Tagtigall

Hier dribbelt die Faktizität

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
03.07.2020. Engel in den Horen, Korrespondenzen zu Barbara Köhler, Tomasz Różycki über die Glocke, die wir die Welt nennen, in der Mütze, und Ulf Stolterfohts Sätze bahnen sich einen Weg zu eingebauten Soldaritätsgespenstern.
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I.

Spitznamen haben etwas Magisches. Nehmen wir die "schwangere Auster" - so machten sich in den 1960er Jahren die Berliner die aus den USA importierte Moderne vertraut. Oder die "Waschmaschine", der Name, mit dem das Bundeskanzleramt in Berlin begrüßt wurde. Die neueste Schöpfung, die ich in dieser Hinsicht hörte, ist "das Pickelding". Tatsächlich erinnern die zahllosen roten Antennchen auf dem feuergelben Ball, der uns seit Monaten Tag für Tag im Fernseher begrüßt, von Ferne an Pickel. So hat auch die Pandämie ihre Spitze weg. "Pickeldingern" braucht man keinen Krieg zu erklären, aber man lebt bekanntlich ganz in ihrem Bann. Nur zu gerne würde man sich derzeit die tödliche Realität von Corona ein wenig kleinreden. Klappt aber nicht. Viren sind Teufelszeug.

II.

Auch Engel sind Wesen, die man nicht zu Gesicht bekommt. Aber sie sind unter uns. Wer möchte nicht einen Schutzengel haben? So hat die Literaturzeitschrift die horen in ihrer Frühjahrsnummer ein Engel-Dossier gemacht.

Zu den schönsten Engelerscheinungen darin gehört das lyrische Prosastück "engelgleich nämlich ein joint" von Friederike Mayröcker, getippt auf ihrer "Hermes Baby". Kein Buchstabe gleicht hier dem Anderen. Im Text selbst erzählt ein Ich, die Hebamme habe sie, kaum dass sie zur Welt gekommen sei, in die Lüfte gehoben und dabei "Engelgotteskind" gerufen. Ein Spitzname fürs Leben.

das unfaszbare (das blutige) war geschehen : ich war geboren : es hatte mich vorher noch nie gegeben, wie in einem Märchen umschwebten mich die guten Feen und die schönen Engel = die violetten Fittiche des Albrecht Dürer, ich erinnere mich nicht an mich, ich erinnere mich nicht an diesen Tag ich sprach mit Engelszunge; 6 Jahre später kam ich zu den Englischen Fräulein : sie lehrten mich das Lesen und das Schreiben was mich glücklich machte in diesem unaufhörlichen Wald ............ eigentlich waren Pierre Bonnard's "Pflaumen und Trauben" (1907 / 1908) violette Sträusse von Engelchen, usw., ich weidete in Poesie nämlich ich war nicht von dieser Welt,

Ja, jedes Ich ist einzig; die guten Feen und die schönen Engel umschweben es. "Engelgotteskind" eben. Wie aber, so fragt man sich, fanden sich die violetten Fittiche hier ein? Und das Fragen geht weiter: Wann eigentlich beginnt Erinnerung, und wann die Fantasie, die Engelszunge, die uns sagt, dass es etwas anderes gibt als das Von-dieser-Welt-Sein? Die Fantasie jedenfalls, sie eilt uns voraus - welchen Schritt täten wir schließlich ohne sie? Auch die Englischen Fräulein trugen ihren Namen nicht zu unrecht, da sie dem Kind die himmlische Zunge nicht austrieben, so dass das Ich noch heute beim Durchstreifen des Buchstabenwaldes lauter Mayröckersprünge springt. Wie gut, dass nichts folgerichtig ist und auch wir keine Folge sind.

III.

In derselben Nummer der horen gibt es ein Dossier zu der Dichterin Barbara Köhler ("Korrespondenzen I"). Es beginnt mit einem von ihr verfassten Buchstabenquadrat, "Eckstein, sexy" betitelt. Darin heißt es:

Das generische maskulinum ist ein versteck in der deutschen
 grammatik. Ein versteck für eine - die eine, die viele sein
 kann oder seine oder auch ihre, selbst keine; eine, die Sie
 ist und versteckt. Während ein Er sich in jedem finden kann
 und verstehen kann als ein selbstverständlicher jeder-mann:
keiner der sich verstecken müsste - unzweifelhaft und einer
für alle. Sie erscheint dagegen zweifelhaft: ob Sie gemeint
wird oder werden (eine oder viele sei) oder nicht sind.

