Virtualienmarkt

Das Benzin des Internets

Von Robin Meyer-Lucht
14.12.2007. Gebt mir mein hierarchisches Mediensystem zurück! Printjournalisten befürchten den Tod des "guten Journalismus" durch das Web 2.0. Gleichzeitig wird ein Blogger zum Journalisten des Jahres gewählt. Während der Diskurs rauscht, verdient Google geräuschlos an Millionen deutscher Nutzer je 3 Euro im Monat.
Die Digitalisierung ist ein inhärent zyklisches Geschäft. Sie kommt in Wellen. Ihre Domestizierung folgt dabei dem immer gleichen Schema: Zunächst ist da eine neue Technologie, die einen neuen Möglichkeitsraum eröffnet. In diese erfahrungsarme Zone wird viel hineingeheimst. Irgendwann läuft der Möglichkeitsraum mit Erfahrung voll. Es kommt zu Wertberichtigungen und am Ende steht ein realistisches Bild der neuen Anwendung.

Für den mit Web 2.0 betitelten Möglichkeitsraum wurde in diesem Spätherbst ganz sicher die Phase seiner Vermessung übergegangen. Die Interventionen von Frank Schirrmacher (FAZ) und von Bernd Graff (SZ) sind hierfür die sichtbarsten Zeichen. Die 2.0-Euphorie erscheint nun geschwächt genug, um sie geräuschvoll von jeglicher Verklärung zu befreien. Bei Graff kumuliert dies in atemberaubend strukturkonservativer Rechthaberei jenseits jeglichen differenzierenden Debattenbeitrags. Hinter jedem Absatz wimmert es: Gebt mir mein hierarchisches Mediensystem zurück.

Graff und auch Schirrmacher treibt die Angst um den Entropie-Tod des Journalismus im Netz. Sie fürchten, der "gute Journalismus" könne im partizipativen Rauschen untergehen oder relativiert werden. Der tatsächlich beschwerliche Weg zu einer neuen Informationsökonomie des Digitalen wird so zu einer Verlustgeschichte umformuliert.

Diese Figur tritt ebenfalls zyklisch auf. Anfang der neunziger ereiferte sich Neil Postman über das nicht mehr intakte "Immunsystem der Informationssysteme", welche die Gesellschaft mit kontextloser Information überfluten würden ("Das Technopol"). Ende der Neunziger beschwor der Politologe Bernd Guggenberger das "digitale Nirwana", dessen "Datensondermüll" nach dem Prinzip einer Reduktion auf das Wissenswerte entsorgt gehöre ("Das digitale Nirvana"). Derartige informationsökonomische Beklemmungen lösen sich nach einiger Zeit wieder, weil sich neue Filter- und Hierarchiesysteme durchsetzen.

Derweil sickert die Diskursökonomie des Web 2.0 weiter munter gesellschaftlich ein. Im Netz entstehen zunächst nur auf den zweiten Blick und mit einiger Nutzungserfahrung erkennbare, wohl geordnete "issue publics". Selbst ehrwürdige Branchenverbände scheuen sich in Newslettern inzwischen nicht mehr, auf Blogs zu verweisen, wenn dort die treffendere Einordnung von Meldungen zu finden ist.

Mit Stefan Niggemeier nun ist auch noch ein Journalist in seiner Funktion als Blogger zum "Journalisten des Jahres" gewählt geworden. Die Jury sagt damit indirekt Interessantes zum Verhältnis von Blogs und Journalismus: Ein in der Profession bewanderter Blogger kann den journalistischen Idealen von Unbeugsamkeit, Beharrlichkeit und Eigensinnigkeit mindestens ebenso nahe kommen, wie dies derzeit im klassischen Verlagsumfeld möglich ist. Es macht nichts, wenn man damit kein/kaum Geld verdient. Es macht nichts, wenn man dabei Fünftausend oder so Leser pro Tag hat. Es geht um das Ergebnis. Der Journalismus-Begriff ist damit zu Recht stark erweitert worden.

2007 ist auch das Jahr, indem viele 2.0-Ideen an Faszination verloren haben. Betrachtet man die Liste der interessantesten Startups bei Peter Turi, dann kann man sich der einsetzenden Langeweile kaum erwehren. Das Web 2.0 altert schnell.

Der große Star der zweiten Welle des Webs bleibt Google. Die Suchmaschine erreicht nach den neuesten Zahlen aus Allensbach hierzulande inzwischen 27,6 Millionen Nutzer pro Woche und damit 55 Prozent der Bundesbürger zwischen 14 und 64 Jahren. Wenn man grob überschlägt, dass Google in diesem Jahr rund eine Milliarde Euro Umsatz in Deutschland macht, dann kommt man auf 36,20 Euro pro Nutzer im Jahr - oder ziemlich genau rund 3 Euro pro Nutzer im Monat. Das Erstaunliche: Fast niemand, mit dem man spricht, kann sich vorstellen, dass Google mit ihm als Nutzer Geld verdient - schon gar nicht 36 Euro pro Jahr. Googles Geschäftsmodell ist für den Endkonsumenten "geräuschlos", vorsichtig formuliert.

Der Technologie-Journalist Nicholas Carr hat einen sehr einsichtsvollen Text über die Google-Ökonomie geschrieben. Er analysiert die Suchmaschine und die Inhalte, die sie erschließt, als Komplementärgüter. Wirtschaftsgüter dieser Art werden gemeinsam nachgefragt, weil sie sich ergänzen - wie Hotdogs und Senf oder Autos und Benzin. Typisch für Komplementärgüter ist, dass die Nachfrage nach dem einen Gut nachlässt, wenn der Preis des anderen steigt. Entsprechend groß ist das Interesse der Produzenten an einem niedrigen Preis des jeweils anderen Komplementärgutes. Analog lässt sich zeigen, dass Google an kostenlos verfügbaren Inhalten im Netz etwa genauso stark interessiert ist, wie die Auto-Industrie an günstigem Benzin. Vor diesem Hintergrund bekommt die Entscheidung der New York Times, ihr Archiv zu öffnen, einen neuen Beigeschmack.

2007 wird zudem als das Jahr in die Geschichte des Medienwandels eingehen, in welchem Michael Hanfeld mit großer Geste in der FAZ vor der "Enteignung der freien Presse" in Internet durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten warnte. Das Internet führt zu einer Renaissance der Medienpolitik, weil es auch die Rollenverteilung im Dualen System infrage stellt. Deren Neuverhandlung produzierte in diesem Jahr viel Lobbyisten-Lärm, aber noch keine Entscheidungen. Die werden wohl Mitte nächsten Jahres fallen, wenn der elfte Rundfunk-Änderungsstaatsvertrag Konturen annimmt.

Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben sich schon einmal tief eingegraben: Im jüngsten Jahrbuch der ARD (pdf) wird das Gebührenurteil des Bundesverfassungsgericht als "Magna Charta des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" gefeiert: Bislang sei Karlsruhe nur von der Möglichkeit des Marktversagens im Rundfunksektor ausgegangen. Im 2007er Urteil habe das Gericht "die vielfaltsverengende Wirkung des Marktes" nun hingegen "positiv festgestellt". Mit anderen Worten: Marktversagen im publizistischen Wettbewerb könnte als verfassungsrechtlich geschützte Grundannahme der Medienpolitik gelten.

Hier lohnt sich ein Blick in Abschnitt 117 des Gebührenurteils. In seiner Diskussion der ökonomischen Eigenschaften des Rundfunks stützt sich das Gericht auf zwei Quellen: Die eine ist ein Lehrbuch, die zweite ist eine Studie im Auftrag der ARD.