26.11.2002. Auf den Buchcovern von "Harry Potter und der Stein der Weisen" hatte der Zauberlehrling noch in jedem Land der Welt ein eigenes Gesicht. Doch die vielen Gesichter des Harry Potter werden langsam von einem verdrängt: dem der Filmfigur. Eine kleine globale Kulturgeografie.
In England, den USA, Deutschland und, seit gestern, in den Niederlanden ist er schon. Nach Thailand, Brasilien, Dänemark und Frankreich kommt er heute, nach Argentinien und Australien am 28. November, nach Italien erst zum Nikolaus am 6. Dezember. Wer kann das sein? Überall hat er
ein Gesicht. In vielen Ländern allerdings hat er zwei - je ein lokales und ein globales. Ja, es geht um
moderne Zauberei.
Irgendwann in den späten achtziger Jahren bemerkte ich auf Reisen abseits der touristischen Hauptrouten, dass sich zwischen Asien, Afrika und dem Nahen Osten
zwei Ikonen und Rollenmodelle aus
Hollywood ein Wettrennen um die Bewunderung vor allem der jungen Männer in der ganzen Welt lieferten:
Conan der Barbar (Arnold Schwarzenegger) und
Rambo (Sylvester Stallone). Faszinierend daran war für mich weniger die Ausdeutung der beiden verwandt-gegensätzlichen Bilder und Lebensmodelle der Helden, als deren
bildliche Verbreitung über alle kontinentalen wie ideologischen Grenzen hinweg. Kämpfer wie sie fanden in den Martial Arts Schulen von
Paris oder
Hongkong ebenso wie in
kaschmirischen Dörfern oder gerade erst für Ausländer geöffneten
chinesischen Provinzstädten ein kulturelles Echo.
Heute ist in nahezu allen Winkeln der Welt, bei Jungen wie bei Mädchen,
Harry Potter angelangt, und der globale Kalender, wann wo und wie die Verfilmung des zweiten Bandes, "Harry Potter and the Prisoner of Azkaban", in die Kinos kommt, ist ein guter Maßstab für die
kulturelle Vermessung dieser Welt am Beginn des neuen Jahrhunderts.
Interessant ist bereits, dass sich an den
Erstaufführungsdaten allein keine Hierarchie ablesen lässt. Denn was wäre der Vorteil Thailands gegenüber Italien, und weshalb hinkt das englischsprachige Australien hinterher? Wir wissen so viel über Potters
globale Eroberung der Leserinnen und Leser, und dann nachfolgend in einer langen und umfangreichen medialen Verwertungskette, der Kinogänger, Couch Potatoes, Video- und DVD- und PC-Spieler sowie der Kinder und Jugendlichen, die es zu T-Shirts, Plastikbesen und Legobaukästen mit Harry-Themen hinzieht, dass die tatsächlich
augenfälligen und signifikanten Besonderheiten kaum noch wahrgenommen werden.
Drehen wir deshalb die Uhr noch mal ein Stück zurück, lassen wir
Harry's Eule Hedwig von Hogwarts zurück in unseren Alltag fliegen, und stellen wir die Bücher - insbesondere den ersten Band, "Harry Potter and the Philosopher's Stone" ("Harry Potter und der Stein der Weisen") - nochmals
zurück ins Schaufenster der Buchhandlung.
Damals, als alles anfing, erfanden beispielsweise Illustratoren und PR-Leute in vielen Ländern "
ihren" Harry. Es war ein ganz einzigartiges Experiment, weil innerhalb kürzester Zeit - Harry war bekanntlich von Beginn an als globaler wie auch als atemberauschend rascher Erfolg gestartet - in
Dutzenden von Kulturkreisen und Sprachen ein Bild von Harry erfunden werden musste, allein um die vielen Buchumschläge zu illustrieren. Legt man nun etwa die
Titelabbildungen des ersten Bandes - "Harry Potter and the Philosopher's Stone" - in den unterschiedlichen Ausgaben nebeneinander, so ergibt dies ein wundersames Puzzle globaler
kultureller Vielfalt.
Steht für die
britische Originalausgabe ein typisch englischer
Schuljunge mit dicken Brillengläsern vor einer dampfenden roten Lokomotive des Hogwarts Express, so reitet sein
amerikanischer Kollege,
locker und dynamisch, mit Jeans und weißen Sneakers, auf einem Besen durch die Luft, während im Hintergrund ein weißes Einhorn vorüber läuft. Der Titel kündigt im übrigen in den USA nicht mehr einen Stein des
Philosophen, sondern einen Stein des
Zauberers ("Harry Potter and the Sorcerer's Stone") an.
Die
israelische Ausgabe übernahm die amerikanische, doch reitet Harry hier nicht in lateinischer Leserichtung von links nach rechts, sondern, dem Hebräischen entsprechend,
von rechts nach links durchs Bild.
