Vorgeblättert

Leseprobe zu Jeff Jarvis: Was würde Google tun? Teil 2

16.04.2009.
Der Massenmarkt ist tot -lang lebe die Masse an Nischen

»Massen bestehen aus anderen Menschen«, erklärte der Soziologe Raymond Williams in seinem 1938 erschienenen Buch Culture and Society. »Tatsächlich gibt es keine Massen. Es gibt lediglich Möglichkeiten, die Menschen als Massen zu betrachten.«
     Die Werbebranche, Herstellerfirmen, der Einzelhandel, Medienkonzerne und Politiker halten es für angebracht, uns als Massen zu betrachten. Darin besteht das Wesen ihres Geschäfts lebens, ihrer Produktivität, ihres Wirkungsbereichs und ihrer Massenproduktion. Wir sind ihre kritische Masse. Sie betrachten unsere neu entdeckte Macht als großes Ärgernis, sogar als Bedrohung. Denn wir heben uns aus der Masse hervor, handeln wie Individuen, schließen uns in unseren eigenen Netzwerken zusammen und setzen uns per Google-Suche über sie hinweg - sei es, um mit ihnen zu konkurrieren oder um uns über sie zu beschweren.
     Die auf Massen ausgerichteten Wirtschaftszweige und Institutionen befürchten nun eine »Fragmentation« - ein Begriff, der von denen geprägt wurde, die den Massenmarkt kontrollieren. Hier draußen auf dem Markt dagegen bezeichnen wir das als »Auswahl«. Gebt uns mehr zur Auswahl und wir werden davon Gebrauch machen. Wir werden uns ange zogen fühlen von unseren eigenen Interessen, Vorlieben und Communitys. Der Urzustand des Lebens, des Handels und der Medien besteht in der Auswahl.
     Die drohende Verschiebung weg von der Massenwirtschaft schildert Chris Anderson sehr anschaulich in seinem 2006 erschienenen, zeitkritischen Werk The Long Tail. Anderson erklärte, da das Internet die Mittel bereitstelle, eine grenzenlose Vielfalt an Inhalten zu erzeugen, ausfindig zu machen und zu beachten, sei der Handel künftig weniger abhängig von Massenware. Nur ein sehr kleines Publikum wird sich wohl einen einzelnen Film darüber ansehen, wie man Schmetterlinge fängt. Wenn wir jedoch ein grenzenloses Angebot an derart zielorientierten Inhalten schaffen und uns anschauen, summiert sich das gesamte Publikum all dieser Nischen und stellt einen beträchtlichen Anteil an Aufmerksamkeit. 2008 forderte Anita Elberse in der Harvard Business Review Anderson heraus, indem sie behauptete, seine Theorie hielte einem Praxistest nicht stand, da eine geringe Anzahl an Titeln immer noch einen großen Anteil an Beachtung und Verkäufen verzeichne. Geschickt und höflich nahm Anderson in seinem Blog LongTail.com zu ihrem Einwand Stellung und deutete einige von Elberses Daten und Definitionen um. Er wollte demonstrieren, dass die Masse seiner Beurteilung nach tatsächlich ein Faktor sei: Die Konsumenten kaufen zwar nach wie vor zahlreiche Exemplare einer begrenzten Anzahl von Hit-CDs bei Wal-Mart, dennoch ist eine nennenswerte und wachsende Aufmerksamkeit gegenüber Musik vorhanden, die nicht bei Wal-Mart verkauft wird.
     Eine richtungsweisende Arbeit hinsichtlich dieser Debatte ist, ob Sie es glauben oder nicht, eine PowerPoint-Präsentation: New Economics of Media von Umair Haque. (Um sie zu finden, googeln Sie »Haque new economics of media«. Darüber hinaus empfehle ich Ihnen auch seinen Blog, Bubblegeneration.com, der sowohl Anderson als auch mich beeinflusst hat.) Lassen Sie sich nicht abschrecken von den 107 Dias mit ihren verwirrenden Wirtschaftsdiagrammen. Haques Lektion ist eindeutig: Die Ära der Blockbuster ist vorbei. Wer auf die Kontrolle von Produktion, Vertrieb und Marketing setzt, um Geld zu verdienen, hat bereits verloren. Laut Haque gibt es im Zeitalter des Web 2.0 drei Quellen der Wertschöpfung: Offenbarung (die guten Sachen aufzustöbern), Zusammenfassung (Vernetzung 2.0) und Formbarkeit (Content zu schaffen, der sich erweitern lässt, beispielsweise durch Mashups). Diese Art Wirtschaft, so sagt er, erfordert Offenheit, Dezentralisation und Verknüpfung durch Nischen - nicht durch Blockbuster. Die neuen Chancen liegen im Schneeballeffekt.