Ob so viel verworrener Sprachwirklichkeit (Er, Sie, eine, ein Er) schwirrt einem beim Lesen der Kopf. Frauen sind das starke Geschlecht, die Sprache wusste es schon immer. Ein "Er" weiß schlicht, wer er ist. Mehr nicht. Eine "Sie" ist eine oder viele. Und in Bewegung. (Eins zwei drei vier Eckstein ... alles muss versteckt sein!)

Barbara Köhler ist eine Großmeisterin in der Kunst der Sprachbefragung. Wieder und wieder dreht und wendet sie diese, nimmt die Wörter beim Wort und beim Buchstaben, bis ganz neue Dinge aufscheinen. An Antworten ist diese Befragung nicht interessiert.  Aber man kann aus den Wörtern die bittersten Wahrheiten und die schönsten Pfauenräder herauszuschlagen: "kann sein Sie können sich erfinden, wo keiner, niemand Sie sucht", endet der Eckstein.

Köhlers "Eckstein" ist im Horen-Heft der Auftakt für vielfältigste "Korrespondenzen" - Dichterinnen und Dichter im Dialog mit Barbara Köhlers Werken. Herrliche Funde kann man dort machen: Etwa Anja Utlers Überlegungen zu Barbara Köhlers Text zu Albrecht Altdorfers "Laubwald des Heiligen Georg"(1510); oder Sonja vom Brockes "Kussolage" anlässlich Barbara Köhlers Dialog mit Meret Oppenheim. Gedruckt werden auch zwei Lobgesänge von Yoko Tawada, der Meidiävist Hans Jürgen Scheuer erfindet die "Barbaralexik" und Oswald Egger schreibt zwei Briefe -die Wörter der Dichterin im Ohr "wo wir uns treffen /wächst das Selbdritte // was wir begreifen / ist schon der Rand".

IV.

Noch immer kennen viel zu wenige den Verlag Urs Engeler. Er hat eine fortlaufende Loseblatt-Zeitschrift, namens Die Mütze - eine nicht ganz lose Folge von Papierheften, wo sich lauter Trouvaillen versammeln. Außerdem erscheinen im gleichen Verlag die roughbooks, mit großartigen Bänden etwa von Elke Erb, Dagmara Kraus, Rainer René Müller, Marianne Moore und E. E. Cunnings.

Jüngst, mitten in der Pickeldinghochzeit, flatterte mir eine neue Mütze ins Haus; Beginn diesmal auf Seite 1301. Mittendrin in der Mütze (S. 1325) ein Zyklus mit Gedichten von Tomasz Różycki in der Übersetzung von Dagmara Kraus.

Die Erde

Unser Planet heißt Erde in den Handbüchern
schreiben sie, dass wir nach wie vor vier
Jahreszeiten haben: Sommer, Herbst, Winter
und Frühling. Das ist kompliziert.
Aber Schwerkraft, Temperatur,
Druckverhältnisse und die Glocke, die luftige Kugel,

in der wir sind, erlauben uns zu leben. Eine kleine Veränderung
reicht aus und wir verschwinden, doch es hat
jemand die Parameter so präzise justiert, dass
das Wunder währt. Sein Prinzip ist die Zeit. Auf ihr
steht das Gebäude. Auf einem winzigen Körnchen,
darin eingemeißelt deine Todesstunde.

Egal, welche Engel in dieser Glocke, die wir die Welt nennen, ihre Hände im Spiel haben: Das Wunder währt.

V.

Warum benutzen wir Handbücher und Wörterbücher, wenn wir Gedichte lesen, fragte einmal Thomas Kling und zitierte, wie als Antwort, Hölderlins Klage: "Ach, wir kennen uns wenig!"

