Im Kino

Ein Gangster, eine Stimme

Die Filmkolumne. Von Andrey Arnold, Lukas Foerster, Patrick Holzapfel, Michael Kienzl, Jochen Werner
29.12.2016. Zum Jahresabschluss fünfmal Kino (noch) außerhalb deutscher Verleihrelevanz: Tod in einem Gipsgefängnis, blutiger Gangsterpopulismus, ein gefährlicher Park, die Bewegungen des Geldes - und eine bruchlos-meisterliche Tolstoi-Adaption.


Angesichts von "Aferim!" (2015), Radu Judes pikaresker Groteske über die Abenteuer zweier Einfaltspinsel in der Walachei des 19. Jahrhunderts, fragte man sich: Warum ist nicht schon früher jemand auf die Idee gekommen, die eigentümlichen Realismus-Strategien des neuen rumänischen Kinos auf historische Stoffe anzuwenden? Auch Judes jüngste Arbeit "Scarred Hearts" zeugt von der Fruchtbarkeit dieses Unterfangens, so dass man sich fragt, warum der Regisseur noch immer im Schatten bekannterer Landsmänner wie Cristi Puiu oder Cristian Mungiu steht.

Der Film erzählt auf Basis der teils autobiografischen Werke des Modernisten M. Blecher von einem jungen Mann, der 1937 wegen Knochentuberkulose in ein Sanatorium am Schwarzen Meer eingeliefert wird und dort im bewegungshemmenden Gipsgefängnis langsam stirbt. Doch "Scarred Hearts" ist keine museale Passionsgeschichte. Der Film lebt von der Spannung zwischen Stillstand und Aufruhr, Lebensdurst und Todesangst: Die 4:3-Einstellungen sind starr wie der Rücken der Hauptfigur, aber in ihnen wuselt und wimmelt es, überlappen sich Gesten und Stimmen, Stimmungen und Haltungen auf beeindruckend beiläufige Weise.

Radu Jude inszeniert Vergangenheit als eine vielschichtige Collage. Statt die (nicht ganz unvertrauten) Kulturtendenzen der Zeit zu "erklären", lässt er sie in Anekdoten, Witzen und Randbemerkungen von Ärzten und Patienten aufsprudeln. Für Letztere sind sie immer auch Ablenkungen vom Elend des Krankendaseins. Beklemmung schwingt ständig mit - selbst wenn der Film komplett ins Absurde kippt, wie in seinen großartigen Sexszenen. Trotzdem geht die Auszehrung der Lebensgeister des Protagonisten fast an einem vorbei: Am Ende fühlt man sich wie nach einer Abschiedsparty, wenn der letzte Gast gegangen, in der plötzlichen Leere der verebbten Fröhlichkeit.

Andrey Arnold

Scarred Hearts - Rumänien 2016 - Originaltitel: Inimi Cicatrizate - Regie: Radu Jude - Darsteller: Serban Pavlu, Gabriel Spahiu, Sofia Nicoaescu, Mihai Comanoiu, Ivana Mladenovic - Laufzeit: 141 Minuten.

Real Fiction bringt "Scarred Hearts" am 09.02. in die deutschen Kinos.

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Herman Yau ist hierzulande höchstens hartgesottenen Horrorfans ein Begriff, als Regisseur von "The Untold Story" und "Ebola Syndrome", zweier komplett derangierter, wahnwitziger Splatterfilme, die in den 1990er Jahren als raubkopierte Videokassetten auf Schulhöfen die Runde machten. Dass Yau danach nicht aufgehört, sondern erst richtig losgelegt hat, und längst einer der produktivsten, vielseitigsten und außerdem politisch engagiertesten Regisseure Hongkongs ist, scheint dagegen so gut wie niemand mitbekommen zu haben.

Yau dreht, was er liebt: Genrefilme. Horror, Comedy, Thriller. In diesem Fall ein Triadenepos. Wann war eigentlich zuletzt ein guter Gangsterfilm in den deutschen Kinos zu sehen? Seit Michael Manns "Public Enemies" von 2009 dürften es höchstens eine Handvoll überhaupt ins reguläre Programm geschafft haben, erinnerungswürdig war davon so gut wie nichts. Yau dagegen schüttelt, leider weit entfernt von deutscher Verleihrelevanz, mit "The Mobfathers" ein wendiges, schillerndes, gleichzeitig hemmungslos brutales und schreiend komisches Kleinod des Triadenfilms aus dem Ärmel, als wäre nichts dabei.

