Außer Atem: Das Berlinale Blog

Machen keine Gefangenen: Die japanischen Indies in der Forumsreihe Hachimiri Madness

Von Lukas Foerster
18.02.2016. Kein Geld, keine Crew? Eine Reihe mit japanischen Independentfilmen der achtziger Jahre setzt ein ergreifendes Denkmal für alle Loser dieser Welt.
Ein Problem für mich auf der diesjährigen Berlinale ist die dem Jahr 1966 im deutschen Kino gewidmete Retrospektive; da gibt es sicherlich den einen oder anderen interessanten Film, aber als sicherer Hafen in den unsicheren Fluten des Gegenwartskinos taugen die oft noch tappsigen ersten Gehversuche des Neuen Deutschen Films sowie eine Handvoll defa-Klassiker, auf die sich die Schau leider weitgehend beschränkt, eher nicht.

Während ich in den letzten Jahren mein Festival mehr oder weniger um die Retro herum geplant hatte, bleibt es diesmal bei Stippvisiten - die zum Beispiel im (hochinteressanten) Kurzfilmprogramm "Arbeiterinnen" (hier und hier) immerhin nachdrücklich klar machen, dass die 1960er in Ost wie West eine ziemlich ungemütliche Zeit sein konnten. Wenn man zum Beispiel, von Akkordarbeit am Fließband und in der Familie ausgelaugt, im Müttergenesungswerk landet und dort zu allem Überfluss auch noch die Fragen eines öffentlich-rechtlichen TV-Patriarchen namens Thilo Koch über sich ergehen lassen muss ("Frauen in Deutschland. Thilo Koch berichtet").



Umso dankbarer bin ich für eine andere, kleinere Retrospektive, die das Forum dem japanischen Independentkino insbesondere der 1980er widmet ("Hachimiri Madness - Japanische Indies aus den Punkjahren"). Independent heißt in diesem Fall tatsächlich: Kein Geld, keine Crew. Nur ein paar Verrückte mit 8mm-Kameras. Eine ganze Reihe der Regisseure, die das Programm versammelt, hat inzwischen Karriere zumindest in der Nähe des Mainstreams gemacht. Sion Sono zum Beispiel ist Dauergast auf internationalen Festivals und dreht schon einmal fünf (durchaus aufwändige) Filme in einem einzigen Jahr.

"Hachimiri Madness" zeigt einen seiner ersten Gehversuche: In "I am Sion Sono!!" - wie viele Arbeiten des Programms ein Film im halblangen Format, und schon deshalb ohne echte kommerzielle Perspektive - spricht der tatsächlich noch blutjunge Regisseur immer wieder direkt in die Kamera, gratuliert sich selbst zum Geburtstag, legt seine Eindrücke vom Leben in Tokio dar ("Messer, Nutten, Uhren… Messer, Nutten, Uhren…"), schaut zum Fenster heraus… Und irgendwann tritt er dann auf die Straße, und die Hölle bricht los. Kernstück des Films ist eine absichtsvoll zerdehnte Sequenz, die zwei skurril-übergriffige Interaktionen zeigt: Zunächst "interviewt" ein junger Mann ein kicherndes Schulmädchen, indem er ihm mit sich überschlagender Kreischstimme Nonsensefragen entgegenbrüllt und sie vor der Kamera hin und her schleudert; anschließend wird ein anderer Mann zwangsrasiert, der dabei abwechselnd lustvoll stöhnt und wie am Spieß losbrüllt.



