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Indiana vs. Indien

Thomas Friedman und Lawrence Lessig über Innovation und Tradition. Von Rüdiger Wischenbart
20.09.2006. Wer in der Debatte um Innovation und Vielfalt, Aufbruch und Bestandsschutz mitreden möchte, muss zwei Bücher gelesen haben: Thomas Friedmans "Die Welt ist flach" und Lawrence Lessigs "Freie Kultur".
Schade, dass New-York-Times-Kolumnist Thomas L. Friedman ("Die Welt ist flach") kein Anwalt ist. Denn sonst könnte man sich eine prächtige und unterhaltsame Vorabend-TV-Serie mit ihm und dem Urheberrechts-Aktivisten und Anwalt Lawrence Lessig ausdenken, die vor einem leicht ungeduldigen, leicht zynischen Richter klug oder auch brillant über jene wichtigen Dinge streiten, die sonst so langweilig und besserwisserisch verhandelt werden: Wohin sich diese Welt bewegt - oder, noch schlimmer, was es mit dem radikalen Wandel der Kultur auf sich hat.

Friedman ist der Sendbote des optimistischen liberalen Amerika, der Veränderungen stets als Chance begreift und, ausgestattet mit scheinbar unbegrenztem Zugang zu den wichtigsten Machern der Welt auf sechs Kontinenten, stets die Nase im Wind des schon morgen Machbaren und deshalb auch Wünschenswerten hat. Und Friedman hat einen Sinn für eine gute Pointe - was ihn, neben vielem anderen von den Neo-Cons in der Umgebung von US Präsident Bush, so recht unterscheidet.

Zum Beispiel beim Thema Abwanderung von Arbeitsplätzen aus den USA in die unüberschaubaren Billigzonen einer kompliziert gewordenen Welt: Das Arbeitsamt im US Bundesstaat Indiana, erzählt Friedman mit unbändiger Freude am Witz, habe unlängst die Runderneuerung seines kompletten EDV-Systems ausgeschrieben. Eindeutiger Gewinner - nach Qualität und Preis - war die New Yorker Niederlassung eines indischen IT-Unternehmens. Dies aber konnte, meinte die Lokalpolitik in Indiana, so nicht sein und änderte die Gesetze zugunsten der einheimischen Bieter - und gegen Indien. Friedman fragt deshalb, wer nun davon den größeren Schaden davontrage, die - hoch entschädigte - ausgebootete Firma aus Indien, oder die Bevölkerung von Indiana, die via Steuern auch noch für mindere IT-Qualität teurer zu zahlen habe. Als Nachsatz fügt Friedmann dann noch an: Nichts könnte besser illustrieren, dass die neuen Wundernationen Indien oder China längst nicht mehr nur die Werkbänke für den Westen liefern, sondern demnächst auch die Impulse zur Innovation.

Das Stichwort ist also die grundlegende Veränderung der Welt, und was dies für uns bedeuten kann. Wir müssen keineswegs "angelsächsischer" werden, zitiert Friedman den Herausgeber des globalen deutschen Intelligenzblattes FAZ, Frank Schirrmacher, sondern reeller. "Having an encounter with reality" nennt Friedmann das. Die Pointe an diesem Zitat ist allerdings, dass Friedman es nicht zur Einführung über ein Kapitel zu Europa heranzieht, sondern für "Developing Countries and the Flat World".

Genau an dieser Schwelle steigt nun Lawrence Lessig mit seinem neuen Buch über Wesen und Zukunft der Krativität "Freie Kultur" (Englisch: "Free Culture") in die Debatte ein, um - obwohl selbst ein Kopf der Zukunft - Friedman, dem Zöpfeabschneider und Ankläger gegen alles Rückständige, Einhalt zu gebieten.

Bei den Zöpfen - oder dem EDV System - von Indiana wären sich die beiden zwar rasch einig. Aber Lessig würde, scheinbar konservativ, auf komplizierte kulturelle Traditionen zu sprechen kommen, die man nicht im Namen der Zukunft (und Hoppla Hopp) über den Haufen werfen dürfe, also das ganze Geflecht aus gewachsenen Überzeugungen und Werten. "Free culture", stellt Lessig schon im Vorwort klar, leite sich nicht von "Freibier" her, sondern von "Freier Rede" oder Meinungsfreiheit.

Freie Kulturen, so lautet Lessigs Kernargument, ließen eine ganze Menge offen. Das geistige Eigentum - also Copyright, Urheberrecht, diese von Lobbyisten und Anwälten nahezu allein umkämpfte spröde Materie - seien dabei das entscheidende Schlachtfeld. Mit Lessig und Friedman gewinnt dieser Stoff, der bei uns nur in Positionspapieren kursiert, das Zeug zum Thriller.

Die Neuerungen, die im Windschatten der neuen Informationstechnologien und des Web 2.0 Gestalt annehmen und die Lessig wie Friedman im Kern diskutieren, bieten nicht nur unglaubliche neue Potentiale zur Veränderung (Motto: Indien vs. Indiana). Sie wurden zugleich, auf Druck der Inhaber von bestehenden Rechten an geistigem Eigentum, zum Gegenstand so heftiger Reglementierungen, dass dadurch - so Lessig - geradezu abgeschnürt wird, woraus Innovation, Erneuerung und Veränderung (Verbesserung) im besten Fall ihren Impuls beziehen.

