Bücherbrief

Gespür für zart Empfundenes

06.12.2013. Ein Hundertjähriger macht Pläne für die Zukunft. Groucho Marx begegnet TS Eliot. Dostojewski und Strindberg treten zu einem Rededuell an. Perri Knize sucht den verlorenen Klang ihres Flügels. Norman Davies führt uns in verschwundene Reiche - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Dezember.
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Weitere Anregungen finden Sie den Büchern der Saison vom Herbst 2013 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2013, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in den Leseproben in Vorgeblättert und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Chico Buarque
Vergossene Milch
Roman
S. Fischer Verlag 2013, 208 Seiten, 19,99 Euro



Für alle, die über Weihnachten nach Brasilien ausrücken wollen: Die Geschichte des Landes und vor allem die rasanten Veränderungen Rio de Janeiros werden gespiegelt in den Erinnerungen Eulálios, der hundertjährig in einem Krankenhaus sein Leben Revue passieren lässt und zugleich Pläne für die Zukunft schmiedet. Für Andreas Breitenstein in der NZZ ein Meisterwerk: Dem Autor gelinge hier das Kunststück, die von Gewalt, Armut und Ungleichheit geprägte brasilianische Geschichte mit fragmentarischer Eleganz und sprachlicher Magie zu fassen, ganz so, wie in einem seiner Jazzstücke. Denn ja, Buarque ist identisch mit dem Musiker Buarque, und wenn sich der Roman nur ansatzweise so liest:



Elizabeth Strout
Das Leben, natürlich
Roman
Luchterhand Literaturverlag 2013, 400 Seiten, 19,99 Euro



Ausgangspunkt für Elizabeth Strouts Roman ist die wahre Begebenheit eines Mannes, der 2006 einen gefrorenen Schweinekopf in eine Moschee in Lewiston warf, in der somalische Immigranten beteten. Daraus entwickelt die Autorin eine komplexe Familiengeschichte, in der es neben dem adoleszenten Täter um dessen Mutter und ihre beiden Brüder geht, die als Anwälte in New York arbeiten. Thomas Leuchtenmüller bescheinigt Strout in der FAZ "Gespür für zart Empfundenes und Details" in der Schilderung ihrer Figuren und deren Beziehungen zueinander. Als Vetreterin des Regionalismus sieht Leuchtenmüller die Autorin in der Tradition von amerikanischen Literaturgrößen wie Mark Twain, William Faulkner und John Updike. Im WDR erklärt Christine Westermann den Roman zu einem der besten des Jahres, ärgert sich allerdings über den beliebigen deutschen Titel (im Original: "The Burgess Boys").

Craig Brown
Die Party des Jahrhunderts
101 wahre Begegnungen
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2013, 512 Seiten, 22,99 Euro



Was geschah, als Madonna Martha Graham begegnete? Worüber unterhielten sich Groucho Marx und TS Eliot? Oder Harry Houdini und Zar Nikolaus II., Marianne Faithfull und W.H. Auden? Letztere über Drogenschmuggel, erzählt Sam Leith im Guardian: "Do you pack them up your arse?" "Oh no, Wystan. I stash them in my pussy." All diese Begegnungen fanden wirklich statt. Der britische Satiriker Craig Brown hat sie aufgezeichnet - 101 Begegnungen von Berühmtheiten in jeweils 1001 Worten (zumindest in der englischen Ausgabe). SZ-Rezensent Fritz Göttler ist angenehm überrascht: Alles ist witzig, die Absurdität liegt im tatsächlichen Ereignis, nicht in der stilistischen Übertreibung. Der Humor ist "kekstrocken", lobt Leith. Und David Robson verspricht im Telegraph: Der Leser fühlt sich bei der Lektüre wie die "privilegierteste Fliege an der Wand".