Stimmt. Der Dichter Ulf Stolterfoht hat sich, mit Handbüchern und Wörterbüchern gewappnet, vor langer Zeit ein eigenes Serienformat erfunden: die "Fachsprachen". Neun Bände sind vorgesehen; jeder enthält neun Zyklen mit neun Gedichten à vier Strophen à sechs Zeilen. Sie alle arbeiten mit unterschiedlichen Wissensspeichern, sammeln Wörter zwecks Weltbestaunung und bringen die Mechanik der Sprache zum Singen. Als Leser, hat der Autor einmal gesagt, interessiere ihn alles, was er nicht verstehe. "Darum interessieren mich die echten Fachsprachen: da wirklich seitenlang Text zu lesen und kein Wort zu verstehen. Obwohl ich die Wörter alle irgendwie kenne, könnte ich nicht sagen, wovon der Text spricht. So was finde ich ganz, ganz großartig."

Bei Urs Engeler ist nun Stolterfohts "quasi-autobiografisches" Buch "holzrauch über heslach" wieder aufgelegt worden, ein langes "ethnologisches" Gedicht
 über seinen Herkunfts-Stadtteil in Stuttgart. Für das "Manisch", das Stolterfoht im Buch einer Gruppe Stuttgarter Jugendlicher aus dem Bezirk Heslach als Umgangssprache in den Mund legt, hat er sich mit Rotwelsch-Varietäten beschäftigt - auch das eine Fachsprache. In seiner Laudatio zur Verleihung des Peter Huchel Preises betonte Thomas Poiss einmal, was Stolterfohts Texte auszeichne sei nicht die Freude, den Jargon von Viehschlächtern, Elektrotechnikern, Sprecherziehern und Linguisten spielerisch zu verfremden; seine treibende Kraft sei sein "wittgensteinscher Zweifel an der Semantik, jenem scheinbar reibungslosen Zusammenspiel von Sprache und Welt".

Trotz biografischer Kontexte kommt auch in "holzrauch über heslach" keine Erzählung auf. Fiktion, so liest man dort, verwässere das Gedicht, die Faktizität ihrerseits bleibe "unerreicht". Und dann wird es so konkret, wie ein "wittgensteinscher Zweifel" nur konkret sein kann. "Beispiel gefällig?" fragt der Autor, und schon geht es los:

Nehmen wir an 'dies hier sei amherst', dann bienenbehang. dann: hörst du den sang, ist die mechanik des textes komplett. satz ließ die wörter haltig werden. wies allem den richtigen platz: tiefgrüner rasen und ein chemnitzer blau. Zehn farbentragende zerstörer. plus führters bestürzende tricks. nenns praktizierte - oder womöglich besser: elaborierte anarchie. man knabbert noch heute am wie. das hirn nämlich hat gänge, die gehen weit über gebautes hinaus. schmerzhaus. panikraum. mit abgehängtem otterfenster. eingebauten solidaritätsgespenstern.

Die Sätze halten sich, mit Sang und Klang. Nichts folgt aus einander, aber Wahlverwandtschaften gibt es zu Hauf, wir sind schließlich nicht nur Bedingte. Mit den Bienen der Emily Dickinson (amherst) beginnt  Stolterfohts Bei-Spiel: "halt", "platz", "rasen", "chemnitzer blau", "zehn farbentragende zerstörer". Hier dribbelt die Faktizität drauf los, könnte man sagen, und man hört und spürt förmlich, wie es Richtung Tor immer enger wird ("führters bestürzende tricks"). Doch die Sprache baut sich ihren Reim und gelangt so -  durch das abgehangene Otterfenster (wo bitte schön befindet sich das?) - zu eingebauten Solidaritätsgespenstern.

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ZUM WEITERLESEN

"Niemand weiß, wie ich gewesen. Nachklänge, Übersetzungen, Korrespondenzen - und Engel", zusammengestellt von Andreas Erb und Christof Hamann, die horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Band 277, Göttingen 2020.

Die Mütze und die Roughbooks kann man abonnieren.

Ulf Stolterfoht, "holzrauch über heslach. Gedichte" erschien im Hardcover-Programm des Engeler Verlags, Neuauflage 2020.