Der
deutsche Harry - vor dem Hintergrund des verhexten Schachspiels - hat wild zerzauste Haare und einen
ziemlich intellektuellen Blick, während Harry als
Franzose die "Zauberschule" besucht ("Harry Potter a l'Ecole des Sorcieres") und am Titelbild mit den Freunden Ron und Hermine sowie seiner Eule Hedwig im
kindlich märchenhaften Dekor erscheint, während sein
italienischer Cousin seine
Verwandtschaft mit Pinocchio deutlich herauskehrt.
Der
lateinamerikanische Harry nimmt die
US-amerikanische Figur auf - auf dem Besen fliegend, mit Einhorn im Hintergrund -, jedoch unter einem
offenen Nachthimmel mit Sternen und Sichelmond. Bemerkenswert ist eine
iranische Fassung mit
prominent platzierter antiker Eule und einem
brennenden Kind (oder Lehrer?), das schreiend, von einem machtvollen Blitz getroffen, aus dem Zauberhaus rennt.
Eine
chinesische Piratenausgabe versenkt Harry - als Figur der US-Ausgabe nachempfunden - in einem
steinernen Verlies, während die
offizielle chinesische Lizenzausgabe aus dem "People's Literature Publishing House" das US-Cover ohne Veränderungen übernimmt - ganz so wie die indonesische, die koreanische, die thailändische und die taiwanesische Ausgabe.
Nur für die japanische und die vietnamesische Ausgabe wurden eigene Illustrationen entwickelt, eine
romantische Vollmondszenerie für
Japan, und eine
farbenprächtige Collage aus Elementen der US-Ausgabe - Harry in Jeans und Sneakers, sowie das Einhorn - für
Vietnam.
Das US-Cover ziert auch die südafrikanische Edition in
afrikaans. Es gibt keine einzige originäre Ausgabe in Schwarzafrika, das
offenbar ausschließlich über die Verlage der
ehemaligen Kolonialmächte mit Harry Potter Büchern versorgt wird.
In Harry Potter spiegeln sich also die
kulturellen Verhältnisse der Welt. Wo Harry ein eigenes Gesicht und einen eigenen Haarschnitt haben darf, wird freilich nicht nach Gutdünken, sondern über präzise und teure Lizenzverträge bestimmt. Einen kleinen Überblick über den Stand der
Verträge um Harry liefert die
Homepage seiner Erfinderin
J.K. Rowling. Die Seite enthält nicht nur eine beeindruckende Liste von Verlagen aus wahrlich aller Welt, die Lizenzausgaben produzieren, sondern auch entsprechende Links für den
eigenen Lokalaugenschein.
Bei näherer Betrachtung aber ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Denn einerseits ist freilich beeindruckend, wie - insbesondere bei den Buchtiteln - Harry Potter wohl allein nach der Anzahl seiner Gesichter ins Guinness Buch der Rekorde gehörte, allerdings nicht in der Rubrik "Zauberei", sondern unter "globale Vielfalt der Kulturen". Zum anderen aber zeichnet sich auch deutlich ab, wie, langsam, nicht abrupt, über die
Verfilmung das chronologisch zuletzt kommende Gesicht, der
Harry des Filmrechte-Inhabers AOL Time Warner, alle anderen visuellen Eindrücke an den Rand zu drängen beginnt.
Es dringen einfach immer mehr Elemente aus der Ikonografie des Medienkonzerns in die Vielfalt der Erscheinungen ein und machen so alle anderen Zeichen und Zeichnungen zu etwas
ausgefallenen Randerscheinungen. Allein wenn man Webseiten, Spielzeugläden, öffentliche Anschläge oder auch die Kommentare von Kindern aufnimmt, setzt sich, Zug um Zug, das eine, zunehmend
dominante Abbild durch.
Wer auf die offizielle
Website von AOL Time Warner klickt, findet dort zwar ein breites Spektrum von
sprachlichen Varianten, mit koreanischen, italienischen oder japanischen Fassungen. Doch seltsamerweise konnte nur der deutschsprachige Lizenzverlag
Carlson erwirken, dass von der offiziellen deutschen Harry-Startseite der Link direkt zum Buchverlag geht - und da taucht dann nicht mehr, bildlich, der AOL-Harry auf, sondern sein
deutscher Cousin.
Erst auf Umwegen kommt man von AOL Time Warner zum gewissermaßen
britischen Original Harry mit der auch für normalsterbliche Muggels überaus attraktiven Möglichkeit,
Internet-Weckeulen an langschläfrige junge Harry-Potter-Fans zu verschicken.
