Im Kino

Die Geister des Archivs

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
19.09.2007. Zwei wichtige Filme aus Deutschland: In "The Halfmoon Files" nähert sich Philip Scheffner auf faszinierenden Umwegen der deutschen Kolonial- und Rassismusgeschichte. In den "Hamburger Lektionen" lässt Romuald Karmakar den Hassprediger Fazazi sprechen - durch den Mund des Schauspielers Manfred Zapatka.
Zwei wichtige Filme aus Deutschland. Einer über die Vergangenheit, einer über die Gegenwart unseres Landes. Beide gehen sie Umwege. Umwege, die bezwingend sind, Umwege, die klar machen, dass auf dem direkten Weg alles nur falsch zu machen wäre. Beide Filme lassen sprechen - das Archiv der eine, den Hassprediger der andere. Beide verweigern sich nicht der Distanz, die sich einstellt und einstellen muss im Umgang mit dem Fernen und Fremden, beide verzichten auf die falsche Nähe, die zu den Hauptsendezeiten des Kinos und des Kinos unentwegt produziert wird.

I Vergangenheit

Philip Scheffner: The Halfmoon Files (D 2007)

Am Anfang steht ein Hinweis, den der Berliner Filmemacher und Sound-Künstler Philip Scheffner in Indien erhält: Es ist ein Hinweis auf das Dorf Wünsdorf bei Berlin, in dem während des Ersten Weltkriegs Gefangene aus aller Welt in einem Lager - dem "Halbmondlager" - lebten.

Am Anfang steht eine Tonaufnahme vom 11. Dezember 1916, vier Uhr nachmittags. Ein 24 Jahre alter Sikh namens Mall Singh spricht in das Aufzeichnungsgerät, mit dem der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen im Wünsdorfer Lager unterwegs ist.

"The Halfmoon Files" ist ein Film, der viele Anfänge hat und manchen Abweg kennt. "The Halfmoon Files" ist eine Geschichte aus deutscher Vergangenheit. Eine Spurensuche, die selbst Spuren auslegt und die nicht Ergebnisse präsentiert, sondern zeigt, wie sich Geschichten, Dinge, Zusammenhänge einstellen, herstellen, als hätten sie ein Eigenleben. "The Halfmoon Files" ist darum ein Film über den Geist des Archivs, auch über die Geister, die Archiven entspringen. Geisterhaft ist die Stimme von Mall Singh, die Stimme eines Menschen, der aller Wahrscheinlichkeit nach lange schon tot ist. Scheffner will mehr herausfinden über ihn - und tatsächlich taucht er ein weiteres Mal auf: als Studienobjekt einer im Rahmen deutscher Rasseforschung entstandenen Dissertation, die nachzuweisen versucht, dass die Sikhs eine rassisch homogene Gruppe sind. (Der Autor, erläutert Scheffner aus dem Off, kann es nicht nachweisen.) Hier spricht er nicht, hier wird er vermessen. Die Stimme, die Angaben auf dem Lagerformular, die Maße und Zahlen: Wer ist Mall Singh? Er hat gelebt. Er geriet nach Wünsdorf. Er hat in den Phonographen gesprochen. Der Rest verliert sich im Ungewissen.

Die Spurensuche setzt sich in Indien fort. Dort will Scheffner drehen, er sucht den indischen Vizebotschafter auf, in Berlin. Man sieht diese Szenen - sie sind freilich nachträglich entstanden. Es gibt eine indische Rechercheurin, sie macht nur langsam Fortschritte. Wir hören sie übers Telefon, das Bild bleibt schwarz. Später sehen wir sie über eine Webcam, dazu die Telefonstimme, Laut und Bild sind aus technischen Gründen asynchron. Die Rechercheurin kann das Dorf, das Mall Singh auf dem Formular als Herkunftsort angab, nicht finden. Die große Geschichte ist dazwischengekommen, die Unabhängigkeit, die Teilung Indiens.

Überhaupt sind die großen Geschichten mit im Bild: die Geschichte des Weltkriegs, die Kolonialgeschichte. Sogar Wilhelm II. persönlich, dies eine der Abschweifungen, denen der Filmemacher gerne folgt. Wilhelm Doegen nämlich, der Herr des Lautarchivs, der Mann, der die Stimmen der Welt auf Platten zwang, hat Wilhelm II. post festum (Jahre später) dessen große Rede ans Volk zum Beginn des Weltkriegs einsprechen lassen. Es gibt nun die Bilder des Ereignisses und die Stimme des Kaisers. Man kann sie übereinander legen, nur liegen Jahre dazwischen. Laut und Bild sind auf immer asynchron. Das Archiv und seine Medien: sie verlangen nach Archäologen, die die Bruchstücke nebeneinander legen, katalogisieren, präsentieren.

"The Halfmoon Files" ist eine archäologische Arbeit in diesem Sinne. Man sieht Fotos, gesammelt in einem Buch, Namen von Fremden in Wünsdorf, Gesichter von Fremden frontal und im Profil. (In einem Buch, das diese Aufnahmen später unter dem Titel "Unsere Feinde" versammelt, sind die Namen getilgt, durch bloße Nummern ersetzt.) Der Film zeigt auch, was er nicht weiß. Er zeigt, wie er an die Bruchstücke kommt. Er präsentiert das Archiv, seine Geister, die Funde. Einen vierminütigen Film von 1916, natürlich ohne Ton, Aufnahmen aus dem Wünsdorfer Lager, dem Ort, von dem der Film ausgeht, an den er zurückkehrt. Heute aber, auch das zeigt der Film, ist die Geschichte selbst zerfallen: in eine Gedenkstätte zum einen, das Weiterleben zum anderen. Frau Heyer, die heute in einer der einstigen Baracken lebt, erzählt, wie sie die Türen, in die noch die Namen der Insassen geritzt waren, bei der Renovierung entsorgt hat.

