Im Kino

Militanz und Romantik

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
28.07.2016. Miguel Gomes verbindet in "1001 Nacht" Geschichten aus der portugiesischen Krisengegenwart mit Ausbrüchen ins Fantastische. In David Yates' "The Legend of Tarzan" fliegen einem leider nur gelegentlich digitale Weltpartikel um die Ohren.


Im Prolog: zwei Geschichten, ein Ort - Viano do Castelo, im Norden Portugals, am Atlantik gelegen. Eine Werft mit stolzer Geschichte ist von Schließung bedroht, 600 Arbeitsplätze, die bald keine mehr sein werden. Die Geschehnisse stehen im Fokus maximaler medialer Aufmerksamkeit, die Presse, das Fernsehen ist vor Ort. Und: Ein Mann bekämpft im Auftrag der Feuerwehr Nester einer invasiven Wespenspezies, die die Bienenpopulation, und damit die lokale Honigproduktion, bedroht. Wenn man die Nester über eine Hotline meldet, kommt der Mann und vernichtet sie.

Miguel Gomes erzählt beide Geschichten, lässt die Männer von ihrer Arbeit erzählen, sieht dem Wespenbekämpfer zu, zeigt dessen selbstgebauten Flammenwerfer. Bald meldet sich der Regisseur selbst zu Wort und berichtet von einem Vorhaben und einem Scheitern: Er wollte diese Geschichten zusammen erzählen, weiß aber nicht, was sie miteinander zu tun haben, außer einer losen metaphorischen Verknüpfung, die er nicht aufschlüsseln kann. Dann ergreift der Regisseur die Flucht und das Team versucht, zumindest noch seine Abwesenheit abzubilden. Aber der Film geht weiter, setzt die beiden Geschichten fort - und nochmal bezieht der Regisseur Stellung: Er habe zum einen einen schönen Film machen wollen, voller wundervoller und verführerischer Geschichten. Und zum anderen habe er ein Jahr lang, zwischen den Sommern 2013 und 2014, die von Krise und Austeritätspolitik schwer gezeichnete portugiesische Gesellschaft filmisch begleitet. Aber es geht nicht, sagt Gomes: "es ist unmöglich, beide zeitgleich zu machen. ... Man kann keinen militanten Film machen, der plötzlich nicht mehr militant ist und der Realität zu entfliehen beginnt."

Der Prolog endet mit einem komischen Tribunal gegen die Filmemacher und der Film beginnt als unmöglicher Film, als Film, der Geschichten aus der portugiesischen Krisengegenwart erzählt (Gomes hat sie mit einem Team von Journalist*innen zusammengetragen) und darüber ins Fabulieren und Fantasieren gerät. Militanz und Romantik.

Viele Geschichten: "1001 Nacht" heißt Gomes jüngster Film, und er orientiert sich in seiner Erzählstruktur - nur selten in seinen Motiven - an der mittelalterlichen Märchensammlung.

(Überhaupt nimmt Gomes auf vielen Ebenen Anleihen an Schriftlichkeit: Ein Film in drei Bänden, mit Kapiteln und Unterkapiteln, schriftlichen Inhaltsverzeichnissen, im letzten Teil werden ganze Geschichten über Texttafeln erzählt.)



Die erste Geschichte ist die von Scheherazade selbst, der Tochter des Wesirs am Königshof von Bagdad, die sich als Königsgemahlin aufopfert, um einen Femizid zu stoppen. Alle weiteren Geschichten werden eingeführt als Erzählungen aus Scheherazades Nächten. Die drei Teile des Films: "I Der Ruhelose", "II Der Verzweifelte", "III Der Entzückte" spinnen eine Vielzahl davon, in einer Vielzahl von Tonlagen: märchenhafte Fantasien, absurde Grotesken, bittere Tragödien, nüchterne Bestandsaufnahmen.

Häufig drehen sich die Geschichten selbst um Narratives und Disputatives: Eine von Dauererektionen geplagte EU Troika verhandelt mit portugiesischen Regierungs- und Gewerkschaftsvertretern. Ein Gemeinderat tagt über einen störrischen und störenden Hahn, der zu viel kräht (in Wahrheit aber die Zukunft sieht, und Warnungen ausspricht). Eine Gerichtsanhörung über einen Möbeldiestahl gerät zu einer uferlosen Kette von Beschuldigungen, alle Verteidigungen verweisen auf immer neue, vorhergehende Schandtaten. Drei arbeitslos gewordene "Prächtige" erzählen einer dysfunktionalen Guerilla-Initiative von ihren Leben.

Das andere bestimmende Moment sind Formen von Gemeinschaft und ihr (Nicht-)Funktionieren: Eine Chronik der wechselnden Besitzer eines Hundes, samt des von einer Wohnung zur nächsten schreitenden Portraits der Bewohner eines Wohnblocks. Die Geschichte eines Mörders, der von einem Dorf versteckt wird. Eine Gruppe von Singvogelfängern, die ihre Buchfinken für Gesangswettbewerbe trainieren.