Schon die Parallelmontage, mit der der Film eröffnet, zeigt an, dass Yau nicht vorhat, Gefangene zu machen: die Blutfontänen eines Straßenkampfs treffen auf die freudige Erregung einer jungen Frau, die entdeckt, dass sie ein Kind erwartet. Im Folgenden baut Yau seine grundsätzlich natürlich wohlbekannte, aber im Detail klug aktualisierte Geschichte über Aufstieg und Fall des ehrgeizigen Gangsters Chuck (auf moppelige Weise großartig: Chapman To) mit leichter Hand zur politischen Allegorie über Hongkongs vergebliche Hoffnung auf Demokratisierung aus: Chuck möchte die rigiden Regeln der immer noch quasifeudalistisch organisierten Triaden abschaffen und startet eine populistische Gegenbewegung: Ein Gangster, eine Stimme! Das wiederum ist nicht nur der Führungsebene der Clans, sondern auch der "regulären" Politik ein Dorn im Auge; schließlich verdienen alle mit.

Nebenbei muss Chuck noch seine des Gangsterlebens überdrüssige Frau zurückgewinnen, was sich spätestens nach dem hemmungslosen Softporno-Glamour Auftritt einer Stripperin als schwierig erweist. Für ein paar Minuten wird "The Mobfathers" aus heiterem Himmel zu einem Remake von Sternbergs "Der blaue Engel"! Ein paar Schnitte später wird einem bad guy der Kopf horizontal aufgeschlitzt, sodass man den Eindruck erhält, er habe statt dem Mund eine blutrote Klappe im Gesicht. Ein Film wie schnelles, gutes, ungesundes Essen. Danach will man mehr davon und weniger von der wohltemperierten Schonkost, die die deutschen Verleiher stattdessen servieren.

Ein besonders großer Freude ist "The Mobfather", das muss man ehrlicherweise dazu sagen, für alle, die das Hongkong-Kino der 1980er und 1990er Jahre ins Herz geschlossen haben. Yau interessiert sich nicht die Bohne für rührselige Nostalgie, und doch gelingt es ihm nicht nur in diesem Fall mit links, die flirrende, vulgäre Energie und auch die räudigen, neon-trashigen Texturen klassischer Heroic-Bloodshed-Filme zu evozieren. Insbesondere sein Lieblingsschauspieler Anthony Wong (der Psycho aus "Ebola Syndrome"…), der diesmal einen grotesk obszönen Triadenboss spielt, hat sich inzwischen in ein wandelndes, pockennarbiges, am laufenden Band fluchendes Stück Film- und Stadtgeschichte verwandelt.

Lukas Foerster

The Mobfathers - Hongkong 2016 - Originaltitel: Sun lo choer - Regie: Herman Yau - Darsteller: Chapman To, Anthony Wong, Gregory Wong, Philip Keung, Xian Seli - Laufzeit: 94 Minuten.

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Das erste Bild in "Le parc" erinnert an Jacques Rivette. Es ist das Bild einer Erwartung, einer Pause, bevor der Film beginnt. Ein junger Mensch sitzt auf einer Bank in einem Park und erwartet nervös Zärtlichkeit. Der Film spielt in diesem Park, der mehr ist als ein Park. Vielmehr ist der Park eine Tür für das Kino. Eine Tür, die dieser Film öffnet.

Eine junge Frau trifft im Park auf einen jungen Mann. Es ist eine erste Begegnung, eine Annäherung, die Panik eines möglichen Kusses. Sie lassen sich in den Park fallen, sie lassen sich in sich fallen. Es ist die Unschuld, das Unbehagen, die Unsicherheit einer jungen Zärtlichkeit. Im Park, zwischen Bäumen, auf Wiesen, zwischen Menschen. Die Erhabenheit und Anmaßung, die Tollpatschigkeit und Leidenschaft des Jungseins stand bereits im ersten Langfilm von Damien Manivel im Fokus. "Un jeune Poète" hieß der Film über einen jungen Mann auf den Spuren von Paul Valéry. Manivel arbeitet ohne Drehbuch. Er entwickelt die Geschichte mit den Darstellern während er dreht. Er lässt sich von Gegebenheiten inspirieren, er saugt sie auf, er treibt durch diese Welten. Dabei entsteht kein Chaos, sondern das Konzentrat von Kinomomenten.

