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Jetzt neu: Kultur als Gebrauchsware!

Von Rüdiger Wischenbart
09.02.2007. Die Zeit der alten Kulturindustrien geht zu Ende. Künftig werden wir nicht mehr Werk für Werk, Titel für Titel bezahlen, sondern für den Zugang zu Kultur.
Will man Neues sehen, so reicht es mitunter aus, kurz die Augen zu schließen, sich gut durchzuschütteln und zu drehen, und aus einem neuen Winkel auf all die selbstverständlichen Dinge rundum zu blicken.

1.

Mit frischen Sinnen nimmt man die Töne, die Bilder und die Texte, die den Tag wie auch weite Teile der Nacht über auf einen einwirken, plötzlich wahr als einen stetigen Strom von Inhalten. Die Rede ist nicht allein von den Werbebotschaften, von den grellen Signalen. Auch die kleinen und großen Stücke - die Werke, die differenzierten Botschaften und Aussagen, die originären und originellen Schöpfungen - umfließen uns ständig. Wir baden in allen wachen Augenblicken in einem niemals abreißenden Angebot aus Inhalten und Mitteilungen und wollen uns zumeist diesen Einladungen auch gar nicht entziehen. Wir haben gelernt, dies als kulturelle Grundausstattung der urbanen Räume anzusehen, in denen die meisten von uns leben.

Fährt man in der Londoner Undergound über eine der steilen, nicht enden wollenden Rolltreppen hinauf an den Tag, ziehen die oft witzigen Plakate der neuesten Musicals an einem vorbei wie ein Daumenkino, das signalisiert: "London swings for you".

Während man jedoch für jede Aufführung dieser Musicals noch eine Eintrittskarte lösen muss und Vorstellungen oft genug auch ausverkauft sind, ist Musik insgesamt - nicht nur als Kaufhausberieselung - seit mehr als 50 Jahren, seit der Einführung von FM Radio nach dem Zweiten Weltkrieg, so allseitig und immerzu präsent und verfügbar wie die Atemluft. Wer heute aufwächst, für den ist die gesamte Musikgeschichte -die prägende Musik der Eltern wie der Großeltern, die Stücke wie auch alle relevanten Aufführungen, also die künstlerische Klangwelt aller Menschen, die man kennt - auf Tonträgern konserviert, eingefangen und allzeit abrufbar. Es gibt keinen Ton mehr, den ein Wind verträgt.

Gleiches gilt für - bewegte wie stille - Bilder. Bizarre Gerichtsverfahren um Fotos, auf denen im Hintergrund Kunstwerke sichtbar sind und für deren Abbildung immer wieder einmal Rechte eingeklagt werden, machten die Allgegenwart der Kunstwerke über Bildmedien erst so richtig unübersehbar.

Ich könnte mich von da weg über Dutzende und hunderte weitere anekdotische Beispiele an den jüngsten Bruch herantasten, oder diesen jetzt gleich direkt ansprechen: Mit der Digitalisierung aller Inhalte, egal ob Bild, Ton oder Text, und deren grenzenlosen Vertrieb über das Internet wurden die bereits bestehenden breiten Flüsse zu einem breiten Strom zusammengeführt, der nie mehr abreißt, und der auch - wie jeder Fluss - täglich ein andrer ist, und vor allem erlebt wird als eine große, vereinigende Kraft, die uns täglich umgibt, selbstverständlich da ist und den Alltag umspült, ihn begleitet und auflädt.

Sobald es jedoch um den Wert dieser Inhalte geht, will man uns weismachen, dass - um noch einmal im Bild des Flusses zu bleiben - jeder einzelne Tropfen extra zu bezahlen sei.

2.

Die Idee des Werkes, wie sie in der europäischen Neuzeit ausgeprägt wurde, ist im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem Preisschild für jedes einzelne Werk verknüpft worden. Ein Buch, ein Bild, eine Konzertkarte (oder heute: ein Tonträger) repräsentieren das Werk und dessen Urheber auf untrennbare Weise und werden entsprechend abgerechnet, Stück für Stück. Davon erlösen die Mittler (die Verlage) und die Urheber ihren Anteil.

Wenn heute die Reproduktionen dieser Werke jedoch unzählbar geworden sind, wird dennoch weiter abgerechnet, Korn um Korn, Stück um Stück. Wobei genau dies gar nicht stimmt. Denn sobald es um den weiteren Begriff kultureller Werte geht, wurden - wiederum nicht zufällig seit dem Zweiten Weltkrieg, seit der großen Expansion von Kunst und Kultur in den Alltag hinein - auch ganz andere Modelle der Wertschätzung und Bepreisung angelegt: Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkangebote sind untrennbar mit einer (gewissermaßen gesellschaftlich begründeten Zwangs-) Abonnementgebühr finanziert. Wir zahlen für die Qualität - für den Wert - des Gesamtprogramms, egal ob uns alle Einzelangebote als wertvoll erscheinen oder nicht.

