr ist, ist der islamischen Tradition keineswegs fremd. Sie ist ihr nur allzu vertraut, und sie hat sie, wo immer sie mit ihr konfrontiert wurde, früher oder später energisch bekämpft. Menschen wissen nicht, was wahr ist. Sie können es nicht wissen. Darum ist es ihnen - ein für alle Mal - offenbart worden durch Muhammad, den Propheten.

Aber selbst im Westen sind diese Selbstverständlichkeiten alles andere als selbstverständlich. Es gibt jede Menge westliche Islamwissenschaftler, die nichts Schlimmes an den despotischen Regimen finden, die sich nicht genieren, über die Ungeheuerlichkeiten, die im Koran stehen, hinwegzusehen oder sie gar zur Glaubenssache und darum für sakrosankt erklären. Warum soll für Menschen, die vor ein paar Jahrhunderten vom Islam erobert wurden, die Meinungsfreiheit ein weniger erstrebenswertes Gut sein als für uns, die wir die Herrschaft des Christentums abwerfen mussten, um ihren Wert zu begreifen? Wenn nun gar Islamexperten ihre eigene Religiosität auf ihren Forschungsgegenstand projizieren und uns glauben machen wollen, dass die innere Freiheit einer tiefen Gläubigkeit vor allem unter dem Schutz Zia ul-Haqs, des großen pakistanischen Schlächters der Freiheit gedeihen kann, dann werden sie von der aufgeklärten bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nicht etwa belächelt, sondern sie bekommen wie 1995 Frau Schimmel - gefördert vom damaligen Bundespräsidenten und dem wichtigsten Feuilleton Deutschlands - den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht. Dafür, dass sie klargemacht hat, dass die Freiheit der Meinungsäußerung beim Glauben ihre Grenze hat. Das ist exakt der Schritt, den Frau Schimmel hinter die Aufklärung zurück machen wollte. Das war ihr gutes Recht. Aber dass sie diesen Preis bekam, zeigt nur, wie wichtig Ibn Warraqs Buch ist, und wie gar nicht selbstverständlich, da nicht einmal einem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vertraut, seine Einsichten. (Das schreibt nicht Ibn Warraq, das ist mein kleiner Wutanfall.)

Menschen, so die Lehre des Koran, können die Wahrheit nicht erkennen. Sie können sie nachlesen im Koran und in den "hadith", den Aussprüchen Muhammads, wie sie in den großen Sammlungen zusammengetragen wurden. Ibn Warraq zeigt uns diese Quellen. Er zeigt, dass der Koran unmöglich im Himmel geschrieben worden sein kann und ganz gewiss nicht von Gabriel Muhammad diktiert wurde. Nein, das zeigt Ibn Warraq nicht. Davon geht er aus. Denn er zeigt, aus wie vielen einander widersprechenden Vorstellungen die im Koran überlieferten Anschauungen sich speisen. Es wird völlig klar, dass dieses Buch ebenso zusammengestopft wurde wie die Mose zugeschriebenen Bücher des Alten Testaments. Der Koran ist ein Sammelsurium und kein Buch. Das ist für jeden, der den Koran mit offenen Augen gelesen hat, nichts Neues. Aber es ist ein Sakrileg, es zu sagen. Offenbar auch für die Mehrheit der westlichen Islamwissenschaftler, die all die feinen Verfahren der Textkritik, wie sie seit dem 17. Jahrhundert für die christlichen Texte in Europa entwickelt wurden, vergessen hat und, statt den Koran zu analysieren, uns in den meisten Fällen mit Nacherzählungen abspeist.

Ibn Warraq macht auch klar, dass die Aussprüche des Propheten, die "Hadith" in vielen Fällen ganz sicher spätere Fälschungen sind und dass nichts die Vermutung nahelegt, auch nur ein einziger davon könnte wirklich einmal von Muhammad gesagt worden sein. Wer weiß, wie heute selbst die frömmsten Theologen von den Sprüchen Salomons denken, für den ist der Ernst, mit dem viele Islamwissenschaftler die angeblichen Sprüche des Propheten betrachten, lächerlich.