Die Geschichten brechen immer wieder ab, überlagern sich, die oft unter Amateur*innen gefundenen Protagonist*innen tauchen in anderen Rollen und Kaptieln wieder auf, in manchen Abschnitten erzählen Bild, Schrift und Off-Stimme verschiedene Geschichten.

Scheherazades Erzählen ist ein Erzählen aus der Not: ihre Geschichten sollen den König von Schlimmem abhalten. Auch Gomes' Erzählungen entspringen einem Mangel, einem doppeltem sogar: dem Zustand eines Landes, und der ästhetischen Verzweiflung, sich dazu zu verhalten. Es ist, als ob der ins Stocken geratenen Akkumulation, dem in krisenhafter Unterbrechung befindlichen Kreislauf von Geld und Waren eine überbordende Zirkulation von Erzählungen entgegen gehalten werden soll, auf dass sich im Erzählen andere Möglichkeiten erschließen mögen, sich aufeinander zu beziehen. So klar, unterhaltsam und mitunter erhellend der Versuch auch ist, in den verschiedensten Registern einem naturwüchsigen Diskurs des Elends und der Ohnmacht zu entkommen: Das Verhältnis von Militanz und Romantik bleibt am Ende doch unaufgelöst. Gomes gelingen in seinem Erzählrausch mitunter fantastische Bilder (von Weerasethakuls Kameraman Sayombhu Mukdeeprom in 16mm fotografiert), er findet errettende Momente in deprimierenden Alltagschroniken, gibt Namenlosen eine Stimme. Die ästhetischen Impulse: das fantastische Ausbrechen zum einen und das dokumentarische Scharfstellen zum anderen, streben tendentiell allerdings eher auseinander, als sich zu einer Form der Vermittlung zu fügen. Die Verzauberung weißt nicht über sich selbst hinaus und findet zu keiner klaren Politik.

Im Gegensatz zur literarischen Referenz bricht der Film lange vor der erlösenden 1001. Nacht ab. Schwer zu sagen, ob das Geschichtenerzählen noch hilft.

Sebastian Markt

1001 Nacht - Portugal 2015 - OT: As Mil e Uma Noites - Regie: Miguel Gomes - Darsteller: Crista Alfaiate, Luísa Cruz, Adriano Luz, Carloto Cotta, Américo Silva, Gonçalo Waddington, Joana de Verona, Rogério Samora - Laufzeit: 125 Minuten + 132 Minuten + 126 Minuten

Der dreiteilige Film startet gestaffelt: "Teil 1: Der Ruhelose" ist ab dem 28.07. zu sehen, "Teil 2: Der Verzweifelte" ab dem 11.08, "Teil 3: Der Entzückte" ab dem 25.08.


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Warum im Jahr 2016 eine neue Tarzan-Version drehen? Am ehesten noch, hatte ich mir angesichts der ersten Ankündigungen überlegt, um endlich stereoskope Lianen-Urwald-Action inszenieren zu können. Tatsächlich dürften die Lianen das eine genuin filmische Element gewesen sein, das nötig war, um eine ansonsten weitgehend austauschbare Pulp-Erzählung (selbst im Werk seines Erfinders Edgar Rice Burroughs gibt es interessantere Figuren als den im Urwald von Affen großgezogenen geborenen Lord Greystroke) in einen genuinen Kinostoff zu verwandeln: Der Bildraum wird von den Lianen gleichzeitig erschlossen, dynamisiert und gesprengt. In Tarzan-Filmen, zumindest in guten, sieht man nicht, wo und wie die organischen Kordeln befestigt sind, mit deren Hilfe der Held durch die Gegend schwingt; die Welt ist aus den Angeln gehoben - weil es gerade keinen archimedischen Punkt gibt.

Die 3D-Technik ist offensichtlich wie dafür gemacht, dieses entgrenzende Moment der Lianen-Action noch einmal zu intensivieren. Tatsächlich war schon "Avatar", der Durchbruchsfilm der aktuellen Stereoskopiewelle, ein inoffizieller Tarzan-Film, und zwar in mindestens zweierlei Hinsicht: Als postkoloniale Fantasie, die von der Sehnsucht des modernen, zivilisatorisch überformten Subjekts spricht, im kulturell, wenn nicht gleich biologisch Anderen aufzugehen; und eben als immersives Dschungelspektakel, als Abfolge wilder Verfolgungsjagden über, unter und vor allem inmitten üppiger Tropenvegetation. An exotischen, beziehungsweise eben gleich außerirdischem Getier vorbei durchs Blätterwerk Pandoras zu schwingen, fliegen, krachen, heißt dank der wiederentdeckten Tiefendimension eben auch: Rechts, links, oben, unten schießen in einem fort digitale Weltpartikel an einem vorbei, so lange, bis irgendwann rechts nicht mehr von links, oben nicht mehr von unten zu trennen ist.