Was Lessig in seinem Buch über die freie Kultur liefert, ist eine faszinierende Chronik, wie ein ursprünglich sehr präzise die Erneuerung und den Erfindergeist umsichtig begleitendes Gesetz zum Schutz von Urheberrechten innerhalb weniger Jahrzehnte so aufgebläht wurde, dass es sich ins glatte Gegenteil, nämlich in ein massives Hemmnis gegen Innovation, verwandelt hat.

Der Schutz des geistigen Eigentums - das Urheberrecht - sollte einst Plagiate von gedruckten, verlegten Büchern verhindern helfen, und war entsprechend gar nicht aufs ganze Werk, sondern allein auf dessen Druckfassung begrenzt. Mittlerweile wird jeder Einfall, noch bevor klar ist, was in ihm stecken könnte, mit einem Stacheldraht von Protektion versehen - was höchstens im Interesse jener Industrien liegt, die daraus möglicherweise irgendein Produkt ableiten könnten - oder auch nicht.

Lessig präsentiert dazu mit Verve historische Vergleichsbeispiele, die - im Sinne von Friedmans Fallgeschichte von Indiana vs. Indien - zeigen, wie absurd die aktuellen Zuspitzungen in einer weiteren historischen Perspektive erscheinen.

Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa die Fotografie erfunden wurde und außergewöhnlich rasch populäre Verbreitung fand, wurde nach kurzer Unsicherheit den Fotografen zugestanden, das Bildnis, gewissermaßen im Vorübergehen und ungefragt, von Personen und Dingen zu "nehmen" und dessen Kopien zu verbreiten. Dies war nicht selbstverständlich, und der Gedanke, dass die individuelle Person Rechtsschutz verdiente, war eben dabei sich auszuprägen. Es gab entsprechende Gerichtsverfahren - die damals zugunsten der frühen "fotografierenden Piraten" entschieden wurden, und Lessig überlegt kurz, was es für die demokratische Kunst der Lichtbildnerei bedeutet haben würde, hätte jeder Fotograf das Einverständnis aller Personen nachweisen müssen, die er oder sie auf der Straße abgelichtet hat.

Wir sind rasch wieder bei Friedman und seinem Fortschrittsoptimismus: Was für eine seltsame Form des patriarchalischen, argwöhnischen Weltbilds würde entstehen, wenn zur Verantwortung gezogen - und tausendfach verklagt! - würde, wer auch nur Werkzeuge offeriert, mit denen zumindest theoretisch Besitzverhältnisse gestört werden können. Dies ist beim Urheberrecht längst die gängige Praxis, wenn verklagt wird, wer auch nur die Möglichkeit zum Urheberrechtsbruch via Internet offeriert, oder wer - wie in den USA - auch nur eine Suchmaschine baut und anbietet, die das Aufspüren von urheberrechtlich geschützten Daten auf einem Universitätscampus möglich macht (während das eigentliche Ziel war, den Austausch von vorwiegend legal austauschbaren Dateien zu erleichtern).

Bemerkenswert ist natürlich, dass sich Lessig, dem als prominentem Aktivisten vorgeworfen wird, für Anarchie und gegen Eigentum zu polemisieren, selbst ganz klar in eine typisch amerikanische Tradition des Bewahrens einreiht. An die Natur der Kreativität appelliert er in Nachfolge all jener, die die 'naturgegebenen' Werte verteidigen, wie etwa der Patron aller amerikanischen Ökologen, Henry David Thoreau. Und Lessig besteht darauf, dass er als Anwalt das Recht am - gerade auch geistigen - Eigentum entschieden hochhalte - als Voraussetzung für Innovation, Erfindergeist und Demokratie.

Werden jedoch die Verfügungsrechte und somit die Möglichkeiten, zur Weiterentwicklung und Erneuerung an Bestehendes anzuknüpfen, immer weiter eingeschränkt - und da beginnt der Thriller in diesem Fall -, dann wendet sich das Blatt relativ rasch gegen alle Innovatoren. Was bleibt, ist die Herrschaft der jeweils stärksten und best dotierten Rechtsabteilung - und nicht das Gemeinwohl.

Indiana vs. Indien ist das perfekte Beispiel dafür, was schief gehen kann, wenn "berechtigte Interessen" einer Lobby mit Bestem gegen alle Welt in Stellung gebracht wird.

Beide Bücher sollten Pflichtlektüre sein für Politiker, Medien und alle Interessierten, die sich mit dem Streit um Innovation und Vielfalt, Aufbruch und Bestandsschutz nicht nur im Bereich der Kultur beschäftigen.

Dass ausnahmsweise nicht nur der globale Bestseller des New-York-Times-Kolumnisten Friedman, sondern auch der vergleichsweise auf einen schmalen - wenn auch besonders wichtigen - Bereich fokussierte Essay von Lessig in deutscher Übersetzung vorliegt, ist ein seltener Glücksfall. Ab jetzt gibt es also auch für die Debatte hierzulande keine Ausrede mehr: Auch ein so sprödes Thema kann spannend nachzulesen sein.