Ibn Warraq spricht vom Verrat der Intellektuellen, die nur gar zu bereit sind, die Instrumente kritischer Reflexion wegzuwerfen, um in einem Milieu, auf dessen Mitwirkung sie glauben angewiesen zu sein, nicht anzuecken. Ibn Warraq warnt die Öffentlichkeit vor diesen Vermittlern. Wir bedürfen dieser Warnung.

Man sollte Ibn Warraqs Buch vielleicht nicht in einem Schwung lesen. Man sollte an einem Tag den Abschnitt über die Rolle der Frau in der islamischen Überlieferung, an einem anderen den über die Behandlung der Ungläubigen, ein ander Mal den über die Häretiker in der islamischen Geschichte lesen. Ibn Warraqs Eifer ist sonst schwer zu ertragen. Wer die fünfhundert Seiten am Stück liest, wird das dauernde Gemecker leicht leid. Er denkt sich: bald 1500 Jahre und nichts als Verbrechen? Nie etwas Gutes? Nichts, was uns bereichert?

Aber nicht darum geht es. Es geht darum, dass die Grundtexte der islamischen Tradition aus dem Mittelalter kommen, dass sie keine Hilfe sind für den Aufbau einer modernen Gesellschaft, die auf der wechselseitigen Achtung ihrer Mitglieder beruht, und die erkannt hat, dass sie die eigenen Entscheidungen auf keinen allwissenden Gott abschieben kann. Der Islam ist eine Religion, seine Logik ist die des in die Knie zwingens. Davor ist Ibn Warraq aus Pakistan geflohen. Davor fliehen täglich Tausende, Hunderttausende.

Ibn Warraq: "Warum ich kein Muslim bin". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Abu Al-Adjnabi. Matthes & Seitz, Berlin 2004. ISBN 388221838X. 522 Seiten, 28,90 Euro.


Das Erlebnis und die Dichtung

Vom 3. September 1786 bis Ende Mai 1788 war Goethe in Italien. Im Jahre 2002 erschien Norbert Millers Buch über Goethes Italienreise. Das ist für eine Rezension viel zu lange her, aber für jeden, der das Buch noch nicht gelesen hat, kommt dieser Hinweis gerade noch rechtzeitig. Mehr als siebenhundert Seiten und keine davon langweilig. Miller beginnt mit einem Bild, das der aus Berlin stammende, in Rom ansässige Landschaftsmaler Franz Ludwig Catel (1778-1856) ein Jahr vor Goethes Tod malte. Miller erkennt in ihm den Vorläufer Böcklins und Marees. Dann folgt er einer frühen Erkenntnis von Peter-Klaus Schuster, der das Gemälde als eine Illustration zu Goethes Gedicht "Der Wanderer" aus dem Jahre 1772 identifizierte. Goethe, der sein Gedicht in den Wochen schrieb, die er zwischen Frankfurt und dem Kreis der Empfindsamen in Darmstadt verbrachte, die ihn "den Wanderer" nannten, hatte sein Gedicht in einer süditalienischen Landschaft situiert. Ein Menschenalter später hatte Catel den Wanderer aus der Tagtraum-Landschaft in eine heute noch identifizierbare Ansicht des Golfs von Pozzuoli gerückt. Der Realismus seines Bildes wird durch das Zitat des Goethegedichts betont und transzendiert zugleich. Diese Verschränkung von dichterischer Beschwörung und künstlerischer Anschauung nimmt das Grundthema von Goethes Italienreise wie seines ganzen Werkes vorweg.

