Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
15.09.2004. Frauen zum Pflücken, Meditationstexte aus Kreta, Lehmhäuser der Dogon, ein Musee sentimentale des Ersten Weltkriegs.
Sex und Erkenntnis

Der Titel ist schön, aber es ist nicht der richtige. "Wie ich lernte, die Frauen zu lieben" ist jetzt das dritte Mal auf deutsch erschienen. Das erste Mal erschien der Roman des 1933 geborenen ungarischen Exilschriftstellers Stephen Vizinczey auf Deutsch beim Scherz-Verlag unter dem Titel "Frauen zum Pflücken" im Jahre 1967. Gunther Martin hatte die kanadische Originalausgabe des Jahres 1965 übersetzt. Auf einem glatten tief schwarzen Umschlag stand der Titel in weiß über einem kleinen Foto, das den Mund einer Frau zeigte, deren Zunge sich über die roten Lippen strich. 1988 erschien der Band bei Klett-Cotta ein zweites Mal auf deutsch. Diesmal übersetzt von Hans Hermann und - beinahe - mit seinem richtigen Titel auf den Markt gebracht: "Lob der erfahrenen Frauen".

Der Originaltitel lautet: "In Praise of Older Women". Dieses Jahr ist er bei Schirmer/Graf erschienen, trägt den Titel "Wie ich lernte, die Frauen zu lieben" und auf dem Umschlag sieht man eine junge Frau, die die zwanzig kaum überschritten haben dürfte, aufgenommen von David Seidner. Vielleicht schreibt jemand mal eine Geschichte der Schicksale dieses Buches. Er würde sich die unterschiedlichen deutschen Fassungen sehr genau ansehen. In der neuen Übersetzung von Carina von Enzenberg, die ich gerne gelesen habe, lautet der erste Satz: "Dieses Buch ist für junge Männer geschrieben und älteren Frauen gewidmet - und die Verbindung zwischen beiden ist mein Thema." Bei Hermann hieß es: "Dieses Buch ist für junge Männer geschrieben und älteren Frauen gewidmet - und der Beziehung zwischen beiden rede ich das Wort." Bei Martin lautet er: "Dieses Buch ist den reifen Frauen gewidmet und wendet sich an junge Männer. Mein Wunsch aber wäre es, eine enge Verbindung zwischen ihnen anzubahnen."

Soviel zur Verunsicherung. Versichern möchte ich, dass es eines der lesbarsten, eines der vergnüglichsten, eines der weisesten Bücher der Weltliteratur ist. Stephen Vizinczey war zweiunddreißig als sein Buch erschien. Es ist völlig unverständlich, wie jemand in diesem Alter so klug sein kann. Jeder Leser seines Buches wird zu dem Schluss kommen, das Buch habe eine ältere Frau geschrieben oder habe Vizinczey doch so bei der Hand genommen, wie die Heldinnen dieser Lebenserinnerungen dem Erzähler bei seinen ersten Schritten in die verwickelten und verwirrenden Irr- und Umwege der sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau behilflich waren. Der derzeitigen freilich vor allem ideologischen, gerade nicht praktischen Begeisterung für das Familienleben liefert das Buch kein Material.

Es handelt sich um einen Entwicklungsroman. Einen freilich, der sich ganz spezialisiert nicht auf das intellektuelle sondern auf das erotische Leben seines Helden. Er erfährt, dass er liebt ohne geliebt zu werden und er beginnt zu begreifen, dass das ein Glücksfall sein kann. Er kommt dahinter, dass er, der die Geliebte niemals hatte betrügen wollen, sie doch betrog. Die Schönheit des Buches liegt darin, dass als ganz selbstverständlich genommen wird, dass der Mensch sich vor allem in seinen erotischen Verhältnissen heranbildet, dass so schön das Lesen und Schauen ist, in Wahrheit dann doch das Lieben und Vögeln einen voranbringt. So versteht es sich von selbst, dass Vizinczey nichts ferner liegt als die Vorstellung jenes glücklichen Paares, das ein für alle Mal zusammen, immer zusammen die Welt erkundet. Vizinczey sieht den Reiz dieser Idee, er ist empfänglich dafür, sein Held verfällt ihr immer wieder, aber er rückt auch immer wieder von ihr ab. Auf der Suche nach etwas Neuem, zu dem der Geruch einer neuen Frau gehört und die andere Form ihrer Schenkel und Brüste.