Emil Hakl
Regeln des lächerlichen Benehmens
Roman
Braumüller Verlag 2013, 191 Seiten, 19,90 Euro



Dieser Roman könnte eine der Entdeckungen der Saison sein - dem kleinen Wiener Braumüller Verlag, sei dank. Ein auch immerhin schon fünfzigjähriger Sohn begibt sich mit der Urne seines Vaters, der immer von einer Reise ans Meer geträumt habe, auf einen Trip, den Jörg Plath in der NZZ als "furiosen Antiroman" feiert. Hakl heißt eigentlich Benesch, und als Biografie steht in der Wikipedia: "Benesch schloss seine Schule erst nach einer zehnjährigen Unterbrechung mit Drogenmissbrauch ab. Er war drei Mal verheiratet und ließ sich genauso oft wieder scheiden." Man muss sich von seinem offenbar ebenso sprunghaften wie melancholisch-amüsanten Roman treiben lassen, empfiehlt Plath: Ob der Autor seinen Helden in einer fulminanten und komischen Schilderung als Gleitsegler durch die Lüfte fliegen oder ihn mit der Urne seines Vater über das Schwarze Meer rudern lässt - immer wieder wird der Rezensent von Hakls pointierten Rhythmusgefühl in den Bann gezogen. Mit besonderer Rührung liest Plath die im Roman aufgezeichneten Telefongespräche zwischen dem Helden und seinem Vater.

Jamaica Kincaid
Damals, jetzt und überhaupt
Roman
Unionsverlag 2013, 240 Seiten, 19,95 Euro



Um den Zerfall einer langjährigen Ehe geht es in Jamaica Kincaids fünftem Roman: Mr. Sweet ist ein wenig erfolgreicher weißer Komponist aus großbürgerlichem Hause, Mrs. Sweet ist schwarz und kam einst auf einem "Bananendampfer" aus der Karibik in die USA. Zusammen haben sie zwei Kinder, aber jetzt bröckelt die Ehe, Mr. Sweet hat eine Jüngere. Die Parallelen zur Biografie der auf Antigua geborenen amerikanischen Autorin sind unübersehbar, aber Thomas Leuchtmüller rät in seiner hymnischen Besprechung in der FAZ dazu, den Fokus auf anderes zu richten, auf die plastischen und plausiblen Charaktere etwa, auf deren Suche nach Halt und Identität, auf ihre "unendlichen Gedankenströme", die sich über Seiten ergießen, und nicht zuletzt auf die Leistung von Brigitte Heinrich, die die "Herkulesaufgabe" der deutschen Übersetzung "elegant und effektvoll" gemeistert zu haben. NYT-Rezensent Dwight Garner tut das Buch als Racheroman an Kincaids Ex ab. In der Washington Post sieht Marie Arana das ganz anders: Kincaid "ist scharf und ehrlich. Nach zehn Jahren unerklärlichem Schweigen, kommt sie mit mächtigem Gebrüll zurück."

Vitomil Zupan
Reise ans Ende des Frühlings
Blitz in vier Farben. Roman
Wieser Verlag 2013, 248 Seiten, 21,00 Euro



FAZ-Rezensent Elmar Schenkel ist hochbeglückt über diese Entdeckung des Wieser Verlags. Der slowenische Autor Vitomil Zupan erzählt in diesem, in den 30er Jahren erschienenen Roman die Geschichte eines Gymnasiallehrers, der durch einen poetisch begabten Schüler aus seinem Alltag geschubst wird. Obwohl: einen Roman mag Schenkel das kaum nennen. Hier kann man die frühe Literatur-Avantgarde der Moderne in ihrer ganzen Pracht und Frische bewundern. Zupan torpediert das Genre mit Autobiografischem, Assoziativem, Rhythmischem und Lyrik, so Schenkel. Darüber hinaus verdreht er dem Rezensenten mit der Spiegelbildlichkeit von Erzähler und erzählter Figur den Kopf und lässt auch mal Dostojewski und Strindberg in einem von Sprit und Parfüm befeuerten Rededuell gegeneinander antreten. Im DradioKultur rühmt Jörg Plath die "atemlose, Innen- und Außenwelt, Prosa und Lyrik miteinander verschmelzende Erzählweise", die gewagter als die Svevos sei. Wer durch diesen Roman ordentlich angefixt ist, mag vielleicht noch einen Blick auf die weiteren Bände der "Slowenischen Bibliothek" werfen, die die Verlage Verlage Drava, Mohorjeva-Hermagoras und Wieser gemeinsam herausbringen (ein Toast auf alle drei!). Jörg Plath stellte die Bibliothek in der NZZ vor.