Norbert Millers Anfangskapitel ist ein traumhaft geglücktes Vorspiel. Wer das Buch liest, weiß, wie genau Goethe und womit genau er sich auf seine Reise vorbereitet hat. Er bekommt eine Ahnung von der imponierenden Arbeitsfähigkeit des siebenunddreißigjährigen Flüchtlings. Er erfährt, was jemand, der sich für alles interessiert, zu leisten in der Lage ist. Das ist einschüchternd genug. Schon Millers Gelehrsamkeit - von der Goethes gar nicht zu sprechen - ist es. Die Qualität des Millerschen Buches liegt aber nicht in der Ausbreitung der Quellen, sondern darin, wie Miller sie fruchtbar zu machen versteht für Goethes Produktion, ja mehr noch für die spezifische Art Goethescher Produktivität. Goethe häufte - als gälte es sein Leben lang dem väterlichen Polyhistor-Ideal nachzustreben - Wissen an, wie nur wenige andere Menschen es getan haben, aber er tat es in dem Verlangen, dass dieses Wissen eingehe in etwas von ihm zu Schaffendes. Goethes Wohnung mag lange ausgesehen haben wie eine Wunderkammer, mag mit Mitbringseln und Fundstücken, mit Instrumenten vollgestopft gewesen sein, aber all das waren Partituren, die er durch sein Spiel einst lebendig gemacht hatte oder einst lebendig zu machen beabsichtigte. Miller macht klar, wie angewiesen Goethe auf diesen Stoff und auch auf die Fülle dieses Stoffes war, aber Miller zeigt auch bis in die kleinsten Verästelungen hinein, wie sehr Goethe dieser Stoffmassen bedurfte, um sich desto gewaltiger von ihnen befreien zu können.

Man lese Millers kluge Seiten über Goethes "Römische Elegien" und man erkennt, wie wichtig Goethe die Imitation war und wie wichtig ihm war, auch von ihr lassen zu können. Norbert Millers Buch rehabilitiert ein lange verpöntes Erbe der Goethe-Philologie. "Das Erlebnis und die Dichtung" heißt es. Kaum ein Doktorand, der sich in den vergangenen sechzig Jahren nicht davon distanziert hätte. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass alle Literaturtheorie nach dem Zweiten Weltkrieg sich dem Impuls verdankt, das "Erlebnis" aus der Dichtung zu tilgen. Literaturtheorie ist der Versuch, Dichtung ohne Dichter zu verstehen. Was einmal als eine Reaktion auf eine Lesart entstanden war, bei der die Frage nach der literarischen Verarbeitung völlig hinter "dem Leben" zurücktrat, ist inzwischen selbst zur Modetorheit verkommen. Heute verdummt man halt gerne auf hohem theoretischen Niveau.

Wer Goethes Italienreise nachgeht, ist davor gefeit. Es geht, ob man das mag oder nicht, hier um nichts anderes als um das Erlebnis und die Dichtung. Schon die Italienreise selbst war von Goethe in Angriff genommen worden als ein Versuch, die dichterischen Kräfte wieder anzuregen, sie wieder in Bewegung zu setzen. Goethe spürte deren Erstarrung, und er floh aus seinen Weimarer Verpflichtungen, weil er befürchtete, sich anders nicht befreien zu können. Goethe suchte in Italien das Erlebnis. In Weimar gab es fast nur noch Aktenvorgänge. Dass er sich auf dieses Erlebnis vorbereitet wie auf eine Prüfung, dass er sich Akten mitnimmt, um diesem Erlebnis gewachsen zu sein, zeigt, dass Wissen und Erlebnis nicht Antipoden, sondern vielfach mit einander vermittelt sind. Es zeigt auch, dass sie einander bedürfen. Dem geht Miller immer wieder nach. Das ist nicht nur für Goethe-Philologen interessant.

Es zeigt uns, dass Wissen und Können in einem ganz anderen Verhältnis zu einander stehen als unsere verschulte Gesellschaft es uns glauben machen möchte. Es ist nicht so, dass am Anfang die Akkumulation von Wissen steht, die dann das Können generiert. Sondern deutlich gieriger noch als das Nicht-Können verlangt das Können nach immer neuem Wissen. "Das Erlebnis und die Dichtung" ist keine Dilthey'sche Erfindung - die gleichnamige Aufsatzsammlung erschien erstmals 1905 - sondern sie ist Goethes eigene Erfahrung, die ihn alle seine Werke als "Bruchstücke einer großen Konfession" sehen ließ.