Es gibt Stellen in diesem Buch, die einem den Atem verschlagen. Da ist die Begegnung mit der Geigerin Boby, die der Philosophiestudent in Budapest kennenlernt. Sie weiß genau, was ihr in der Liebe gefällt und sie zeigt es dem jungen Mann. Eines Tages entdeckt er die Nummer auf ihrem Unterarm. Sie war acht Jahre zuvor Auschwitz entkommen. Stephen Vizinczeys Geschichten spielen nach der Katastrophe. Die Protagonisten sind ihr entkommen, aber sie ist noch so nah, dass man noch nicht daran glaubt, man wäre sie für immer los. Der Sex und die Liebe sind hier nicht nur Vergnügungen eines Heranwachsenden, sie sind auch Techniken fertig zu werden, mit etwas, mit dem man nicht fertig werden kann. Begehrt und geliebt zu werden hat für die Erniedrigten etwas Befreiendes. Sie können die Vorstellung ablegen, dass sie erniedrigt wurden, liege daran, dass sie es verdienten, erniedrigt zu werden.

Kein Leser wird vergessen wie Vizinczey sein Eintreffen in Rom schildert. Er hatte 1956 nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution sein Heimatland verlassen, war in Rom angekommen. Dort wurde er mit anderen Flüchtlingen in einem Hotel untergebracht. Als sie ankamen, standen vor dem Hotel begeisterte Römer, die die Flüchtlinge als Helden begrüßten. In der Halle des Hotels konnten sie sich einkleiden. Es gab Anzüge, Kostüme, Hemden, Blusen, Hosen, Röcke, Strümpfe, Schuhe. Stephen Vizinczey schreibt: "Ich schnappte mir zuerst einen großen Koffer und suchte mir dann, sorgfältig Größen und Muster studierend, sechs weiße Hemden, Krawatten, Unterwäsche, Socken, zwei paar Schuhe, drei Anzüge, sechs schwarze Pullover und einen schicken Mantel aus. Die Geschenke halfen, die umfassende Erkenntnis hinauszuzögern, dass wir von allem Menschen und Dingen, die wir verstanden, die uns wichtig waren, die wir hassten und liebten, davongelaufen waren. Wir umklammerten unsere neuen Habseligkeiten, und unsere Gesichter, die im Zug noch so bescheiden und ängstlich gewirkt hatten, nahmen den besorgten, selbstgefälligen Ausdruck von Besitzenden an. Als ich mich mit meinen Schätzen durch das Gewühl kämpfte, bemerkte ich einen dünnen, dunkelhaarigen Pagen, der mich voller Verachtung und Abscheu anstarrte. Da war ich, ein Ausländer, der sich kostenlos die schönsten Dinge herausgesucht hatte. War er je gefragt worden, was er brauchen könnte? Ich hatte Schuldgefühle, doch gleichzeitig erfüllte mich mein eigenes Glück mit süßer Zufriedenheit."

Man muss wahrscheinlich von älteren Frauen auch sexuell erzogen worden sein, um einen so genauen Blick auf seine Umgebung und sich zu entwickeln.

Stephen Vizinczey: "Wie ich lernte, die Frauen zu lieben". Aus dem Englischen von Carina von Enzenberg. Schirmer/Graf Verlag, München 2004. 308 Seiten, 19,80 Euro. ISBN 3865550088.


beinah leise

Rechts immer Fotos eines Gebirgszuges (Mavri auf Kreta), die aussehen als wäre es immer dasselbe Foto, aber sieht man genauer hin - wie man es als Kind in der "Hör zu" gelernt hat - , dann bemerkt man, dass die Wolken von Foto zu Foto anders sind. Die 44 Aufnahmen, auf diese Feststellung legt der Autor wert, wurden am 10. März 2004 gemacht. Links von den Fotos kurze drei oder vier Zeilen lange Texte in vier Sprachen. Also:

"Mittag auf der Insel Kreta
Langsam in einem schmalen Streifen aus Schatten
und beinah leise."