Insgesamt erweist sich die
Buchbranche immer noch als erwartungsgemäß erstaunlich resistent gegenüber den aggressiven Gebärden des globalen Merchandising-Lizenznehmers AOL Time Warner. Das liegt vor allem daran, dass die Autorin J.K. Rowling ihre
Buch-Rechte bereits über ihren Agenten weltweit verdealt hatte, bevor in einem zweiten Fischzug auch alle
sekundären Rechte - also für Verfilmung, Vertrieb der Filme via Video, DVD, Umarbeitung auf Spiele, und letztlich Merchandising - verhandelt worden sind. Das machte die Autorin zu Britanniens Bestverdienerin und trieb einige der Käufer der sündhaft teuren Lizenzen, etwa den deutschen
Achterbahn Verlag, in den
Ruin.
Was aber lernen wir aus alledem? Zu den Wunderlichkeiten mag zählen, dass sich Christen oder Muslims wegen der Verführung von Kindern durch Zauberei oder wegen übermäßigen Konsums von Coca Cola
sorgen (weil Coca Cola mit Potter wirbt).
Aussagekräftiger über das Funktionieren von Kultur im Zeitalter von Information und Internet ist jedoch, wie sehr etwa junge, am globalen Medienmarkt
kaum noch präsente Nationen den globalen Medienkonzernen willkommene Bühnen darbieten, um darauf mit Inhalten wie Potter ein wenig vom Flair des globalen "Dazugehörens" zum
Discountpreis feilbieten können (
Slowakei).
Umgekehrt bietet ausgerechnet der französische Traditionsverlag
Gallimard nunmehr, ungeachtet des eigenen, vor einem Jahr selbst entwickelten Franco-Potter, kaum mehr als das
globale Posterbild feil. Der
türkische oder
norwegische Potter wurden unterdessen jeweils fortentwickelt, behutsam, mit vielen Anleihen und auf hohem Web-Design-Niveau den Anschluss an den global kompatiblen Harry suchend, doch letztlich mit jeweils
eigenständigem Profil. Da überrascht es wohl auch kaum mehr, wenn der
chinesische Potter sich, was Ikonen anlangt, längst kunterbunt aus aller Welt seine Anleihen zusammensucht.
Zu denen, die mit ihren jeweiligen eigenen Bildern vergleichsweise
zäh und ohne Abstriche gegen den übermächtigen Film-Harry hält, zählt der deutsche
Carlsen Verlag, aber auch, nur auf den ersten Blick überraschend, sein US-Kollege
Scholastic, der Inhaber der
US-Buchrechte und damit ein direkter Wettbewerber der Buchverlage von AOL Time Warner.
Kurzum, Kultur und Verwertung liefern einander harte Gefechte, fast wie in der "Kammer des Schreckens". Doch dies allein erhellt nicht wirklich die aggressive Diskussion auf der zweiten Ebene, da wo die
Lizenzinhaber systematisch gegen jeden mit
gerichtlichen Verfügungen vorgehen, der ihr Verfügungsrecht zu mindern scheint. In diesem Labyrinth musste nicht nur ein
deutscher Schulbuchverlag eine bittere Niederlage einstecken und seine Lernhilfen mit Harry aus dem Verkehr ziehen. Eine
britische Lehrerinitiative - "by teachers all over the world" - füllte ihre
"unofficial fan site" neuerdings statt mit zündende Unterrichtsstoff mit einem ganzen Baukasten von rechtlichen Hinweisen wie diesem: "The Harry Potter characters are trademarks of Warner Bros." Inzwischen ist sie geschlossen. Selbst ein
Potter-Lexikon auf der persönlichen
Hompage von
Rudi Hein fand keine Gnade. Die Lexikon-Artikel sind mittlerweile durch folgendes Urheberstatement ersetzt: "Out of
legal reasons beyond my understanding this dictionary must no longer be published in any form."
Wie wird es also weitergehen? Seit Monaten wartet die Welt gespannt auf den längst angekündigten
fünften Band, "Harry Potter and The Order of the Phoenix." Gerüchte um einen "writer?s block" - eine Schreibsperre - der Autorin werden mit immer neuen Pressemeldungen zerstreut. Nun sind, rechtzeitig vor dem Christkind, zumindest ein paar
Spickzettel angekündigt worden, genauer gesagt
"93 hingeworfene Worte", die kommenden Monat von
Sotheby's in London versteigert werden. Ausrufungspreis: 9.500 Dollar. Bereits freigegeben - und hier exklusiv im Perlentaucher in virtuelles
Blattgold gefasst - wurden mehr als ein Dutzend davon:
"Thirty-eight chapters ... might change ... longest volume ... Ron ... broom ... sacked ... house-elf ... new teacher ... dies ... sorry."
Diese Brosamen sucht man übrigens auf Harry Potters US-Website vergebens!