Miller sieht keinen Grund hier Goethe zu misstrauen. Er zeichnet Goethes Selbsteinschätzung nach. Eine der eindrücklichsten Stellen ist die Schilderung von Goethes Begegnung mit der "schönen Mailänderin". Er hatte sie, aus Sizilien nach Rom zurückgekehrt, in der ländlichen Idylle auf Castel Gandolfo kennen gelernt. Er war zu Freunden gefahren, um dort in Ruhe zu zeichnen und zu malen. Die junge Frau war auch zu Besuch dort, und Goethe ließ Zeichnen und Malen sein und wandte sich ihr zu. Bis er aus einem zufällig erlauschten Gespräch erfuhr, dass sie verlobt war. Goethe zog sich erschrocken wieder in seine Arbeit zurück: "Ich wandte mich abermals rasch zu der inzwischen vernachlässigten landschaftlichen Natur und suchte sie so treu als möglich nachzubilden, mehr aber gelang mir, sie besser zu sehen. Das wenige Technische, was ich besaß, reichte kaum zu dem unscheinbarsten Umriß hin, aber die Fülle der Körperlichkeit, die uns jene Gegend in Felsen und Bäumen, Auf- und Abstiegen, stillen Seen, belebten Bächen entgegenbringt, war meinem Auge beinahe fühlbarer als sonst, und ich konnte dem Schmerz nicht feind werden, der mir den inneren und äußern Sinn in dem Grade zu schärfen geeignet war."

Norbert Miller: "Der Wanderer". Goethe in Italien. Hanser Verlag, München 2002. ISBN 3446198768. 731 Seiten, zahlreiche s/w Abbildungen, 50 Euro.


Unglaublich

Elf Jahre alt war die Erzählerin als sie mit ihrer Familie aus Petersburg in ein Asylantenheim in Deutschland kam. "Meine weißen Nächte" von Lena Gorelik schildert in zahlreichen Anekdoten - ohne die Schrecklichkeiten zu verschweigen - amüsant die Eingewöhnung einer russischen Familie in die deutsche Übersichtlichkeit. Es ist zugleich die Geschichte eines Mädchens, das zu einer Frau wird. Hinzu kommt die Erfahrung, dass sexuelles Begehren und Liebe nicht dasselbe sind, dass sie - Höhepunkt der Komplikation - sich auf zwei verschiedene Menschen richten können. Das ist für ältere Leser keine so aufregende Erkenntnis, obwohl sie immer wieder weh tut, wenn sie einen trifft.

Die Stärken des Buches liegen mehr in dem fremden Blick auf Deutschland. Man schämt sich, dass man noch nie in ein Asylantenheim gegangen ist, um nachzusehen, ob wir uns auch dort so vernünftig, demokratisch und menschlich zeigen wie in den Reden zu Weihnachten und zum Jahreswechsel. Wir lernen, während wir fasziniert auf das Leben dieser jüdisch-russischen Familie blicken, mehr über das eigene Land, über uns als aus vielen anderen Büchern. So viel, dass wir es für ausgeschlossen halten, dass die Autorin - wie der Klappentext angibt - 1981 geboren ist. Unvorstellbar, dass eine junge Frau von nicht einmal 24 Jahren so klug, so souverän über ihre und unsere Welt schreiben kann.

Lena Gorelik: "Meine weißen Nächte". Roman. Schirmer/Graf, München 2004. ISBN 386555010X. 273 Seiten, 18,80 Euro.


Ein Anfang

Es sind zwei Bücher in einem. Da ist die Geschichte der Mary Kingsley. Eine Frau Anfang dreißig, die, nachdem sie Mutter und Vater gepflegt hat, dem viktorianischen England entkommt, auf Expedition nach Westafrika geht und für die wenigen Jahre bis zu ihrem Tod zu einer berühmten Reiseschriftstellerin wird. Da ist auch die Geschichte von Lily Austin, die sich in Ende des 20. Jahrhunderts mit 14 in Mary Kingsley verguckt und Jahre später ein Buch über sie schreiben wird. Richard Bausch spiegelt die beiden Biografien ineinander. Die in Washington aufgewachsene Lily Austin folgt ihrer ersten Liebe, einem Kommilitonen, in den Süden der USA. Richard Bausch mag die junge Frau, er mag jeden seiner Charaktere. Er hüllt sie alle ein in dicke Wattepakete aus Zuneigung. Er hegt und pflegt auch noch die verborgensten ihrer Seelenfalten. Er beugt sich über sie, streichelt über ihre Scheitel und wünscht ihnen alles Gute. Das kostet Zeit. Bausch nimmt sie sich. Manchmal dauert in diesem Buch ein Schweigen so lange wie im richtigen Leben. Das ist eine große Kunst. Wer Richard Bauschs Erzählungen kennt, der liebt sie. Aber achthundert Seiten Seelenmikroskopie das wäre zuviel. Zuviel für jeden Leser, aber auch zuviel für Richard Bausch.

