9punkt - Die Debattenrundschau

Ich hab mich halt auf Gott verlassen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2015. In Le Monde erläutert Jonathan Israel seine Genealogie der radikalen Aufklärung. In Italien wird laut Presse das Grab Dantes beschützt - aus Angst vor Anschlägen belesener Dschihadisten. Welt und FAZ zitierten Gerhard Richter, der mit dem Gedanken spielt, Leihgaben aus Museen abzuziehen und schnellstens "zu verkloppen", um dem Kulturgutschutzgesetz zuvorzukommen. Und Lena Dunham plant einen Newsletter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.07.2015 finden Sie hier

Ideen

Der faszinierende Philosoph und Ideenhistoriker Jonathan Israel, Autor eines monumentalen Werks über radikale Aufklärung, ist in Deutschland bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Im Gespräch mit Marc-Olivier Bherer von Le Monde kritisiert er das französische Bild von der Französischen Revolution, das viel zu sehr auf Sozial- und zu wenig auf Ideengeschichte aus sei, und er erläutert seine Genealogie der "radikalen Aufklärung": "Statt die Aufklärung aufs 18. Jahrhundert zu beschränken, dehnt sie die Zeitgrenzen bis zum 17. Jahrhundert und findet ihren ersten Vorschein bei Spinoza. Die radikale Kritik der monarchischen Macht, die auf göttlichem Recht basiert, kann so in ihrer Ganzheit und Vielfalt angegangen werden, und es kann gezeigt werden, wie sie die Länder verändert hat."
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Gesellschaft

In einer Reportage berichtet Annette Ramelberger in der SZ über den Prozess gegen Harun P. - "ein Münchner Vorstadt-Strizzi, ein bisschen kriminell, ein bisschen charmant" -, der sich in Syrien dem IS anschloss und in München nun wegen Mordes angeklagt ist. Die Befragung durch den Richter verlief so: "Harun P.: "Ich dachte, ich kann bedürftigen Leuten helfen, Spenden, Kleidung und Essen bringen." - Richter: "Wo hätten Sie das einsammeln wollen?" - Harun P.: "Da gingen doch Konvois mit Kleidern runter." - Richter: "Und Sie sortieren dann die schmutzige Unterwäsche vom Container? Oder wollten Sie bei Assad klingeln und sagen: Baschir, so geht das nicht?" - Harun P.: "Ich dachte schon, wenn es nicht anders geht, würde ich auch kämpfen. Ich hab mich halt auf Gott verlassen." - Richter: "Das geht in der Regel in die Hosen.""

Bernd Pickert erzählt in der taz, wie der geflohene Drogenboss Joaquin Guzmán Mexikos Präsidenten oder auch Donald Trump via Twitter beschimpft: "Zwar weiß niemand, ob das Twitterkonto echt ist. Es ist aber auch egal: @ElChap0Guzman hat 386.000 Follower."

Markus Bauer berichtet in der NZZ von der Empörung in Rumänien, nachdem der rumänische Schriftsteller Nicolae Breban mit seinen recht aggressiven Bemerkungen über den Leiter des Rumänischen Kulturinstituts, Horia-Roman Patapievici, hergezogen ist: "Mit ziemlicher Verzögerung versuchte Breban, nachdem ihm der Sturm der Entrüstung ins Gesicht geweht war, das mit dem Erschießen als "Metapher" hinzustellen."
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Geschichte

Der von Lothar von Trotha geführte Krieg gegen die Herero und Nama in Sudwestafrika war für den Historiker Jonas Kreienbaum zwar durchaus ein Vernichtungskrieg, wie er in der taz schreibt, die dortigen Konzentrationslager will er jedoch nicht mit den Vernichtungslagern der Nazis gleichsetzen: "Das Massensterben in den kolonialen Lagern in Südafrika wie in Südwestafrika war nicht die Folge einer gezielten Vernichtungspolitik. Die hohen Todesraten von insgesamt wohl über 40 Prozent in den deutschen und bis zu 25 Prozent in den britischen Lagern war die Folge von logistischen Problemen bei der Versorgung, dem Desinteresse der verantwortlichen Militärs an Gefangenenfragen, mangelndem Wissen über Krankheiten wie Masern und Skorbut und dem Wunsch der Arbeitskraftausbeutung der Internierten. Im südlichen Afrika die Erfindung des Vernichtungslagers zu wähnen, verkennt die historische Realität."