Bei "Le parc" war von Anfang an klar, dass der Film dem Ablauf eines Tages folgen würde. So wird es Abend im Park und es kommt zu einem grausamen Stimmungswechsel. Der junge Mann verschwindet und lässt die Frau allein zurück. Sie schreibt ihm eine SMS, weil er seine Zigaretten vergessen hat und wartet auf seine Antwort. Sie sitzt auf einem kleinen Hügel, die Kamera verharrt auf den Konturen ihres Gesichtes, das nach und nach von der Nacht geschluckt wird, bis es nur mehr von der Hoffnung des Handybildschirms beleuchtet wird. Es gibt keinen Schnitt, es gibt keine Antwort. Man wartet und wartet und der Park wird eine Illusion. Es ist, als wäre er nie da gewesen. Aus einer bezaubernden Zweisamkeit wird mit einem brutalen Schlag, den man beim Sehen erst rückwirkend bemerkt, eine traurige Einsamkeit.

Doch Manivel endet nicht hier. Der Park hält noch einiges bereit, er versteckt Dinge und er transformiert sich ein weiteres Mal in der Dunkelheit. Wiederum fast unbemerkt wähnt man sich in eine Jacques-Tourneur-Nacht gleitend, eine Nacht, in der das Unheimliche und Besessene überhand gewinnen und das Fantastische von einer gefährlichen Flucht aus der Einsamkeit erzählt. "Le parc" ist ein großartiger Film über Verletzlichkeit. Gleichzeitig ist es ein behutsamer Film der Verzögerung, in dem Handlungen erst in den Momenten, nach denen sie geschehen, sichtbar werden, sodass man am Ende daran zweifeln darf, ob man gerade im Park war oder im Kino.

Patrick Holzapfel

Le parc - Frankreich 2016 - Regie: Damien Manivel - Darsteller: Maxime Bachellerie, Sobéré Sessouma, Naomie Vogt-Roby - Laufzeit: 71 Minuten.

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Brillante Mendoza kultiviert in seinem Werk einen ungebändigten Realismus, der zwar viele Nachahmer hat, dabei aber stets einzigartig geblieben ist. Obwohl der philippinische Regisseur im Jahresrhythmus neue Filme dreht - bei denen es sich meist um Variationen derselben Motive und ästhetischen Stilmittel handelt - verlieren sie nichts von ihrer Kraft. Vor allem liegt das daran, dass die wackeligen Handkamerabilder bei ihm nicht, wie sonst so oft, nur bloße Behauptung eines Wirklichkeitsbezugs sind, sondern vielmehr ein Verfahren, um die Textur des Alltags einzufangen.

Auch Mendozas neuester Film "Ma' Rosa" stürzt sich wieder in das dichte Treiben der Slums, um irgendwo zwischen Unscheinbarkeit und Überforderung eine wütende Anklage gegen die Korruption und Ausbeutung in seiner Heimat zu erheben. Mittelpunkt der Handlung ist Späti-Betreiberin Rosa, die nur deshalb überleben kann, weil sie mit ihrer Familie als Nebenverdienst Drogen vercheckt. Als sie von der Polizei geschnappt wird, beginnt das eigentliche Dilemma. Denn Rosa und ihr Mann könnten sich zwar, um nicht im Gefängnis zu landen, freikaufen, ihnen fehlt dafür allerdings das nötige Geld.

"Ma' Rosa" zeigt eine Gesellschaft, in der die Ärmsten der Armen nur überleben können, wenn sie ihresgleichen verraten - ob durch den Verkauf von Crystal Meth oder indem sie der Polizei einen Kollegen ans Messer liefern und damit einen Kreislauf der Verrats fortsetzen, der sie selbst erst in ihre missliche Lage gebracht hat. Obwohl die Handlung des Films schnell erzählt ist und die Kamera von Odyssey Flores oft nicht mehr macht, als ihren Figuren durch belebte Gassen und schummrige Korridore zu folgen, hat "Ma' Rosa" etwas Atemloses.

