Essay

Auf der falschen Seite des Geldes

Von Oleg Jurjew
10.09.2009. Oleg Jurjew verkauft am Weihnachtsabend an einer Straßenkreuzung einen schwarzen Kater, bekommt einen Zauberpfennig und erhält neue Einblicke in die mysteriöse Natur des Geldes, das immer verschwindet.
I. Heiligabend an der Kreuzung einen schwarzen Kater verkaufen

In vielen Folkloren der Welt existiert das Motiv einer Münze bzw. eines Scheines, also eines Geldstückes, das sich nicht ausgeben lässt. Es kehrt nämlich immer wieder zum Besitzer zurück. Die gekauften Waren und/oder Dienste bleiben dir aber - praktisch, nicht? - erhalten. Nur Wechselgeld darf man nicht nehmen (vergiß es an der Theke oder gib es als Trinkgeld: Stimmt so!), sonst verliert das Geldstück seine Zauberkraft.

So ein dienliches Ding kann man durch die eine oder andere magische Operation mittlerer Diffikultät erwerben. Im Russischen beispielsweise muß man einen schwarzen Kater mit einer geteerten Schnur fesseln, sich Heiligabend zu einer bestimmten Straßenkreuzung begeben und den wild miauenden Kater einem Jemand (der erscheint sofort wie gerufen) für einen silbernen Rubel verkaufen (für genau einen - nicht weniger und nicht mehr, es werden ja Millionen geboten!). So beispielsweise beschreibt dieses Prozedere einer der wunderbarsten russischen Erzähler, Nikolai Leskow (1831 - 1895), in seiner Geschichte (1894), die in den deutschen Übersetzungen "Der Heckrubel", "Der Springrubel", "Der Wunderrubel" und "Der Zauberrubel" betitelt wird. Bleiben wir zur bequemeren Orientierung bei der letzten Bezeichnung - Zaubergeld (-münze, -groschen, -pfennig).

Bestimmt spiegelt dieses Märchenmotiv den (allzu-)menschlichen Wunsch, von allen materiellen Sorgen erlöst zu werden, es zeigt den Traum von einem eigenen Schlaraffenland. Einem Taschenschlaraffenland sozusagen. Wir wissen jedoch und auch das Märchen weiß es, daß so etwas nicht sein kann - in der gesamten Folklore kennen wir kaum einen Fall vom Besitz einer solchen wiederkehrenden Münze, der ein gutes Ende nimmt: Früher oder später verliert man die Münze und alles, was sie mitbrachte, und bleibt im Elend zurück. Als ob so etwas einfach nicht gemacht ist für uns. Das unterscheidet das Zaubergeld von anderen Zaubergegenständen, die Naturalien liefern - Tischleindeckdich und Konsorten.

...Nicht für uns, wirklich!? Für wen aber dann!?


II. Geld ist unheimlich. Heimlich wird es nie

Das Geld ist in der menschlichen Geschichte eine späte und im Prinzip immer noch unbegreifliche Erfindung. Was ist Geld, warum kauft es alles, woher kommt es und wohin geht es? - unseren Vorfahren schauderte es wohl vor all diesen Fragen, bis die Wirtschaftswissenschaft des 18.-19. Jahrhunderts uns (und sich selbst) überzeugt hatte, daß sie es erklären kann. Und seither schaudert es uns vor diesen Erklärungen.

Das Zaubergeld zeigt die Furcht des einfachen Menschen vor dem Zauber Geld. Eine andere (und allgemeinere) Manifestierung derselben Furcht ist der "Geldfetischismus", wie Karl Marx es zu nennen pflegte.

Vielleicht ist deshalb auch - eben wegen dieser Furcht und Vergötterung - das Motiv des Zauberpfennigs in der westeuropäischen Kunst und Philosophie wenig verbreitet. Denn welche metaphorische Grundlage bietet es an? Man identifiziert sich selbstverständlich mit dem Besitzer der Münze, und welchen Sinngewinn hat man davon außer moralischen und pragmatischen Plattitüden: Arbeite, erwarte keine Geschenke, nichts ist umsonst. Das wissen wir doch: Der große Gott Geld hat das vor Jahrtausenden verkündet!

