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Habermas, die Medien, das Internet

Von Robin Meyer-Lucht
04.06.2008. Die demokratische Öffentlichkeit hängt nicht davon ab, dass ihr von ihren traditionellen Inhabern in den etablierten Medien mitgeteilt wird, was sie denken soll. Anders als Jürgen Habermas glaubt, emanzipiert sie sich erst im Internet.
Wie sehr sich die Praxis von Öffentlichkeit im vernetzen Mediensystem verändert, wird einem dann bewusst, wenn man einem der alten Männer der analogen Ordnung begegnet: Thomas Leif oder Bernd Neumann, zum Beispiel.

Der SWR-Chefreporter Thomas Leif hat zu seinem Einseitigkeitssmashhit "Quoten, Klicks und Kohle" (mehr hier und hier) einen kleinen Vorspann für das Internet produziert. Darin verspricht Leif dem Zuschauer, er werde in dem Film "alles zur digitalen Medienrevolution" erfahren. Leif gibt den allwissenden Alleinunterhalter, der ein kritisches Publikum nicht achten muss - und inszeniert so ein fast schon perfektes Genrebild des zu Arroganz und Eitelkeit neigenden Journalismus klassisch massenmedialer Prägung.

Als Kulturstaatsminister Neumann vor gut einem Monat zum Start der "Nationalen Initiative Printmedien" einlud, entspann sich ein sehr lehrreiches Stück über Beharrungstendenzen und unterschwelligen Wandel der Medienordnung. Neumann wollte mit der Veranstaltung im Bundeskanzleramt für die unverzichtbare Rolle von Printmedien als "politischen Leitmedien" und Trägern einer diskursiven Öffentlichkeit werben. Aus den Festreden, gehalten von Welt-Chefredakteur Thomas Schmid und Zeit-Redakteurin Susanne Gaschke, stach dann jedoch etwas ganz anderes hervor: Beide stützten sich in ihren Beiträgen auf die Thesen von Eric Altermans Essays "Out of Print" aus dem Magazin New Yorker - einem Text, den Schmid und Gaschke natürlich aus dem Internet hatten.

Deutschland tut sich nach wie vor schwer damit, die Ressentiments gegenüber dem Internet als scheinbar chaotisches, zersplittertes und desorientierendes Medium aufzugeben. Im Gegenteil: Hierzulande ist man von einer (möglichst von systemisch-ökonomischen Zwängen befreiten) massenmedialen Öffentlichkeit als überlegenem diskursiven Modell tief überzeugt. Keiner steht dafür paradigmatischer als natürlich - Jürgen Habermas. Der massenmediale Austausch von Standpunkten und Argumenten ist für Habermas bekanntlich die Grundlage der öffentlichen Meinung.

Dem Internet misstraut der 79-jährige Habermas noch immer, wie seinem im Frühjahr erschienen Essay-Band "Ach, Europa" zu entnehmen ist. Das Internet befördere die Fragmentierung des "gleichzeitig auf gleiche Fragestellung zentrierten Massenpublikums". Es "unterminiere" die nationalen politischen Öffentlichkeiten. Habermas meint, das Netz zerfalle in desorganisierte Teilöffentlichkeiten: "Vorerst fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren."

Habermas kapituliert hier vor der Aufgabe, seine deliberativen Öffentlichkeitsmodelle an das Internetzeitalter anzupassen. Ihm sei das mehr als verziehen. Auf ihn gestützt aber frönen hierzulande viele reichlich phlegmatisch ihren Internet-Antipathien (mehr hier). Die Politik mag das Internet nicht, weil sie es nicht versteht. Sie mag die Massenmedien, weil sie dafür Kontrollapparate entwickelt hat. In diesem Punkt unterscheiden sich Politik und Verlagswesen kaum. Aber schon der nächste Bundestagswahlkampf könnte die Befindlichkeiten verändern.

