Virtualienmarkt

Warnung vor dem Chaos

Von Rüdiger Wischenbart
29.03.2011. Das Scheitern des Google Books Settlement hat zu Unrecht Begeisterung ausgelöst: Schließlich waren Verlage und Autoren an der Formulierung beteiligt - auch Holtzbrinck. Richter Danny Chin ruft nach dem Gesetzgeber. Der muss auch in Europa aktiv werden.
Wenn sich nun allmählich der Pulverdampf verzieht und den Blick auf eine genaue Lektüre des Schiedsspruchs (hier als pdf-Dokument) von Richter Danny Chin und seine Zurückweisung des "Google Settlement" frei macht, wird rasch klar, dass die Parole "ein Sieg für das Urheberrecht" der komplexen Materie nicht wirklich gerecht wird.

Zum einen steht da tatsächlich die klare Aussage, der außergerichtliche Vergleich, für den um richterliche Zustimmung nachgesucht wurde, sei weder "fair" noch "vernünftig". Denn Google, das seit 2004 mittlerweile an die 12 Millionen Werke aus Bibliotheken digitalisiert hat, würde damit eine Monopol- und somit Machtstellung über die Erschließung von Buchwissen erringen, die nicht hinzunehmen sei. (Unter der Überschrift "Wissen ist Macht" wurde hier, im Virtualienmarkt, übrigens bereits im Mai 2005 auf diese Problematik verwiesen.)

Bemerkenswert ist an der zentralen Aussage von Richter Chins Schiedsspruch wohl auch, dass er ausdrücklich darauf hinweist, welches Gewicht er den zahlreichen Stellungnahmen gegen das Settlement, insbesondere auch von außerhalb der USA, in diesem Zusammenhang beimesse.

Etwas untergegangen im Jubel über die Zurückweisung, gerade auch in Europa, ist da der Umstand, dass der Schlichtungsvorschlag im Einvernehmen mit den amerikanischen Branchenorganisationen, also mit Verlagen und Autoren, ausgehandelt worden war.

Deshalb die erste Frage: Sind die Interessen amerikanischer Branchenteilnehmer tatsächlich so anders als jene von Verlagen und Autoren in Europa? Einer der Architekten des Textes war John Sargent, Chef von Macmillan und US-Statthalter der Stuttgarter Holtzbrinck Gruppe, zu der in Deutschland Häuser wie Rowohlt oder S. Fischer gehören.

Sargents Sorge, wie er ein ums andre Mal herausstrich, war, dass ohne einen Rahmen bei der Digitalisierung von Büchern für jeden Einzelfall ein eigenes Übereinkommen zwischen Rechteinhaber und Initiator der Digitalisierung getroffen werden müsste - ein massiver Bremsklotz für die digitale Wissensgesellschaft, und damit für Buchkultur und Buchwirtschaft. Deshalb betonte auch der deutsche Börsenverein eilig, dass die Zurückweisung des Settlement nicht zur Ausrede für Inaktivität bei Digitalisierung und eBooks werden dürfe - denn da geht es schlicht um die Zukunftsfähigkeit der Buchbranche.

Zweite Frage: Was folgt daraus nun praktisch? Das US Branchenblatt Publishers Weekly hat knapp und pragmatisch für die wichtigsten Gruppen von Betroffenen Antworten zu formulieren versucht. Das Ergebnis: Es ist alles kompliziert und unübersichtlich. Denn sowohl Verlage wie auch Autoren - und selbstverständlich Google - haben ein erhebliches Interesse daran, aus dem Schlamassel der Ungewissheit herauszukommen und ordentliche Rahmenbedingungen, und damit auch Rechtssicherheit, zu erlangen, um die zahllosen Bestände von Büchern, die erschienen - doch vergriffen - sind, zu verwerten, also daraus Nutzen zu ziehen, fürs eigene Geschäft und für die Lesenden.

"Es ist im Jahr 2011 absurd", spitzt Konrad Litschka auf Spiegel Online zu Recht zu, "dass Menschen, die Bücher nutzen wollen, überhaupt in eine Bibliothek fahren müssen."

Von den zwölf Millionen von Google digitalisierten Bänden sind zahllose längst rechtefrei, weil von Urhebern, die siebzig oder mehr Jahre tot sind. Das eigentliche Problem, auch bei Streit und Settlement, sind indessen die ebenfalls vielen Millionen "verwaisten" Werke, wie es auf Englisch bildhaft heißt ("orphan works"), für die sich ein klarer Rechteinhaber so einfach nicht ermitteln lässt, die aber, weil jüngeren Datums, durchaus ihre Leserschaft haben.

Hier setzt seit 2008 ein im Übrigen von europäischen Verbänden und Verlagen initiiertes Projekt unter italienischer Ägide an, das sich hier um Spielregeln und, vor allem auch, um einen breiten Konsens bemüht, Arrow. Der Zugang ist pragmatisch, und unaufgeregt: Man will "Registries", also Datenbanken, schaffen, über welche die Werke und deren Rechteinhaber entweder einfach identifiziert werden können, oder über die bei offenen Fragen ein Abgleich ohne allzu große Ungewissheiten geschaffen werden kann. Cool, und selbstbewusst steht nun schon auf der Homepage von Arrow, dass der Spruch von Judge Chin in jene Richtung weist, die von Arrow verfolgt werde. Direkte Gespräche mit Partnerorganisationen in den USA sind natürlich bereits in Vorbereitung.

Ist folglich schon alles abseh- und auflösbar? Nein, gewiss nicht. Denn Richter Chin begrenzt seine Möglichkeiten und Zuständigkeiten gleich mehrmals in dem 48 seitigen Dokument, indem er sagt:

"First, the establishment of a mechanism for exploiting unclaimed books is a matter more suited for Congress than this Court.?

Das Gericht könne sagen, dass der vorgelegte Entwurf für ein Arrangement unfair sei. Dahinter stecke aber ein weiter reichendes Problem, das einer politischen Lösung bedürfe. Es brauche den Gesetzgeber - "Congress" in den USA, die nationalen und das europäische Parlament(e) in Europa. Denn der bestehende gesetzliche Rahmen des "Copyright" reiche eben nicht.

Richter Chin zitiert den Supreme Court:

"[I]t is Congress that has been assigned the task of defining the scope of the limited monopoly that should be granted to authors or to inventors in order to give the public appropriate access to their work product."

Ich denke, das ist auch auf Europa zu übertragen: Ohne eine saubere Trennung in eine gerichtliche Überprüfung und in eine nötige gesetzliche Anpassung des Urheberrechts wird es mit Blick auf die digitale Zukunft nicht gehen.

Es gilt eine Balance herzustellen zwischen den legitimen Ansprüchen der Rechteinhaber und der Verlage einerseits, und der Erschließung auch der zahllosen "verwaisten" Bücher andererseits.

Hier könnte den Europäern eine zentrale Rolle zukommen, nicht im Showdown mit Google, sondern als Wegweiser zum Nutzen der Lesenden, der Autoren und der Verlage.

Rüdiger Wischenbart