Sachbuch

Neil MacGregor
Shakespeares ruhelose Welt
C. H. Beck Verlag 2013, 347 Seiten, 29,95 Euro



Neil MacGregor, Direktor des British Museum, ist in Deutschland kein Unbekannter mehr. Seine "Geschichte der Welt in 100 Objekten" war hierzulande ein kleiner Bestseller (wie in vielen anderen Ländern auch). Jetzt hat er eine Kulturgeschichte der Shakespeare-Zeit vorgelegt, die die Rezensenten fasziniert durchgeblättert haben. Mithilfe von 20 Objekten - einem Kelch, einer Gabel, einer Mütze - lernen wir Shakespeare mit den Augen seiner Zeitgenossen zu sehen, erklärt FAZ-Rezensent Hubert Spiegel, der das höchst spannend und gut verständlich präsentiert findet. Großes Lob auch von Christopher Schmidt in der SZ und Christian Thomas in der FR. Lesenswert dieses Interview in der Welt, in dem MacGregor erzählt, dass es ihm vor allem darauf ankam, die Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen zu entdecken, warum MRRs Rede vor dem Bundestag 2012 einer der Auslöser für das Buch war, und warum er in seinem neuen Projekt Deutschland betrachten will.

Andrea Stoll
Ingeborg Bachmann
Der dunkle Glanz der Freiheit. Biografie
C. Bertelsmann Verlag 2013, 384 Seiten, 22,99 Euro



Die erste ausführliche Biografie über Ingeborg Bachmann wurde von den Kritikern sehr unterschiedlich aufgenommen. In der FAZ lobt Sandra Kegel den neuen Blick auf Bachmann. Die verstand ihr Bild in der Öffentlichkeit durchaus auch als Inszenierung, lernt Kegel. Daneben konnte sie aber auch eine fröhliche, gänzlich unkapriziöse Frau sein. NZZ-Rezensentin Beatrice von Matt schätzt vor allem, dass Autorin Andrea Stoll Einblick in bisher unbekannte Dokumente nehmen konnte und Bachmann als "widersprüchlichen Menschen" zeichnet. Die Beschreibung Max Frischs findet sie allerdings entstellend. Dem SZ-Rezensenten Helmut Böttiger ist das Buch zu hagiografisch. Für die Autorin sei Bachmann von Anfang an vollendet - so vollendet, dass sie nicht einmal den Einfluss Paul Celans auf ihre Lyrik recht würdigen könne. Trotz allem aber empfiehlt Böttiger die Lektüre, weil Stoll Zugang zu bisher ungeöffnete Archiven hatte - etwa zu den Familienbriefen Bachmanns.

Perri Knize
Der verlorene Klang
Die Geschichte einer Leidenschaft
dtv 2013, 536 Seiten, 16,90 Euro



Die amerikanische Journalistin Perri Knize hat sich einen Flügel gekauft, dem irgendwie, irgendwo auf dem Transportweg der "richtige" Klang abhanden gekommen ist, berichtet Wolfram Goertz in der Zeit. Knize habe sich auf die Suche nach ihm gemacht: mit Klavierstimmern und -bauern gesprochen, in Foren recherchiert, sich mit Gurus und anderen Sonderlingen herumgeschlagen und das ganze Unterfangen in ihrem autobiografischen Reportageroman "Der verlorene Klang" festgehalten, erklärt der Rezensent, den es fasziniert, wie ansteckend Knizes Enthusiasmus ist und wie gut es ihr gelingt, das Ohr des Lesers für die verschiedenen Klänge eines Klaviers zu schärfen. Wer ein Klavier hat, wird nicht umhin kommen, es nach der Lektüre stimmen zu lassen, warnt Goertz. Und außerdem kommt man so von New York ins traurige Städtchen Braunschweig, wo stets noch Grotrian-Steinweg seine unter Insidern hoch angesehen Klaviere und Flügel herstellt.

