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Der Kassandra-Chor

Von Rüdiger Wischenbart
03.05.2002. Man wird es immer schon gesagt haben: Die Verlagsszene wird sich weiter konzentrieren. Die Mitte bricht weg. Keine Überraschung!
Mein aktuelles Schreckwort lautet: "Es hat keine Überraschungen gegeben."

Es hat tatsächlich keine Überraschungen gegeben, als dieser Tage mein Computer eine Generalsanierung benötigte, ich ein braver Junge sein wollte und vor der Operation alle Daten sicherte - und am Ende all die schönen Fotos aus Paris verlor, nicht wegen irgendwelcher technischer Schweinereien, sondern weil ich zu schusselig war.

Es gibt keine Überraschungen, weil wir, in diesem und in jenem, immer schon vorgewarnt sind, weil alle - oder zumindest fast alle - immer schon haarklein vorausgesehen haben, was da auf uns zukommen wird. Wir müssen uns Kassandra als einen riesengroßen Chor vorstellen.

Das ist jetzt nicht nur so eine Redensart. Erinnern Sie sich an die New Economy? Jeder einzelne Börsenanalyst der Welt hat irgendwann ein kritisches Statement dazu abgegeben, das sich in der Zwischenzeit auch bewahrheitet hat. Weshalb dann trotzdem alle Geld verloren haben, satt noch dazu, ist nicht unser Thema.

Es hat keine Überraschungen gegeben. Und das gilt nun, demnächst, oder sogar schon hier und heute, auch für die Kultur.

Dieser Tage nahm ich an einem Seminar der Fachzeitschrift Buchmarkt über "turbulente Zeiten" für Verlage teil, wo die Hypovereinsbank als Gastgeber (Ende der Werbedurchsagen!) eine sehr aufwendige Studie über die "deutsche Medienindustrie" mit der Warnung einleitete: "Es hat keine Überraschungen gegeben."

Betretenes Schweigen. Nicht im Publikum - da gab es erwartungsvolles Rascheln. Sondern auf Seiten Kassandras. Denn jene Prognosen, die wir alle schon seit Jahr und Tag kennen, die längst keine Zeitung mehr abdruckt, die nicht einmal mehr als Seminarthema (für Studenten oder selbst auf Führungsschulungen) taugen, werden vor unseren Augen nun Wirklichkeit.

Ich habe mir eine Zahl im Original-Stichwort-Stil der Powerpoint Präsentation notiert: "Marktanteil der zehn größten Verlage wird sich in den nächsten Jahren von 35 Prozent kontinuierlich Richtung 80 Prozent bewegen."

Die Aussage selbst steht im Kern nicht wirklich zur Diskussion, sondern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt. Das Problem stellt sich, ganz wie bei meinen Paris-Fotos, erst ein, wenn die Prognose zur Wirklichkeit wird. Was ist, wenn tatsächlich verschwunden ist, was es laut Vorhersage bald nicht mehr geben soll?

Das "Ende" - das Ende der Bücher, der Literatur oder der Kultur, je nach Gusto - bricht gewiss nicht aus. Da ich selbst nicht zum Maschinenstürmer oder zum Kulturpessimisten tauge, entging mir auch nicht das folgende Kleingedruckte der datenreichen Prognosen. Die tägliche Aufmerksamkeit für Medien, und damit auch für Kultur, wächst demnach immer noch. Nur kämpfen immer mehr Anbieter auf immer mehr Kanälen um diese Aufmerksamkeit, wovon immer noch höchstens Fernsehen und andere bewegte Bilder profitieren, während es für "Publishing" - weil ohnedies schon viel zu viele Bücher übers immer gleiche dabei rumkommen - "keine Wachstumspotenziale" gibt.

Ich entschuldige mich für die Menge an Umfrage-Jargon und kehre zum Thema "Überraschungen" zurück. Da gibt es nämlich nun wenigstens zwei Probleme:

Erstens, dass die Vorhersage stimmt. Mehr dazu später.

Zweitens: Aufregenderweise lebt unser kulturelles Leben seit wenigstens zweihundert Jahren davon, dass es Überraschungen gibt. Die Premiere! Die Uraufführung! Die Neuerscheinung! Das Manifest!

Gott, was haben die einen an Energie reingesteckt, die jeweilige Revolution, also die Verbesserung der Menschen und die Veränderung der Welt, zu verkünden, während sich die anderen, von der Kirche bis zum Zensor Staat, dagegen stemmten, auf Gedeih und Verderb. Die Ahnväter der großen und auch der kleineren Verlage etwa, Samuel Fischer, Ledig Rowohlt, Peter Suhrkamp, Vito von Eichborn, Gerd Haffmanns, waren doch allesamt Eiferer, die nur eines wollten: Zu überraschen mit dem nächsten, alles umwälzenden Wort!

Ihre Häuser, zumeist nun in den Händen dienstfertiger und gutausgebildeter Nachfolger, stehen nicht nur nach Meinung der Bank-Studienautoren, rundum zur Disposition und haben ein Problem: "collapse of the middle" - oder, in der Kürzelsprache der aktuellen Studien, ein halbes Jahrhundert nach Sedlmayr und Jahrzehnte nach Octavio Paz, jeweils wortgleich: "das Verschwinden der Mitte".

Oder andersrum ausgelegt: Während die ganz Großen und die ganz Kleinen weiter ums Überleben kämpfen, fallen, übrigens in allen kulturellen Sparten, zunehmend jene Mittelklasse und jener inhaltliche Konsens aus, die bislang den Grundstock des kulturellen Lebens, mit immer neuen Talenten, mit wirklichen und mit vermeintlichen genialischen Interventionen und somit mit immer neuen Überraschungen getragen haben.

Die wirklichen und die vermeintlichen Talente werden darüber nicht weniger, und deshalb verschwindet auch nicht die Kultur! Bei den Talenten aber werden die Erfolgreichen und der Rest immer rascher und schärfer voneinander geschieden. Und der Kultur widerfährt, auch bei der Qualität, der "collapse of the middle", und alle wissen atemberauschend rasch, wo die Erfolgreichen stehen, und wo der Rest. Überraschungen werden rar.

Ich denke, wir ahnen alle noch nicht so recht, wie radikal anders eine Kultur sein wird, in der das Mittelmaß kaum noch existiert, und in der folglich kaum noch Überraschungen - "Entdeckungen" - für andere Menschen als für professionelle Agenten und Scouts erlebbar sind.

Das heißt, am anderen Ende der Wahrnehmungskette, natürlich auch, dass, wer immer eine Überraschung landen muss, nur auf eine irrsinnige Explosion setzen kann. Aber auch das wurde, lange vor Erfurt und vor dem 11. September, klar prognostiziert.