Freilich bedeutet der Besitz eines Zauberpfennigs einen, wenn auch nur temporären, Sieg über die unheimliche Macht jenes allmächtigen Gottes; doch an einen solchen Sieg glaubt der westliche Mensch seit langem nicht mehr, und es kommt hinzu, daß er sich in der letzten Zeit mit dem Fetisch Geld ganz gut arrangiert hat. Das Idol ist relativ gnädig geworden. Selbstverständlich können (möchten) wir nicht sagen, daß es uns gut geht, aber... wird es nicht schlechter, sind wir zufrieden... Wozu müssen wir uns über irgendwelche herumspringenden Münzen noch Gedanken machen? Alles ist ohnehin klar: Mehrwert, Produktivität, Globalität - oder?

In der russischen Gegenwartsliteratur hingegen, die ich aus beruflichen Gründen systematisch beobachte, erscheinen fast jedes Jahr drei-vier Prosatexte und ungezählte Gedichte, die das Motiv des Zauberrubels thematisieren, benutzen oder tangieren. Das Motiv ist wieder aktiv. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß Rußland sich wieder (wie am Ende des 19. Jahrhunderts, als Leskows "Der Zauberrubel" entstand) in der Übergangphase vom Warenfetischismus zum Geldfetischismus befindet und die Russen sich immer noch nicht damit abgefunden haben. Zur Sowjetzeit war das ganz anders: In der klassischen (ideologischen) Sowjetgesellschaft der 30-er - 60er Jahre bestimmte nicht das Geld (der besiegte Gott des Kapitalismus) das Gewicht einer Person, sondern die direkte Nähe zur Macht, der direkte Anteil an ihr. Später, in der innerlich deideologisierten UdSSR der 70er-80er Jahre waren wieder nicht das Geld selbst, sondern Konsumgüter im Fokus des gesellschaftlichen Interesses; vollkommen verständlich bei der Mangelwirtschaft.


III. Zurück zum Hier und Jetzt; auf der falschen Seite des Geldes

Uns interessieren in erster Linie das Hier und Jetzt, und nicht die alten Geschichten aus dem Osten. Natürlich. Hier und jetzt leben wir. Und das Geld durchfließt jeden von uns hier und jetzt. Es kommt rein und geht raus... Nur wohin?

Drehen wir die Situation mit dem Zaubergroschen um. Sehen wir das Ganze nicht mit den Augen des Münzbesitzers, sondern aus der Perspektive eines Bäckers oder Metzgers, aus dessen Kasse das Zaubergeld flieht, und unser Gewinn an Erkenntnis ist immens. Alles wird interessanter und - die Hauptsache! - viel persönlicher. Wir sehen plötzlich, daß das Paradigma des Zaubergeldes die ganze Funktionsweise der westlichen Zivilisation widerspiegelt, und zwar in ihrer unmittelbaren Wirkung auf uns; nur sind wir nicht diejenigen, die mit der Zaubermünze zahlen, sondern diejenigen, die sie in Zahlung nehmen.

Wir sind keine Käufer. Wir sind Verkäufer, wie der alte Marx uns vorzuwarnen versuchte, doch unter dem Druck der Konsumpropaganda haben wir uns das bis heute nicht zu eigen gemacht. Wir verkaufen unsere Arbeit, unsere Zeit, unseren Körper. Und gelegentlich unseren schwarzen Kater, den aber nimmt uns keiner ab.

Für unsere Ware bekommen wir Geld, aber wo ist es? Das Geld verschwindet, das kennen wir alle. Derjenige, der das Geld an uns zahlt, bekommt es wahrscheinlich zurück. Er hat bereits die Ware, und das Geld scheint er auch zu haben. Das muß unser Geld sein, das seine Taschen füllt, wessen sonst?

Wir sind einfach AUF DER FALSCHEN SEITE DES GELDES gelandet.

Jemand anderes hat den Zaubergroschen, und wir leben von dem Wechselgeld, das er an der Theke vergessen, als Trinkgeld liegen gelassen hat: Stimmt so. - Danke, Herr Jemand. Im Prinzip leben wir vom Trinkgeld (das hier und jetzt großzügig geworden ist, wir sind... nein, nicht zufrieden selbstverständlich, aber... man kann leben...) Doch wer ist der andere, der Besitzer des Zaubergeldes, der anscheinend das ganze soziale und ökonomische System in Griff hat?