Hugh Raffles
Insektopädie
Matthes und Seitz 2013, 380 Seiten, 38 Euro



Der in Amerika lehrende britische Anthropologe Hugh Raffles erzählt in seinem Buch von Insekten, die überall sind und uns oft so nah wie kein anderes Lebewesen. Eine rundum fröhliche Wissenschaftslektüre verspricht FAZ-Rezensent Helmut Mayer, der sich sehr gern auf Lebensmittelmärkte in Afrika, Tiermärkte in China und in die japanische Popkultur mitnehmen ließ. Auf 3sat erzählt Stefan Zucker, wie er im Buch chinesische Grillenzüchter kennenlernt, die ihre Insekten für Wettkämpfe einsetzen: "'Sie trainieren sie und machen sie für den Kampf gelenkiger - und sie arbeiten an ihren Persönlichkeiten', so Raffles. 'Es ist ein extensives Training.'" Wunderschön geschrieben und pervers eklektisch, verspricht in der New York Times Wissenschaftsautor Philip Hoare. Einen Eindruck vom Buch und Charme des Autors gewinnt man in diesem Video:



Nick Bilton
Twitter
Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat
Campus Verlag 2013, 335 Seiten, 24,99 Euro



Das Buch scheint ein Glücksfall zu sein unter den häufig rasch zusammengeschriebenen Büchern über junge Unternehmen. Joachim Hentschel preist es in der SZ als einen Abenteuerroman. Das liegt für ihn an der Detailgenauigkeit, mit der der New-York-Times-Journalist Nick Bilton die "seifernopernhaften Verstrickungen" zwischen den Twitter-Gründern aufdeckt. Gegründet wurde der Dienst 2006 von Jack Dorsey (damals 30), Biz Stone (32), Evan Williams (34) und Noah Glass. Heute hat Twitter einen Börsenwert von 16 Milliarden Dollar. Hentschel ist beeindruckt von Biltons enormer Fleißarbeit, die das Auswerten zahlloser Interviews, Akten und sämtlicher Twitternachrichten der Funktionäre erfordert haben muss. Auch Andrea Diener ist in der FAZ dankbar dafür, dass es sich bei den Twitter-Gründern um regelrechte Drama-Queens handelt, die das Buch für sie nicht nur instruktiv, sondern höchst unterhaltsam gemacht haben.

Norman Davies
Verschwundene Reiche
Die Geschichte des vergessenen Europa
Theiss Verlag 2013, 926 Seiten, 39,95 Euro



Norman Davies ist ein höchst produktiver Historiker. Im Perlentaucher ist er mit fünf schwergewichtigen Büchern vertreten. Große Erfolge feierte er mit seinem Büchern über Polen - einer Studie über den Warschauer Aufstand und einer großen Geschichte Polens. Hier erzählt er nun die Geschichte verschwundener Reiche, des stolzen Alt Clud etwa, heute ein heruntergekommener Landstrich in Schottland, und des Burgund, das einst Johan Huizinga im "Herbst des Mittelalters" besang. Dieser fast 1000-seitige Wälzer macht süchtig, muss ein Burkhard Müller auf Entzug in der SZ gestehen. Ihn faszinierte vor allem, dass die Geschichte hier nicht von ihren Ergebnissen her gelesen wird: Dass die Geschichte Europas voll von Zufällen ist, dass uns ihr östlicher Teil zu wenig interessiert, dass Burgund mehr bedeutet als Wein - all das lernt der Rezensent auf über 1000 Seiten. Und wenn ihn das Buch manchmal an Fantasy erinnert, holen ihn die von Norman Davies sorgfältig recherchierten Fakten wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Im DradioKultur erklärt Davies im Interview, warum alle Staaten sterben müssen.