Mendoza folgt der ständigen Bewegung des Geldes, das zunächst noch in den Slums seine Kreise zieht und schließlich doch nur in den Hosentaschen korrupter Cops landet. Und er verliert dabei nie die Nöte, Ängste und Gewissenskonflikte seiner Figuren aus den Augen, was ihm eine ungemeine dramatische Intensität verleiht. Wenn Rosas Kinder sich schließlich auf den Weg machen, um bei Verwandten, Nachbarn oder auch Freiern etwas Geld zu erbetteln, werden sie zwar zunächst mit einem durch das mitleidslose Leben auf der Straße antrainierten Abwehrmechanismus konfrontiert, doch dahinter verbirgt sich ein Rest an Solidarität, der wie ein letzter Anker in dieser Welt des Leids wirkt.

Michael Kienzl

Ma' Rosa - Philippinen 2016 - Regie: Brillante Mendoza - Darsteller: Jaclyn Rose, Julio Diaz, Baron Geisler, Jomari Angeles, Neil Ryan Sese - Laufzeit: 110 Minuten.

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Der erste Lav-Diaz-Film des Jahres 2016 setzte im Februar und im Berlinale-Wettbewerb dem Abschweifen und Verlorengehen, dem Stehenbleiben, der Dauer und dem Warten ein achtstündiges Monument. So gesehen ist "The Woman Who Left" ein ungewöhnlicher Film im Œuvre des philippinischen Meisters der (ganz) langen Form. Das zeigt sich nicht nur in der verhältnismäßig überschaubaren Laufzeit von unter vier Stunden, sondern auch in der - ebenfalls: verhältnismäßig - stringenten Strukturierung dieser Tolstoi-Adaption.

Selbstverständlich heißt das nicht, dass Diaz sich keine Zeit mehr nehmen würde für das Langsame, für das stille Beobachten und die in beinahe unmerklicher Allmählichkeit sich ereignende Entwicklung. Aber "The Woman Who Left" ist spürbar auch an einem Spannungsbogen interessiert, der die lose an Tolstois Erzählung "Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich" angelehnte Handlung ohne größere Brüche über die gesamte Laufzeit zusammenhält: 30 Jahre verbrachte Horacia im Gefängnis, inhaftiert für einen Mord, den sie nicht beging. Als nun die wahre Täterin, ihre einstige Freundin Petra, von ihrem Gewissen eingeholt den Mord gesteht und freiwillig aus dem Leben scheidet, wird Horacia freigelassen und trifft auf die Trümmer ihrer Familie und ihrer früheren Existenz. Unter dem Namen Renata sinnt sie auf Rache an dem Hintermann der Tat, dem wohlhabenden Rodrigo Trinidad. Fast unmerklich beginnt sie, die Peripherie seiner bewachten Villa durchschleichend, mit einem buckligen Straßenhändler und einem traurigen Homosexuellen Freundschaften zu schließen, und aus Asche und Trümmern einer zerstörten Existenz entwickelt sich ein neues Leben.

"The Woman Who Left" ist vielleicht der zugänglichste Film, den Lav Diaz seit seiner Hinwendung zur epischen Form mit "Evolution of a Filipino Family" gemacht hat. Aber von Verflachung oder Verrat an konventionellere Erzählformate ist da keine Spur. Stattdessen ist dies das Werk eines Meisterregisseurs auf der Höhe seiner Kunst - einerseits die grandios verdichtete Essenz seiner selbst entwickelter, einzigartiger Kinosprache, andererseits nachdrückliche Absage an die Gefahr, diese zum Klischee ihrer selbst gerinnen zu lassen. Ein Meisterwerk.

Jochen Werner

The Woman Who Left - Philippinen 2016 - Originaltitel: Ang babaeng humayo - Regie: Lav Diaz - Darsteller: Charo Santos-Concio, John Lloyd Cruz, Michael de Mesa, Nonie Buencamino, Shamaine Buencamino, Mae Paner - Laufzeit: 226 Minuten.