Virtualienmarkt

Versuch, Google zu verstehen

Von Rüdiger Wischenbart
31.05.2002. Wer, ob aus Armut, aus Demut oder aus Prinzip nicht ins Internet geht, ist erst einmal unsichtbar. The World According to Google.
Es ist schon ein paar Jahre her, da schrieb Paul Simon einen Song übers Fotografieren, in dem er die Tätigkeit des Bildchen Schießens schlicht mit "to kodachrome" - mit einem zum Verbum gemachten Produktnamen - beschrieb. Ich frage mich, was alles heutzutage ins Verb "to google" einfließen muss, sobald es dieses Wort einmal gibt.

Die Suche nach "google" auf Google ergibt 9.970.000 Treffer. Die Suche in konventionellen Wörterbüchern führt im besten Fall zur recht speziellen Fachterminologie des Cricket: "'Googly' (...) 1904. An off break ball bowled with leg-break action. Hence Google v. of the ball or the bawler. Googler." (The Oxford Universal Dictionary Illustrated, 1965.)

Die Suchmaschine Google ist eine Firma, die drei Milliarden Webseiten katalogisiert, angeblich die sechst meistbesuchte Internetseite der USA darstellt, und die zweitmeist benutzte Seite nach T-Online in Deutschland, demnächst auch vom weltgrößten Medienkonzern AOL Time Warner für den weltweit populärsten Internetdienst AOL eingesetzt werden wird und schon heute in 74 Sprachen operiert. Google als Firma, 1998 gegründet, also gerade einmal vier Jahre alt, beschäftigt 50 Computer Science Doktoren, doch ist das von zwei Studienabbrechern aus Stanford begründete Unternehmen noch nicht börsennotierend. Geschäftszahlen gibt es deshalb nicht. Ob Google auf Dauer auch ein wirtschaftlich erfolgreiches Geschäftsmodell ausbilden kann, ist ebenfalls nicht klar.

Um die Schreibweise eines schwierigen Wortes wie "marriachi" oder "Möllemann" zu prüfen, ist es für Millionen fleißige Bienen in Büros weltweit allerdings längst am einfachsten, in Google nachzuschlagen. Hausarbeiten von Schülern und Studenten in einigermaßen wohlhabenden Milieus sind längst Spiegel der Top-Suchresultate von Google (und erfolgreiche Arbeiten werden wiederum ins Internet gestellt und damit, über Google auffindbar, zum weiteren Abschreiben freigegeben), und für mich wäre es nicht möglich, auch nur eine Ausgabe des "Virtualienmarktes" zu schreiben, ohne Basisdaten über Google zu recherchieren oder zu prüfen.

Soweit ist die Sache bekannt und, nach nur vier Jahren, auch banal.

Mit Google lassen sich nicht nur Worte, sondern auch Bilder suchen, was bei jeder teuren Präsentation einer Unternehmensberatung zumindest für ein paar visuelle Überraschungs- und Schmunzeleffekte sorgen sollte. Zum Stichwort "Perlentaucher" etwa findet sich nicht nur das Logo der beliebten Berliner Seiten, sondern auch ein sehr skurriler japanischer Stempel.

Zugegeben, im Augenblick werden, genau genommen, nur die Untertitel der Bilder gefunden. Und, was noch viel lästiger ist, die Ergebnisse der Suche werden in drögen Listen wiedergegeben.

Mit nur wenig Phantasie lässt sich jedoch ganz anderes vorstellen. Ich bin etwa ein leidenschaftlicher Stadtwanderer und gehe stundenlang durch neue Orte, um die Eindrücke, Einzelheiten, Momente aufzusaugen, manchmal gleich zu zerlegen und einzuordnen. Viel öfter aber stellen sich erst viel später Assoziationen und Bezüge ein. Jeder Spaziergänger kennt das. Google ist natürlich der erste Schritt hin zur Digitalisierung des universellen Spaziergängers. Jargongemäß muss ich jetzt sagen: Oops! Aber was bedeutet das?

Die grundsätzliche Frage ist erstaunlich einfach: Wollt ihr alles finden? Die Antwort lautet, ähnlich simpel: Nein, natürlich nicht.

Damit aber öffnet sich ein gewaltiges Problem: Wer ordnet die mittlerweile Milliarden Web-Seiten, und, darüber hinaus, die Einträge in den Datenbanken, die irgendwo - allgemein, oder gegen Berechtigung - verfügbar sind? Kein Bibliothekar der Welt sei dieser Krake des neuzeitlichen Datengrabzeitalters gewachsen - möchte man meinen.