Cathrin Kahlweit begrüßt in der SZ, dass es Timothy Snyders Buch "Bloodlands" über Hunger, Tod und Vernichtung in Weißrussland und der Ukraine jetzt auch auf Russisch gibt, als eine Art Samisdat-Ausgabe von der Ukraine ins Netz gestellt und von der amerikanischen Botschaft finanziert.
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Politik

Simone Brunner stellt im Standard den russischen Karikaturisten Anton Tschadski vor, der mit seinem Watnik eine böse Satire auf die politische Stimmungslage in Russland zeichnete und dafür quasi ins Exil nach Kiew gehen musste: "Die Figur des Watnik, ein graues Knäuel auf zwei Beinen, klopft gerne derbe Sprüche. "Du Schweinehund - liebe Stalin! Sei ein Patriot!" - "Der Westen verfault - Russland erlebt seine Wiedergeburt!" Er liebt Verschwörungstheorien, hasst den Westen, trinkt, flucht und prügelt sich gerne. Ein graues Viereck, mit einer roten Trinkernase und einem blauen Auge, von den Nationalfarben der russischen Trikolore unterlegt: "1/3 Hass, 1/3 Dummheit und 1/3 Neid.""
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Kulturpolitik

Islamisten hassen Kultur und Geschichte. Nach dem Attentat auf das italienische Konsulat in Ägypten schützen die italienischen Behörden nun das Grab des großen Dante in Ravenna, in dessen "Göttlicher Komödie" der Prophet Mohammed nicht so gut abschneidet, berichtet die Presse mit Agenturen: "Mohammed befindet sich in Dantes Meisterwerk im neunten Kreis der Hölle und wandelt wie andere Stifter von Zwiespalt in zerrissener Gestalt, sein Körper wird von Teufeln zerfetzt und immer wieder neu hergestellt."

Künstlerfürsten und Galeristen fürchten durch das geplante Kulturgutschutzgesetz, das die Ausfuhr von national bedeutsamen Kunstwerken erschwert, um ihre Profite aus dem boomenden Kunstmarkt. Georg Baselitz hat bereits annonciert, Leihgaben aus deutschen Museen abzuziehen. Julia Voss zitiert in einem Hintergrundartikel in der FAZ Gerhard Richter, der Ähnliches androht: "Man hoffe auf "wesentliche Korrekturen" sonst würde auch er seine Bilder "aus den Museen holen, schnellstens auf den Markt bringen und verkloppen"." In einem zweiten Zitat macht Richter darauf aufmerksam, dass sich deutsche Museen vor Leihgaben kaum retten können - Grund ist offenbar, dass man so Erbschaftssteuer umgehen kann.

In einem zweiten Artikel erläutert der Sammler und Rechtsanwalt Harald Falckenberg juristische Hintergründe.

Auch die Welt, die Statements von Sammlern und Künstlern gesammelt hat, zitiert Richter: "Das Gesetzesvorhaben ist absurd. Es ist absurd, überhaupt nationale Grenzen für die Kunst zu ziehen. Die Dresdner Museen werben mit dem wunderbaren Spruch: Ein großes Haus voller Ausländer. Hätte es früher solche Gesetze gegeben, sähe es in unseren Museen doch sehr traurig aus."
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Internet

(Via Mashable) Erstaunlich: E-Mail-Newsletter werden mehr und mehr zum Ding der Stunde (man denke nur an das Brussels Playbook von Politico und den Checkpoint des Tagesspiegel). Nun kündigt Lena Dunham, die Erfinderin der Serie "Girls", in Buzzfeed einen E-Mail-Newsletter für junge Frauen an: "Wir wollen Leute mit total unterschiedlichen Interessen", sagt sie im Gespräch mit Anne Helen Petersen. "Leute, die über linke Politik reden wollen und gleichzeitig über Mode und über Rihanna, und die auch kapieren, dass all diese Dinge gleichzeitig passieren." finanziert werden soll der Newsletters durch die Werbung bezahlbarer, aber dennoch origineller Modelabels.