Auf diese Frage werden verschiedene Menschen verschiedene Antworten geben können - abhängig von ihren politischen und philosophischen Ansichten, Lebenserfahrungen, gesellschaftlichen Stellungen. Jeder weiß (oder glaubt zu wissen) wem er und was er verkauft - Arbeit, Zeit, Körper, den schwarzen Kater? Dem Arbeitgeber, dem Staat, dem Publikum? Der Sinn unserer Umdrehung: den zu finden, der den Zaubergroschen hat, jenen großen Anonymen. Der große Anonym wird sich aber nicht so leicht finden lassen, ehe überhaupt nicht, wenn "er" das nicht will, aber die Suche anzufangen und unterwegs neue Erkenntnisse zu gewinnen, ist sogar wichtiger. Man muß nicht unbedingt die da finden - sich selbst zu finden (zumindest unter einem etwas anderen Winkel zu betrachten) wäre auch nicht schlecht. Bereits die Möglichkeit, die wichtigste Frage unserer Zeit "Wohin geht das Geld" mit "Das Geld kommt zu denen da zurück" zu beantworten, bringt ein wenig Licht ins Dunkel unserer Verlorenheit. Auch bevor man die da näher definiert hat.

Das Erste, was uns dabei in den Sinn kommt, ist selbstverständlich die Kreditwirtschaft, "die Banken", die im allgemeinen Verständnis von heute die eigentlichen Bösewichte unserer Zeit sind. Ohne die "Kredithaie" reinwaschen zu wollen, muß ich sie jedoch aus dieser Geschichte ausklammern: Das Geld, das man von den Banken "ausgeliehen" bekommt, ist ein von uns teuer gekauftes Geld. Das ist kein Geld, das wir in Zahlung nehmen und später nicht mehr in der Kasse finden. Wir wissen, daß es später weg muß.

Es ist also nicht von den "Wucherern" die Rede. Es wäre auch zu leicht und uninteressant, die da für die da zu halten. Schließlich halten alle sie für die da.


IV. Im Land der Farmasonen

Unser Bild funktioniert auch auf makroökonomischer Ebene. Nur finden wir uns, als Bewohner des reichen Westens / Nordens, diesmal auf der richtigen Seite des Geldes, was die "persönliche falsche Lage" erträglicher macht und wohl finanziert. Der reiche Westen / Norden ist anscheinend im Besitz eines Zauberpfennigs, der immer wieder zurück kommt, egal wieviel Geld - sei es als Hilfe, sei es als Bezahlung für Rohstoffe oder billige Arbeitskraft - der Osten / Süden bekommt (Kredite klammern wir auch diesmal aus, obwohl sie unter Umständen eine Form von Schenkung oder Bezahlung darstellen, deren Rückzahlung nicht erwartet und nicht einmal erwünscht ist).

In dem Stammbaum der osteuropäischen Legenden vom wiederkehrenden Geld gibt es übrigens einen sehr zierlichen Zweig: der Glaube, daß irgendwo "im dreimalneunten Land, im dreimalzehnten Staat" - so nennt die russische Folklore ein Märchenkönigtum, ein Land der Wunder - gewisse "Farmasonen" (die volkstümliche Aussprache des Wortes "franc-maçons", "Freimaurer") leben. Die "Farmasonen", was in der russischen Umgangssprache des 19. Jahrhunderts zumeist einfach "Schurken", "Diebe" bedeutete, sind in ihrem "Farmasonen-Land" nämlich in Besitz des Zaubergeldes. Von dort kommt es, dort ist seine Heimat. Im 19. Jahrhundert mochte das Land der Farmasonen irgendein folkloristisches Königtum bedeuten, heute ist darunter eindeutig Europa zu verstehen, "das Land der heiligen Wunder", wie es von Fjodor Dostojewskij halb-spöttisch-halb-bewundernd genannt wurde. Genauer gesagt: die Europäische Union. Eben deshalb hat der Wunsch der ost- und süd-europäischen Länder, der EU beizutreten, einen mehr als deutlich sakralen, irrationalen Unterton - sie alle wollen auf die richtige Seite des Zaubergeldes. Die EU sei ein "Fortunati Glückssäckel", ein unerschöpflicher Geldbeutel, meinen nicht nur die "Anwärter" (der Meinung sind anscheinend auch die meisten Brüsseler Eurokraten), aber das ist ein etwas anderes Märchenmotiv, das uns metaphorisch in andere, obgleich auch sehr fruchtbare Ebenen führen würde, die mehr mit dem Verständnis des Geldes als Rohstoff zu tun haben, eines Naturpoduktes, das aus ungeklärten Gründen einigen Menschen und Völkern zur Verfügung gestellt wird. Niemandem schadet es also, daraus unendlich zu schöpfen. Das erklärt die Funktionsweisen der Etatbildung in manchen staatlichen und überstaatlichen Organen, läßt aber diesen Konflikt und diesen Kontakt mit geheimnisvollen Wesen vermissen, die hinter dem Bild des Zaubergelds stecken. Dieses Bild hat viel mehr mit der Natur des Geldes zu tun, von welcher wir hier reden, als mit der Natur des Menschen oder der Natur der Natur.