Die positive Einlassung auf das Internet, die Habermas geschrieben hätte, wenn er dreißig Jahre jünger wäre, hat wenig überraschend, ein US-Amerikaner für ihn geschrieben: Yochai Benkler (Website). In seinem Buch "The Wealth of Networks" (Online-Edition) beschreibt Benkler, dass eine deliberative Öffentlichkeit auf fünf Prinzipien beruhen müsse: allgemeiner Zugang, Filter für politische Relevanz, Filter für die Zulassung von Akteuren, Synthesemechanismen für eine "öffentliche Meinung" und Unabhängigkeit von Regierung. Die vernetzte Diskursökonomie des Internets könne dies in hohem Maße bieten, ohne - wie von Habermas vermutet - in Fragmentierung, Desintegration und Informationsüberlastung abzugleiten. Es würden sich im Netz vielmehr "zunehmend Praktiken abzeichnen, die zu einer kohärenten Informationssphäre führen, ohne die Modelle der Massenmedien zu replizieren." (Hier ein Interview mit Benkler auf netzpolitik.org.)

Was Benkler beschreibt, erleben wahrscheinlich die meisten Leser dieser Kolumne täglich selbst: Es bilden sich zunehmend Praktiken einer digitalen Meinungsbildung und Informationsvermittlung heraus. Sie bewirken, dass sich das eigene Bild von Öffentlichkeit wandelt. Man informiert sich spezifischer und schöpft dabei zugleich aus einer viel breiteren Quellenlage. Der Kreis, der an der medialen Öffentlichkeit Teilnehmen, hat sich ganz erheblich vergrößert. Gesellschaftliche Nachrichten- und Informationsverarbeitet gerät immer mehr zu einer Many-to-Many-Kommunikation. Eine so organisierte Öffentlichkeit ist, anders als Habermas nahe legt, eine extrem wertvolle Ergänzung zu den klassischen Massenmedien. Die Vorteile des Internets als Träger der öffentlichen Meinungsbildung werden in der Praxis täglich spürbarer.

Das Internet schafft eine neue Informationslogistik von Aussage-, Filter- und Synthesemechanismen. Im Ergebnis bewegt sich das Mediensystem weg vom Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners hin zu mehr persönlicher Relevanz. Im visionären Kurzfilm Epic 2015, den man sich immer mal wieder anschauen sollte, heißt es an einer Stelle: "news is more relevant than ever before". Genau darum geht es: Nachrichten werden persönlicher. Wer im Internet surft, hat immer eine Frage.

Wer so durch Informationen wandelt, dem kommt das Delirium der klassischen Themenmoden in den Massenmedien und die inszenierten Soaps um Politiker-Konflikte zunehmend fragwürdig vor. Die tradierten Rituale des Journalismus ermüden das junge, internetaffine Publikum zunehmend (mehr hier).

Es entsteht eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt, ihre Diskurse auf ganz unterschiedlichen, vernetzten Plattformen zu führen - eine multiagorale Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit vielen digitalen Diskursplätzen, die Facebook, StudiVZ, Perlentaucher, oder Turi2 heißen mögen. Die Verwobenheit und Redundanz der Diskurse und Filtermechanismen sorgen dafür, dass mediale Öffentlichkeit spezifischer und facettenreicher abgebildet werden und überhaupt erst entstehen kann. Die ganz große Bühne der Massenmedien ist für diese Prozesse extrem fruchtbar, aber sie kann die wünschenswerte Komplexität der Diskurse schon lange nicht mehr verwalten. Die Informationsökonomie des Internets schafft dabei zugleich mit ihrer niedrigen Kostenstruktur auch die Grundlage für ein stärkeres Gewicht von nichtökonomisch motivierten Akteuren. Ein Aspekt den Habermas stets gefordert hat.

So gesehen ist es reichlich rückwärtsgewandt, wenn ein Kulturstaatsminister im Jahr 2008 eine Tagung veranstaltet, auf denen Reden gehalten werden, die mit den Worten beginnen: "Liebe Freunde der Presse, liebe Freunde der Demokratie".

Robin Meyer-Lucht