Die einzelnen Werke - Musik, vorgelesene Literatur, vermittelte Bilder - dürfen sich bei Radio und TV im medialen Strom und dessen Bewertung auflösen zum höheren Wohl des öffentlichrechtlichen Kulturauftrags. Wichtiger Nebensatz: Das beeinträchtigt absolut nicht, wie wir wissen, das Urheberrecht der einzelnen Autoren, Musiker und Künstler. Ganz im Gegenteil, sie haben ein für sie hochwertiges Umfeld mit dem öffentlichen Rundfunk gefunden. Und die Tantiemen werden aus den Gebühren via Verwertungsgesellschaften wie der Gema auf die Urheber verteilt. Seit rund 25 Jahren hat sich daneben ein zweiter Bereich für privat organisiertes, kommerzielles Radio und TV etabliert, das gewiss auch zum breiten Strom wesentlich beiträgt, auch qualitativ, aber auch dies wird in aller Regel bislang nicht pro Einheit (pro Sendung) abgerechnet, sondern entweder werbefinanziert oder, etwa bei Premiere, pro Kanal und Paketangebot.

Dieses über fünf medial bereits sehr dynamische Jahrzehnte gewachsene System wurde durch die Explosion der direkten Kanäle für digitalisierte Inhalte zwischen Urhebern und Publikum gehörig durcheinander gebracht. Was dann geschah, war reichlich paradox. Statt die wirtschaftlichen Modelle im Bereich Kulturmedien und kulturelle Inhalte weiter dem Prinzip des Stroms anzupassen, beharrten Musikkonzerne und andere Verlage - auf dem alten Modell des Werks und seines Preises pro Stück. Mehr noch, es wurde suggeriert, dass jede Auflösung dieses Modells zwangsläufig zu Lasten der Künstler (der Urheber) gehe, und - besonders bizarr - dass alle anderen Modelle die Vielfalt des kulturellen Angebotes gefährden würden.

Man muss dies vielleicht in Zeitlupe nachvollziehen: Die Tatsache, dass es immer mehr kulturelle Angebote gab, und immer neue Kanäle und, bei Lichte betrachtet, eine ganz bemerkenswerte Ausweitung des Publikums und der Wertschätzung all dieser Dinge, wurde als Krise und Bedrohung interpretiert, nur weil das bislang gültige Modell der Honorierung der Mittler (der Verlage) Umbruch und Expansion nicht nachvollziehen konnte und man sich weigerte, neue (oder, wie wir gleich sehen werden, auch alte) Alternativen auszuprobieren.

Dies aber ändert sich, seit wenigen Monaten, mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Vieles deutet darauf hin, dass 2006 das letzte Jahr der alten Kulturindustrien war, während 2007 als ganz normal wirken wird, dessen Gegenteil im Vorjahr noch heiliger Glaubensbestand und Gegenstand von Polemiken und gerichtlichen Massenklagen war.



3.

Als ich heranwuchs, kostete eine Vinyl-LP 180 Schilling oder 25 DM (oder 12,50 Euro). Eine aktuelle Pop CD (Norah Jones oder Madonna oder Tokio Hotel) kostet heute zwischen 12 und 20 Euro. Zugleich aber sind Angebot wie auch logischerweise die Preise für (Qualitäts-) Musik aus dem breiten Strom des Musikangebots immer breiter aufgefächert, alles ist verfügbar, neu und gebraucht. Neuerdings kommen immer mehr auch legal kostenfreie (Teaser-) Angebote hinzu. Der Preis pro Werk wurde sehr flexibel, und liegt je nach Aktualität, Kontext und User-Präferenzen zwischen einigem Geld und Null. Die Kosten für Produktion und Vertrieb (insbesondere online, als Download) sind im Vergleich zur Vinyl-Ära minimal.

Ganz ähnliches gilt für Bücher, allem besonderen Schutz durch Buchpreisbindung und symbolische Aufladung des Mediums Buch zum Trotz. Die Zeitungseditionen mit Massenauflagen von Qualitätsware um 5 Euro pro Band haben hier die alten Grenzen zwischen Einzelwerk und Content-Strom gesprengt. Mit der Digitalisierung von Büchern im großen Maßstab werden auch hier die entsprechenden Push-Angebote nicht lange auf sich warten lassen.

Im Handy-Tarif ist neuerdings der wöchentliche Download der Top 10 Musiktitel schon inbegriffen. Für die dramatische Zunft hat das Wiener Burgtheater als erstes die Schwelle überschritten: Wer Karten für zwei Shakespeare-Aufführungen kauft, bekommt auf den dritten Shakespeare neuerdings 20 Prozent Rabatt (das Angebot gilt nur für Shakespeare, nicht für Nestroy oder gar für Goethe - man erhält, wie beim Kaufmann, einen Shakespeare-Pass, der abzustempeln ist!).