Darunter die Übersetzungen ins Griechische, Englische und Französische. Der Text ändert sich von Übersetzung zu Übersetzung kaum spürbar - wie die Fotos. "beinah leise" heißt "almost still" und "presque silence". Richard Nöbel ist einer der wenigen wirklichen Meister der poetischen minimal music. Wie schafft er es, dass man sofort versteht, dass dieses "beinahe leise" nicht aus dem Lärm, sondern aus der Stille kommt? Woher wissen wir, dass leise hier nicht das Gegenteil von laut ist, sondern das zögerliche Hervortreten aus der Lautlosigkeit?

Wir wissen es nicht. Es gibt nichts, woran wir es zweifelsfrei festmachen können. Aber wir spüren, dass in diesem Text das "leise" das erste Geräusch ist. Jede erste Zeile von Nöbels Texten endet mit "auf der Insel Kreta". Wer einen Kurs "Schneller lesen" besucht hat, wird mit dem Buch in zwei Minuten fertig sein, aber es gibt Bücher, die sind nicht zum Lesen gedacht. Wer sie liest, um anschließend sagen zu können, was der Autor gesagt hat, wird sie nie verstehen. Die Texte teilen zwar etwas mit, aber es geht ihnen nicht darum, sondern sie fordern auf, eine Haltung einzunehmen. Es sind Meditationstexte.

Sie wollen gesprochen sein. Immer wieder. Dann beginnen sie den Nachahmungstrieb zu wecken und diese scheinbar bewegungslosen, am Schweigen entlang sich formulierenden Wörter bekommen etwas Animierendes, Aktivierendes. Die ältesten Texte der Menschheit sind bekanntlich Kalkulationen und Warenlisten, aber gleich danach kommen Texte wie die von Richard Nöbel. Sie erzeugen Bedeutung. Keine bestimmte. Das macht ihren Zauber aus. Es ist der Zauber einer lange verpönten Magie. Aber, wenn wir auch nicht mehr an ihre Wirkung glauben, so erfahren wir sie doch als eine eigentümliche Schönheit. Vielleicht ging es früheren Zeiten nicht anders und alle Magie war, bevor sie in die Hände der Wissenschaftler geriet, die den Sätzen eine genaue, jeweils spezifische Bedeutung zumaßen, nichts als die uns immer noch berührende Macht der Schönheit des Bildes, des Klanges. Ohne Rätsel gibt es die nicht.

"Zuversicht auf der Insel Kreta
Dennoch begann im Fenster das Blau. Ja."

Richard Nöbel: "Wegen Kreta". Verlag Dr. Thomas Balistier, Mähringen 2004. 97 Seiten, 10,80 Euro. ISBN 3937108033.


Rustikales

Deidi von Schaewen ist eine der besten Interieur-Fotografen der Welt. Sie hat für Hochglanzzeitschriften überall in den schönsten Häusern fotografiert. Es sind prächtige Bildbände herausgekommen. Die zwei dicksten Brummer hat Taschen letztes Jahr vorgelegt. Es sind Bilder aus afrikanischen Häusern. Häuser, die die Armen sich aus Wellblech und Baumstämmen oder Brettern und Beton fabrizieren, und feine Villen, mehr oder weniger geschmackvoll eingerichtete Inseln mitten im afrikanischen Elend. Also schöne Badewannen direkt am Fenster mit Blick auf die afrikanische Steppe. Oder Luxuscamps, von denen aus man, an seinem Whiskey nippend, zuschauen kann, wie das Großwild im Fluss säuft und badet. Die meisten Etablissements leben von der Verbindung von Natur und Luxus, ihre Schönheit liegt darin, dass man, während man verwöhnt wird, keine Sekunde vergisst, dass diese Pracht einer kräftig wuchernden, alles nieder machenden Natur abgerungen wurde.