Sandra Rendgen berichtet in der SZ, dass Museen und Bibliotheken ihre Bestände mittlerweile zu Abermillionen digitalisiert haben, nun aber nicht recht wissen, wie sie ihre Schätze an die Öffentlichkeit bringen sollen. Allein bei der Europeana seien 44 Millionen Objekte online abrufbar. Und auf Spiegel Online erklären Markus Böhm und Moritz Stadler, warum man auf Mozilla keine Flash-Videos mehr sehen kann.
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Medien

Dass Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer den Lesern seinen verunglückten Griechen-Titel erklärte, bringt Silke Burmesters Vorstellungen von Journalisten und Leitfiguren in der taz ganz durcheinander: "Man muss sich nur vorstellen, Axel Springer oder Rudolf Augstein erklären ihren Titel: "Die nackten Brüste der Frauen stehen für den Wunsch nach Ausreise aus der DDR.""

Heise.de zitiert Zahlen des Zeitungsverlegerverbands, nach denen die Zahl der Epaper- und Paid-Content-Angebote steigen: "Optimistisch beurteilten die Zeitungsverleger die Entwicklung bei den Bezahlangeboten im Internet. Im Moment forderten 107 Verlage von ihren Lesern Geld für die Nutzung der Webangebote, ein Jahr zuvor seien es erst 73 gewesen. Bis Jahresende rechnet der BDZV mit mindestens 120 Zeitungen."

Stefan Winterbauer von Meedia hat bei der Jahresversammlung der Zeitungsverleger auch die Rede des Vorsitzenden Dietmar Wolff gehört und bekennt seine Skpesis: "Immerhin gesteht Wolff ein, dass das Geschäftsmodell der Zeitung weiterentwickelt werden muss. Die Frage nach der langfristigen Refinanzierung von Qualitätsjournalismus im digitalen Zeitalter sei eine der großen Herausforderungen, denen sich die Zeitungsbranche stelle. Da hat er wohl recht. Ob es dabei hilft, immer nach der Politik zu rufen und auf Google zu schimpfen, darf bezweifelt werden."

Frank Überall beschreibt in der taz, wie Firmen die darbenden freien Journalisten für ihre PR-Strategien einsetzen und nennt das Beispiel einer Dating-Firma, die schlicht anbietet: "Erscheint der Text im NRW-Regionalteil der Welt am Sonntag, gebe es 250 Euro, in der taz 500 Euro, eine Veröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung ist der Firma sogar 600 Euro wert. Das Geld soll an den freien Journalisten fließen, ganz gleich, ob der Artikel positiv oder negativ ist. Wichtig ist nur, dass die Webseite genannt und der Beitrag im Internet verlinkt ist."

Weiteres: Anita Singh meldet im Telegraph, dass sich viele Prominente in einem offenen Brief an den britischen Premier David Cameron wenden, um die BBC gegen Budgetkürzungen zun verteidigen: "Eine reduzierte BBC würde ein reduziertes Britannien bedeuten." Christian Meier berichtet in der Welt über Untersuchungen des Bundeskartellamts bei den Produktionsfirmen von ARD und ZDF: Wie die Sache auch ausgeht, fände er es grundsätzlich "wünschenswert, wenn das öffentlich-rechtliche System die unabhängige Produzentenlandschaft mitsamt ihren Dienstleistern förderte, statt sie langsam zu ersticken". Auch die FAZ greift das Thema auf ihrer Medienseite auf.
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