Keinerlei Interesse haben die "Hachimiri Madness"-Regisseure an "Subtilität" oder an "Zwischentönen" - das sind natürlich bisweilen schöne Eigenschaften für Filme, aber nach einer Woche Filmfestival wecken schon allein diese und ähnliche Worte in Ankündigungstexten meinen Fluchtreflex. 8mm-Japaner nehmen dagegen keine Gefangenen - auch dann nicht, wenn sie sich "festivaltypischen" Motiven widmen. Einer der tollsten Filme des Programms, Sogo Ishiis "Isolation of 1/880000", beschreibt zum Beispiel das einsame Leben eines Langzeitstudenten, der aufgrund einer Gehbehinderung ein Bein hinter sich her ziehen muss und seine Tage zwischen Pornoheften und den verhassten Lehrbüchern in einem winzigen Appartment fristet. Doch statt solche Tristesse ästhetisch zu verdoppeln, verwandelt Ishii seinen Film, auch dank des bestmöglichen Einsatzes klassischer Musik, in ein ergreifendes Denkmal für alle Loser dieser Welt. Und gleichzeitig in ein Denkmal für das kleinbürgerliche Tokio der 1970er und 1980er, das in seiner ganzen wunderschönen Schäbigkeit fast alle Filme des Programms zutiefst prägt.



Der vielleicht allerbeste Film des Festivals beginnt dagegen mit einigen Schulhofschlägern, die es auf einen Sonderling abgesehen haben, dem aus vorläufig noch unbekanntem Grund ein Stahlrohr aus dem Rücken wächst - bzw: einfach ins T-Shirt geschoben und da festgeklebt wurde; mehr noch als in den anderen Filmen des Programms begeistert in Shinya Tsukamotos "Adventures of Electric Rod Boy" die Art und Weise, wie die jungen Wilden des japanischen Kinos ihren damals noch absoluten Outsiderstatus und die fehlenden ökonomischen Mittel als ästhetisches Potential begreifen.

Und zwar ohne dabei eine "Ästhetik der Armut" anzustreben - ganz selbstverständlich beanspruchen die Filme alles für sich, was das Kino zu bieten hat; insbesondere gilt das für "Adventures of Electric Rod Boy", wo die Hauptfigur gleich, nachdem sie mit den Bullys aufgeräumt hat, in die Zukunft reist, sich mit Weltraumvampiren anlegt, eine entfernt mit der "Metropolis"-Maria verwandte Roboterfrau kennenlernt; und sich möglicherweise außerdem in eine inzestuöse Liebesgeschichte verstrickt. So genau kann man das nach einmaliger Sichtung nicht sagen, vor allem, weil Tsukamoto nebenbei und vor allen Dingen ein Special-Effects-Feuerwerk sondergleichen abbrennt, das viele Attraktionen seines späteren Kultfilms "Tetsuo" vorweg nimmt.



Ein ganz anderer Tonfall prägt den Langfilm "Saint Terrorism". Der Regisseur des Films, Masashi Yamamoto, hat sich über die Jahre zwar ebenfalls professionalisiert, ist aber, anders als Ishii, Tsukamoto, Sono, im Geist und im Gestus seinen No-Budget-Anfängen bis heute treu geblieben. Diese unbedingte Außenseiterschaft sieht man auch "Saint Terrorism" an, einem Underground-Epos sondergleichen. Es geht in mehreren, sich nur gelegentlich überschneidenden Handlungssträngen unter anderem um eine Killerin mit Babyface und Pistole in der Handtasche; um Erektionsprobleme während Live-Sex-Shows; und um einen Toten, der als Geist die geschmacklose Wohnungseinrichtung seiner Ex kommentiert. Zwischendurch bleibt Zeit für Pinguinfütterungen. Am Ende wird jede Menge Blut die Pissoirs heruntergeflossen sein.

Ein Film, der sich im Dreck suhlt, aber auf einnehmende Weise. Yamamoto gelingt es, dem Chaos in einem Moment freien Lauf zu lassen, und es im nächsten gleich wieder in eine elegante, oft melancholisch grundierte Form zu bringen. Und wo die gleichwohl durchweg großartigen Filme seiner Kollegen gelegentlich durchaus etwas von masturbatorischen Jungsfantasien haben ("polish my rod" heißt es am Ende bei Tsukamoto), sind die Männer in "Saint Terrorism" buchstäblich Schlappschwänze und die wundervoll sarkastischen Frauen geben den Ton an.

Alle Filme mit Vorführterminen in der Forumsreihe "Hachimiri Madness" finden Sie hier.