Das Rustikale ist ein fast unverzichtbares Element dieser Ästhetik. Deidi van Schaewen hat aber auch die Ausnahmen gefunden. Zum Beispiel das Haus eines in Johannesburg lebenden belgischen Architekten, das in seinem Innern ganz ohne Zitate der Außenwelt auskommt. Nichts deutet darauf hin, dass das Haus nicht in Brüssel steht. Aber durch die riesigen Fenster ist die Welt da draußen immer auch drinnen. Es bedarf keiner eingeschleppten Trophäen. Zu den eindrücklichsten Fotos zählen die, die die ockerfarbenen Lehmhäuser der Dogon in den Felsen von Bandiagara zeigen. Sie stehen da wie in die Jahre gekommene Wächter, denen das, was sie zu bewachen angestellt wurden, schon lange abhanden gekommen ist. Der an jedem Detail sich erfreuende Blick von Deidi von Schaewen hat natürlich auch die wunderbar figurenreich geschnitzten Türen festgehalten. Aber wer, der es einmal gesehen hat, wird die mitten in einem Zelt aufgestellte Hängematte vergessen und das hinter ihr an die Zeltwand gelehnte Fahrrad?

Es ist das Interieur einer obu-Hütte im Norden Kameruns. Von der Sahel-Zone lesen wir täglich und immer heißt es, die Bewohner hätten ihre Hütten verlassen müssen, um sich auf die Suche nach Nahrung zu machen. Hier sehen wir, wie die Hütten aussehen, und wir beginnen nicht nur die Armut, sondern auch die Schönheit zu sehen. Die beiden Bände sind nicht zuletzt darum so großartig, weil sie die Designerhäuser und die Hütten, die mit Silberfolie oder Reklamepapier dekoriert werden, nebeneinander stellen. Wir sehen in das Atelier eines Fotografen, in die Küche einer Bäuerin in Ghana und in die Zimmer eines Prachthotels in Luxor. Deidi von Schaewen, die wahrscheinlich die größte Sammlung von Fotos von Kanaldeckeln hat, lässt uns teilhaben am größten Luxus ihres Lebens, dass sie nämlich überall Zutritt hatte und hat. Ihre Aufnahmen klären uns nicht nur auf über arm und reich, über schön und hässlich, sondern sie zeigen uns auch, wie leicht wir das Schöne erkennen und wie schwierig es ist, es zu definieren und dass es mit arm und reich sich ganz ähnlich verhält.

Deidi von Schaewen: "Inside Africa". Herausgegeben von Angelika Taschen. Texte von Laurence Dougier, Laurence und Frederic Couderc, Fotos von Deidi von Schaewen. Französisch-Deutsch-Englisch. Ins Englische übersetzt von Anthony Roberts, ins Deutsche übersetzt von Anne Brauner. Taschen Verlag, Köln 2003. Zwei Bände, 240 x 316 mm, 896 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 99,99 Euro. ISBN 3822857718.


Kitsch as Kitsch can

Wer Brigitte Hamanns Bücher über den Kronprinzen Rudolf, die Kaiserin Sissi und den jungen Adolf Hitler gerne oder wie ich voller Bewunderung gelesen hat, der sei vor ihrem jüngsten Buch gewarnt. "Der Erste Weltkrieg - Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten" hält nicht, was der Titel verspricht. Es ist, was das Bildmaterial angeht, vor allem eine Sammlung von Kriegskitschpostkarten. Die wenigen kritischen Bilder und Fotomontagen kommen dagegen nicht an. Vorherrschend bleibt der Eindruck einer gemütlichen, einer das Gemüt ansprechenden Bildsprache.

Die Texte bleiben dem gegenüber hilflos. Sie distanzieren sich zwar vom Kriegskitsch, aber sie analysieren ihn nicht. Das mag nicht das Ziel des Buches gewesen sein, aber ob Brigitte Hamann mit ihrem Buch wirklich nichts als ein Musee sentimentale des Ersten Weltkriegs bieten wollte? Es ist schade um das liebevoll schön gestaltete Buch, es ist schade um die Intelligenz und die erzählerische Kunst von Brigitte Hamann, die hier nichts als Kitschveredelung, also Kitschpotenzierung betrieben hat.

Brigitte Hamann: "Der erste Weltkrieg - Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten". Piper Verlag, München - Zürich 2004. 191 Seiten, 425 meist farbige Abbildungen, 29,90 Euro. ISBN 3492045901.