Dafür ist Miss Kingsley da. Sie ist das Gegenteil der Lily Austin Story. Mary Kingsleys Geschichten handeln nicht von einem falschen Tonfall, von der Unmöglichkeit, einander zu verstehen. Sie handeln davon, wie eine Frau einem Krokodil das Maul mit einem Ruder einschlägt oder von einem Schwertschlucker, der seine Künste einem Eingeborenenstamm vorführt und daran stirbt. Zwei junge Männer wollen nämlich wissen, wo das Schwert geblieben ist und stochern ihm mit ihren Speeren hinterher. Sie begreifen nicht, wieso er an ihren Speeren stirbt, wo er doch sein Schwert so gut überstand.

Es dauert mehr als vierhundert Seiten, bis die erste längere Kingsley-Passage kommt, aber dann merkt man dem Erzähler an, mit welchem Vergnügen er ablässt von dem feingewobenen Seelengespinst und eintaucht in die Brutalität ältesten Erzählens, bei dem es um Taten und nicht um Gefühle geht. Es macht den Reiz dieser Geschichte aus, dass sein Achill, sein rasender Roland eine Frau ist, die in einem hochgeschlossenen, langen schwarzen Kleid mit weiten weißen Manschetten an den Ärmeln durch Urwälder und Savannen Afrikas reist. Sie ist angstlos wie alle, die die Liebe nicht kennen und nicht die Sehnsucht nach ihr. Sie geht durch die Gefahren hindurch, weil sie nichts zu verlieren hat als das eigene Leben. Es gibt niemanden, für den oder um dessentwillen sie es gerne bewahren würde.

Lily Austin dagegen wird von der Liebe zerfressen. Beinahe. Es gelingt ihr, sich von ihr zu befreien, Erst dann kann sie schreiben. In diesem Buch - nicht in dem, dessen Protagonist Mary Kingsley ist - sehnen sich alle nach der Liebe, nach Familie, nach dem Haus und dem Heim. Fast alle bekommen es, aber niemand ist glücklich darin. Sie ersticken in ihrer Sehnsucht nach Glück. Sie sehnen sich nach Nähe, und sie ertragen sie nicht. Sie glauben genau zu wissen, was sie wollen. Aber sie wissen nicht einmal, was sie brauchen. Sie sind unfähig, auch nur für fünf Minuten die Brille beiseite zu nehmen, die man ihnen aufgesetzt hat, um ihnen zu zeigen, wie das Glück aussieht. Sie haben keine Zeit herauszufinden, was ihnen gut tut. Die Eltern, die Familie, die Gesellschaft hat ihnen diese Arbeit abgenommen. Daran sterben sie. Lily Austin gelingt die Flucht. Wir sind froh darüber.

Der Autor Richard Bausch, so belehrt uns der Schutzumschlag, "lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in Virginia". Er hat auch einen Fluchtversuch unternommen. Er ist nicht aus der Familie geflohen. Jedenfalls nicht weiter als man für achthundert Seiten in jedem Fall fliehen muss. Er ist vor sich selbst geflohen. Vor dem Richard Bausch, den seine Leser kennen und lieben. Die Mary Kingsley Geschichten führen Bausch auf neue Wege. Weit zurück hinter die Vertracktheiten einer Psychologie, deren feinste Verästelungen der 1945 geborene Richard Bausch mit einer ihn wohl schon langweilenden Virtuosität seit Jahren nachzeichnet. In den Kingsley-Geschichten hat Richard Bausch an manchen Stellen die jugendliche Rotzigkeit eines jeden echten Spätstils erreicht. Auch darüber sind wir froh.

Richard Bausch: "Die Kannibalen". Roman. Aus dem Amerikanischen von Walter Ahlers und Sabine Roth. Luchterhand, München 2004. ISBN 3630871569. 845 Seiten, 22 Euro.