Verfolgt man die aktuellste Runde an einschlägigen Debatten in der Musikindustrie - nicht die der wilden Independent Labels, sondern jene der großen Konzerne - hat man, aus einigem Abstand betrachtet, den Eindruck, als gäbe es nichts Hipperes als die Gebührenmodelle der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten aus den 60ern Jahre oder die ebenfalls nicht gerade brandneue Kopierabgabe (also den Kostenschlüssel, dass für jedes Fotokopiergerät ein Obolus zur Abgeltung der damit möglicherweise vervielfältigten urheberrechtlich geschützten Papiere und Texte und Bilder erhoben wird und zur Verteilung an die Urheber kommt). Das alte Modell der Kollekte von ein paar Cents hier und ein paar Euros dort, die, in Summe über der großen Menge ein erhebliches Einkommen für Urheber - die Schöpfer der Werke - zur Verteilung erlösen, wird neu entdeckt als Ausweg aus dem Dilemma der heillos sich selbst blockierenden Content-Industrien.

Was fällt Apples Kontrahenten zur Abwehr von iPod und iTunes ein (zwei technologisch geschlossenen Systemen, die strikte Grenzen für den freien Fluss von Musik und anderen Inhalten setzen)? Die Abschaffung der eben erst mit größtem Applomb eingeführten Schutztechnologien (DRM - Digital Rights Management), und stattdessen eine kollektive Abgabe auf jedes verkaufte Endgerät, oder - eben ventiliert beim jährlichen Stammestreffen der Musikindustrie, der Midem, Mitte Januar in Cannes- die Möglichkeit einer Abgabe, welche die Internet Provider einbehalten (mehr dazu hier, ein Dossier zur Idea Economy hier).

Jacques Attali, der französische Star-Ökonom und Musik-Fan, der eben eine Geschichte der näheren Zukunft vorlegte, prognostiziert, dass Musik innerhalb eines Jahrzehnts kostenfrei verfügbar sein werde. Nun, vielleicht nicht alle Musik, denn es gibt keinen Grund, warum man nicht zwischen dem aktuellsten Hit- und Star-Angebot und dem vielfältigen Rest preislich differenzieren sollte. Aber all das Viele (die viel beschworene Vielfalt) könnte der Grundstock für eine musikalische Basisausstattung werden, die nicht mehr Werk für Werk, Titel für Ttitel zu bezahlen ist.

Damit darf auch die Anschlussfrage nicht fehlen: Was ist mit Büchern, wenn einmal (also bald) einige Millionen Titel in vielen Sprachen und aus vielen Quellen digital prinzipiell verfügbar sind, mit anfangs unterschiedlichsten Lizensierungen, aber auch mit der Möglichkeit zu maschinenlesbaren Anweisungen, wie mit jedem einzelnen Buch umgegangen werden darf (denn eine digitale universelle Bibliothek darf natürlich auch neue - alte - Entlehnregeln definieren: "Werde Mitglied mit freiem Zugang", "Sei Schüler und verfüge über alles Wissen", "Mitarbeiter unserer Firma haben Zugang zum Wissen der Welt!").

Kurzum, Kultur in ihrer Breite, die Basis des allgemeinen (nicht des speziellen) Wissens, Musik, Bücher, all das fließt ein in einen breiten Strom der digitalen Inhalte. Ein Tonträger, ein Buch, eine DVD sind immer weniger als Produkte anzusehen, sondern als Gebrauchswerte oder, mit dem einfacheren englischen Wort, als Commodities.

Zu bezahlen ist künftig nicht für das einzelne Werk, sondern für den Zugang. Das bedeutet freilich nicht, dass all das gratis ist. Nur, die strafrechtlichen Prozesse gegen alle, die Musik "illegal" downloaden, werden bald angesehen werden als das, was sie tatsächlich sind: Relikte aus den Wirren des Überganges. Die Urheber gehen nicht leer aus. Schwierig wird es hingegen für die (insbesondere mittelgroßen) Verlage, für die ein Kippen des derzeitigen Business Modells nur mit hohem Aufwand und vor allem mit höchstem Risiko zu verkraften ist. Die ungleiche Verteilung der Zugänge bleibt eine Realität und eine gesellschaftspolitische Demarkationslinie von eher noch wachsender Bedeutung.

Kurz schütteln, Augen zu, Augen wieder auf: Das alles ist nicht Zukunftsmusik, sondern längst Realität. Es genügt meist, sich selbst unvoreingenommen und neugierig als Schwimmer im Strom der Bilder, Texte und Töne zu beobachten. Dann bemerkt man die Stromschnellen wie auch die Breite des Flusses (und dass diese Breite ebenso beeindruckend wie auch Erfurcht gebietend ist) ziemlich rasch.

Rüdiger Wischenbart (www.wischenbart.com)