Peter Burke, einer der große Historiker dieser Neuzeit, hat genau dazu allerdings jüngst einen überaus lesenswerten und bedenkenswerten Leitfaden geschrieben mit seinem Buch "Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft", in dem er nacherzählt, wie schon am Beginn dieser Ära, im 15. und 16. Jahrhundert, die überbordende Flut der neuen Erkenntnisse notwendigerweise- als "Wissensbaum", oder, wenig später, in den bis heute vertrauten alphabetischen Ordnungen - systematisch angelegt worden ist. Jedes Mal galt für die Wissenschaft, was auch für den Gärtner gilt, nämlich dass die Optimierung des Ertrages verlangt, den "Baum des Wissens" ordentlich zu stutzen, allein schon um ihn überblickbar zu machen.

Der Erfolg von Google etwa liegt wesentlich darin, dass man in vielen Fällen auf Anhieb tatsächlich auf den ersten angegebenen Internet-Adressen schon findet was man sucht. Wenn ich "Perlentaucher" suche, finde ich an erster Stelle diesen Perlentaucher hier, allein weil ihn viele andere Benutzer des Internet auch benutzen und deshalb andere Plattformen auf ihn verlinken. Das Licht produziert Schatten: Alles, was nicht (prominent) aufscheint, gerät noch mehr ins Abseits.

Nächste Entwicklungsschritte werden die Logik dieser Optimierung (also Fokussierung) noch weiterführen, und sie werden die Bedeutung dessen, was gesucht (und gefunden) wird, noch deutlicher machen.

Ein derzeit noch experimentelles Beispiel dafür liefert etwa die französische Maschine Kartoo, die die verschiedenen Fundstellen über inhaltliche Referenzen wie auf einer Landkarte in Beziehung setzt. Das Ergebnis sind nicht mehr Listen, sondern zweidimensionale dynamische Grafiken. Oder, noch ausgreifender, werden wir im nächsten Schritt beginnen, das gesamte digitale Universum, egal ob es um Texte, Bilder oder was auch immer geht, in einem "semantischen Web" zu kartografieren. Dreidimensionale Räume sind ebenfalls schon in Vorbereitung, so dass wir uns, mehr und mehr, der Erlebniswelt eines digitalen Flaneurs tatsächlich in absehbarer Zeit nähern können.

Wir nähern uns, in anderen Worten, der digitalen Version des 19. Jahrhunderts. Wir werden erneut zu seltsam verschrobenen Positivisten im 21. Jahrhundert, die messen und notieren, während sie jubilierend ausrufen "Ich habe gefunden!", oder "Ich weiß!" - und darüber womöglich das Staunen verlieren.

Wie umfassend aber ist diese "world according to google"?.

Einiges spricht dafür, dass das oft etwas selbstgefällig anmutende Wissen der heutigen Internet-Digerati dem der früheren Eliten gleicht, die "Wissen oft mit dem eigenen Wissen" gleichgesetzt haben (Burke). Wer, ob aus Armut, aus Demut oder aus Prinzip nicht ins Internet geht, ist erst einmal unsichtbar. Drei Beispiele:

"The Bush administration is creating a secret government - a government accountable to no one but the president. Congress stomps and moans yet does little to stop the administration from hacking away constitutional checks and balances. And a majority of the American people awash in fear do not care", notierte die New York Times nur wenige Monate nach dem 11. September.

Die Implementierung eines aus Sicherheitsgründen abgeschotteten "Internet II" bewegt ohnedies seit längerem die Gazetten. Und die Organisationsstrukturen der Terrororganisation Al Qaida legen nahe, dass komplexe Befehlsstrukturen mit einem erheblich geringeren Maß an Kommunikation und Information zu funktionieren vermögen als das allgemeine Lob der Effizienz der modernen "offenen Gesellschaft" allgemein nahe legt.

Weshalb ich für heute nur anekdotisch schließen kann: Verwandte Begriffe zu "google" sind natürlich "goggle", einerseits "stieren", andererseits "Schutzbrille" sowie, als "goggle box" die gute alte "Glotze", und "goof" (Idiot), "goop" (Tölpel), aber freilich auch die gute alte "goose" (Gans), die schon so viele Städte mit ihrem idiotischen Geschnatter vor dem Überfall der Feinde wachgerüttelt und somit gerettet hat.

Zu finden unter dem Stichwort "Google" auf Google ist allerdings auch die etwas überraschende Seite von Dean Allen aus Vancouver, dem Begründer der "Cardigan Industries", die sich mit dem Slogan "The Ecstasy of Communication" rühmt und doch gewissenhaft und ehrlich als "infrequent google searches" aufführt "'Celine Dion' +nude", "Vancouver nightlife" und "Cardigan Industries".

Weshalb das Schlusswort zu Google unausweichlich dem Kollegen Dilbert zukommen muss.