In diesen stets gleichzeitig chaotischen und eleganten Bewegungskaskaden lässt Cameron den reaktionären Schematismus seines Plots hinter sich. Die 3D-Technik addiert nicht etwa eine Dimension zu den zweien des alten, flachen Kinos hinzu, sondern sie löscht alle Dimensionalität aus. Zumindest, wenn sie konsequent zu Ende gedacht wird. Das haben nach "Avatar" nicht mehr allzu viele Filme versucht, und auch der von "Harry Potter"-Regisseur David Yates verantwortete "The Legend of Tarzan" hat nicht allzu viele Ambitionen in diese Richtung. Die recht wenigen Szenen, in denen sich der Titelheld in das Urwalddickicht hineinwuchten, sich den geschickt modulierten Fliehkräften ausliefern dar, sind zwar tatsächlich die stärksten des Films; aber dennoch sind das nicht mehr als halbwegs kompetent durchexerzierte Pflichtübungen, streng eingetaktet in den Spektatkelkatalog des Films: Zwei, drei Minuten grünlich leuchtender Bewegungsrausch, ok, abgehakt, schnell weiter im Text. (Der recht umfangreich und umständlich geraten ist. Ein rarer genialer Moment früh im Film weckt zwar die Hoffnung, der Plot sei in drei mit einem Stock in den Sand gezogenen Linien bereits hinreichend umrissen; aber leider hält sich niemand an diese Skizze.)



"The Legend of Tarzan" ist die erste live-action-Kinoversion des Stoffes seit den 1990ern; dazwischen liegen gleich mehrere Animations-Tarzans. Wobei diese Unterscheidung angesichts der weit fortgeschrittenen CGI-Technik längst nur noch bedingt sinnvoll ist. Vielleicht besteht die einzige echte Differenz inzwischen darin, dass live-action-Filme enger mit dem Starsystem, und deshalb auch mit der celebrity culture verzahnt sind. Der neue Tarzan (sieht gut aus: Alexander Skarsgård) war vorher ein Vampir in der HBO-Serie "True Blood". Die neue Jane (sieht auch gut aus: Margot Robbie) kennt man vielleicht aus "The Wolf of Wall Street". Gleich zwei Nebendarsteller hat es aus dem auf den ersten Blick nicht unbedingt benachbarten filmischen Universum Quentin Tarantinos in den Dschungel verschlagen: Christoph Waltz gibt als Bösewicht Léon Rom eine diesmal besonders lustlose Variation jenes distinguierten Zynikers, an dem sich inzwischen so ziemlich die ganze Welt sattgesehen haben dürfte; Samuel L. Jackson als Tarzan-Sidekick George Washington Williams ist zum Glück ein etwas anderer Fall.

Jacksons Figur ist einerseits mit von der Partie, um das (eher so halb durchdachte) revisionistische Projekt des Films zu plausibilisieren: Die bei Burroughs und in der Mehrzahl der Filme tief in rassistischen Projektionen verstrickte Tarzan-Figur soll zum Kämpfer wider die Sklaverei umgedeutet werden. Andererseits ist Jackson die Aufgabe übertragen, das Publikum - die Handlung kommentierend, das Postkartenafrika bestaunend, sich vor wilden Tieren fürchtend und dennoch mutig dem Ungewissen entgegen schreitend - in den Film hinein zu geleiten. Was dringend notwendig ist, weil die beiden nominellen Hauptfiguren offensichtlich nur zum Anschauen da sind. Insbesondere der gern halbnackt agierende Tarzan bleibt den gesamten Film über ein nordischer Übermensch der entrückteren Sorte, selbst eine Serie aufdringlicher Rückblenden verschafft ihm kaum Inidividualität. Nicht selten, und eben auch in den Lianen-Szenen, bleibt die Kamera lieber bei dem mit einigem Sicherheitsabstand hinterher schwingenden Jackson. Der das alles kaum weniger routiniert herunterrockt wie Waltz; aber dessen noch in den generischsten Grundsituationen nuancenreiches Spiel wenigstens etwas Wärme und Orginalität in einen ansonsten in gelackt vor sich hin rotierender Professionalität erstickenden Blockbuster schmuggelt.

Lukas Foerster

The Legend of Tarzan - USA 2016 - Regie: David Yates - Darsteller: Alexander Skarsgård, Margot Robbie, Christoph Waltz, Samuel L. Jackson, Sidney Ralitsoele, Casper Crumb, Osy Ikhile - Laufzeit: 110 Minuten.

Außerdem diese Woche neu: "Fuocoammare" von Francesco Rosi. Hier unsere Kritik von der Berlinale 2016.