"The Halfmoon Files" ist eine Geschichte über das Suchen, das Finden, das Offenbleiben. Von Mall Sing bleiben die Stimme, die Maße, die Formulardaten, ein kleines bisschen Lebensgeschichte. Der Rest verliert sich. Vielleicht taucht noch einmal etwas auf. Aus dem Archiv, in Indien - es meldet sich, erfahren wir ganz zum Schluss, ein vermeintlicher Enkel. Eine Fortsetzung der Geschichte gibt es im Herbst, in Berlin, in Form einer Ausstellung. Jeder, der diesen Film gesehen hat, kann auf sie nur gespannt sein.

II Gegenwart

Romuald Karmakar: Hamburger Lektionen (D 2006)

Aus dem Mund des Schauspielers Manfred Zapatka kommen fremde Worte. Wir sehen, dass es nicht seine Worte sind, denn er hat sie sich nicht angeeignet. Nicht nur liest er sie vor, denn er hat sie nicht auswendig gelernt. Nicht nur stellt er nicht dar, was er spricht. Es sind auch Worte, die man ihm, spielte er einen, dem sie zu eigen sind, niemals abnähme. Es sind die Worte eines Hasspredigers.

Was Manfred Zapatka spricht, was Romuald Karmakar ("Der Totmacher") filmt, ist die wörtliche Übersetzung einer Frage-und-Antwort-Veranstaltung, die Mohammen Ben Mohammed Al Fazazi im Jahr 2000 in einer Hamburger Moschee hielt. Es ist jene Moschee, die drei der Attentäter des 11. September besuchten, auch Mohammed Atta. Ob sie bei diesen beiden Terminen im Jahr 2000 zugegen waren, werden die, die es wissen, keinem verraten.

Manfred Zapatka sitzt auf einem Stuhl, zwei Schemeltischchen neben sich, einer links, einer rechts. Der Hintergrund ist neutral, eine Wand wie im Museum, die nicht sich, sondern das, was zu ihr kontrastiert, zur Geltung bringt. Vom Schemel linker Hand nimmt Zapatka den Text, den er liest, auf dem Schemel rechter Hand legt er ihn wieder ab. Drei oder vier unterschiedliche Einstellungen kennt die Kamera, eine von halbrechts halbnah, zwei Frontale, eine davon ein Close-Up aufs Gesicht des Darstellers, der nichts darstellt außer dem Vorlesenden, der er ist. Nur wenige Male nimmt eine Einstellung das Gesamtarrangement in den Blick: den Mann auf seinem Stuhl, die Schemel, den Raum. Kaum Ablenkungsmanöver, nur gelegentlich wird ein Zettel reingereicht, nur gelegentlich fällt der Schatten des Körpers des Regisseurs (oder eines Helfers) auf die Wand hinter Zapatka.

Volle Konzentration auf den Text. Der Prediger Fazazi widmet sich theologischen Fragen, in einiger Ausführlichkeit. Es geht, zum Beispiel, um den genauen Termin des Beginns des Ramadan. Sorgfältig ist der vorgelesene Text dabei übersetzt - der Schriftsteller Sten Nadolny fungierte als Schlussredakteur eines ganzen Fachübersetzerteams -, zwischendurch immer wieder unterbrochen durch Erläuterungen von Begriffen, die termini technici sind und auch im arabischen Original genannt werden. "Bidaa" etwa, was Reform heißt und als Abweichung vom Koran und der Sunna grundsätzlich von übel ist.

Oder "halal", das heißt "erlaubt". Es geht darum, ob es erlaubt ist, sich am Eigentum der Ungläubigen zu vergreifen. Ja, wird der Prediger sagen, es ist "halal", denn die Ungläubigen haben es den Muslims immer schon gestohlen. Da wird wenig verklausuliert. Weil man - auch immer schon - im Krieg ist mit den Ungläubigen, ist es auch erlaubt, sie zu töten, um nicht getötet zu werden.

Wie Fazazi diesen Sprengstoff in theologische Haarspaltereien hineinfaltet und in rituell wiederkehrende Formen wickelt, das gibt einen guten Eindruck, vermutet man, vom Denk- und Empfindungsmilieu des Fundamentalismus. Eingeblendet werden auch immer wieder die Reaktionen des in der Zapatka-Lektion natürlich nicht nachgestellten Publikums: lautes Lachen, unterdrücktes Kichern. Das Einverständnis zeigt sich so, nachvollziehbar, auch und erst recht im nicht Ausgesprochenen.

Romuald Karmakar verfremdet die Worte des Fundamentalisten und bringt sie uns damit so nahe wie möglich. Er enthysterisiert, so weit das nur geht, unseren Bezug zum Gesprochenen und zu den Taten, die es impliziert. Die "Hamburger Lektionen" sind - wie es schon der ähnlich verfahrende Vorgänger "Das Himmler Projekt" war - ein Versuch skeptischer Aufklärung. Was aus dem folgt, was man zu hören und sehen bekommt, lässt der Film ganz offen. Dass einem Hören und Sehen und damit das Denken vergeht: dagegen setzt er die ganze Kraft seiner abklärenden Nüchternheit.

The Halfmoon Files. Deutschland 2007 - Regie: Philip Scheffner - Länge: 87 min.

Hamburger Lektionen. Deutschland 2006 - Regie: Romuald Karmakar - Darsteller: (Sprecher) Manfred Zapatka - Länge: 133 min.