Das Motiv des wiederkehrenden Geldes zurück ins (kollektive) Bewusstsein zu rufen, scheint mir wichtig. Besonders hier, in der Heimat des Zaubergroschens, und jetzt, auf dem Gipfel seiner Macht. Ein Sinngewinn lohnt sich immer, wie uns die Menschheitsgeschichte lehren würde, wenn sie sich vor einiger Zeit nicht geweigert hätte, das zu tun. Die Geschichte befindet sich sozusagen im Lehrerstreik. Gottseidank nicht die Geographie: Die Farmasonen leben "im dreimalneunten Land, im dreimalzehnten Staat" - das wissen wir noch.


V. Die (post)marxistische (Zauber-)Formel

An dieser Stelle könnte ich meine Pflicht für erfüllt erklären: Das Motiv des Zaubergeldes ist zurück ins kollektive Bewußstsein gerufen worden. Das Weitere wäre nicht die Sache eines einzigen Autors, sondern des Zusammenspiels vieler Denker und Künstler aus verschiedenen Kulturen.

Was mich aber beunruhigt und nicht mit diesem Traktat aufhören läßt, ist das Schicksal des armen schwarzen Katers, der Heiligabend, mit einer geteerten Schnur gefesselt, wild miauend einem Jemand für einen Silberrubel an der Kreuzung von vier Straßen (von denen eine zu einem Friedhof führt) verkauft worden ist. Wozu denn braucht ihn dieser Irgendwer, wie geht es weiter mit ihm? Was wird aus ihm? Dem Kater, meine ich.

...Und plötzlich weiß ich es! Der Kater wird zu einem "Zauberhelfer" ausgebildet! Das ist in der Märchenwelt ein Wesen, das dem Helden hilft, seine Ziele zu erreichen. Häufig ist das ein Tier: ein Wolf, ein buckliges Pferdchen, ein Kater eben. Der gestiefelte Kater zum Beispiel.

...Kriegt jeder Kater Stiefel? Ich erlaube mir, daran zu zweifeln.

So oder so, unser schwarzer Kater wird nach der Ausbildung Folgendes zu vollbringen imstande sein: Er wird sich in jede beliebige Ware verwandeln und als solche von seinem Besitzer feilgeboten werden können. Ist er verkauft, wird er wieder zum Kater und kehrt zu seinem Besitzer zurück. Pfiffig, nicht?

Das ist auch ein sehr einleuchtendes Bild. Denn wir leben in einer konsumorientierten Welt, die uns unentwegt mit kurz darauf (in die Mülltonne, in den Keller, in die Vergessenheit, ins nichts!) verschwindenden Waren fraglicher Notwendigkeit beliefert. Auf mikro- wie makroökonomischer Ebene!

...Aber wenn sie sich wieder treffen, der schwarze Kater und die Zaubermünze? Wenn man für eine verschwindende und zum Verkäufer zurückkehrende Ware mit einem verschwindenden und zum Käufer zurückkehrenden Geld zahlt?

Was, wenn infolgedessen an Marxens Formel W(are) - G(eld) - W(are) noch einen K(ater) angegliedert werden müßte:

K - G - W = G - W - K, oder einfacher: K - K - K?

Wäre das eine sinnbildliche Konfusion oder ihr Gegenteil? Darüber hätten wir, die Ökonomen, Dichter und Philosophen, noch genauer nachzudenken.


VI. P. S.

Und was passiert, wenn die Besitzer des gesamten Zaubergeldes es gleichzeitig aus unseren Taschen, Kassen und Banken zurückpfeifen?

Richtig: eine FINANZKRISE.

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Oleg Jurjew, geboren 1959 in Leningrad, hat an der Leningrader Hochschule für die Finanzen und Wirtschaft studiert (Abt. "Wirtschaftliche Mathematik und Theorie der Systeme"). Seit 1991 lebt er in Frankfurt am Main als freier Autor. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Die russische Fracht".