     Ich kenne all die Gegenargumente: Die Oscar-Verleihung, Olympia, Harry Potter, Der Da Vinci Code, Top Models, Superstar, Wal-Mart. Ja, nebenher wird es weiter Blockbuster geben. Aber einigen wir uns auf folgende drei Faktoren: Die Instrumente, die jedermann die Möglichkeit geben, Waren oder Medien zu schaffen und zu verbreiten, werden eine nahezu grenzenlose Auswahl ermöglichen. Die Öffentlichkeit wird sich in höherem Maß dieser Auswahl bedienen. Die auf diese neue Fülle an Auswahl gerichtete Aufmerksamkeit und der daraus resultierende Wert werden steigen. Es gibt neue Gelegenheiten, diesen Überfluss zu gewährleisten, zu organisieren und zu Geld zu machen. Die Blockbuster-Strategie war schon immer ein riskantes Spiel. Sie weiter zu verfolgen, erhöht das Risiko. Der Massenmarkt lockert den Griff, in dem er die Wirtschaft festhält.
     Der Massenmarkt war ein kurzlebiges Phänomen. Er nahm seinen Anfang mit der Massenverbreitung des Fernsehens Mitte der 1950er-Jahre - und dem daraus resultierenden Aus für zweit- oder drittrangige Zeitungen in den meisten Städten Amerikas. Sowohl Fernsehsender als auch Printmedien lieferten Massenware nach dem Prinzip eine Größe für alle. Mitte der 1980er-Jahre, im Zeitalter der Fernbedienung, übertrug man mir die Fernsehkritiken für das People-Magazin, der letzten großen Zeitschrift Amerikas. Während des ersten Jahrzehnts galt People noch als Sahnestückchen: Ein Serienstar auf dem Cover und das Magazin verkaufte sich von selbst. Doch ich erinnere mich an den Tag, an dem das vorbei war. Pat Ryan, meine Redakteurin und Mentorin, schrie mir vom anderen Ende des Saals aus zu: »Das Fernsehen ist tot, Jarvis! Es ist tot!«
     Kurz vorher hatte sie das letzte einer ganzen Reihe schlechter Verkaufsergebnisse von Zeitschriften mit Fernsehstars auf der Titelseite erhalten. Sie waren keine Garanten mehr für Erfolg, denn es sahen sich nicht mehr alle Amerikaner dasselbe an. Die Nation wachte nicht mehr gemeinsam auf und fragte sich: »Wer schoss auf J. R.?« Während ich mir MTV ansah, lief bei Ihnen ein Dokukanal, meine Frau hatte den Sportkanal eingeschaltet, und die Kinder saßen vor einem neumodischen Videogerät mit blinkender »12:00« oder vor ihren Video spielen (ganz davon abgesehen, dass Internet und iPod erst noch kommen sollten). So mancher betrauert das Ende der vermeintlich gemeinsamen Erfahrung der Massenmedien und tut so, als hätten wir im Kreis um diese elektronische Feuerstelle herumgesessen wie bei einer gemeinsamen kulturellen Begegnung. Ich nicht. Ich weiß Alternativen zu schätzen.
     Die Zersplitterung der Medien stellte Geschäftsstrategien infrage. Werbeleute wollten uns nach wie vor en masse kaufen, deshalb mussten die Medien härter daran arbeiten, eine Masse zu finden, die ihren Ansprüchen genügte. In dieser Zeit begann People, den Schwerpunkt von der Karriere eines Stars auf das zu verlagern, was im Leben eines Stars geschah, und andere Zeitschriften folgten diesem Beispiel. Ich nannte das Körperflüssigkeiten-Journalismus: Storys über Prominente und ihre Tode, Krankheiten, Affären, Skandale, Hochzeiten, Kinder, Scheidungen. Die Machtverteilung im Bereich der Mainstream-Zeitschriften kippte - zumindest auf der Titelseite -von Nachrichten zu Berühmtheiten, von Journalismus zu Klatsch, von Redakteuren zu PR-Leuten, von Autoren zu Presseagenten. Die Stars erkannten, wie viel Geld ihre Namen und Gesichter den Zeitschriften einbrachten. Das war der Augenblick, in dem ihre PR-Leute das Ruder übernahmen. Bis dahin fungierten meistens Redakteure als Hüter der wertvollsten Ware: des Publikums. Dann jedoch wurden PR-Leute zu Wächtern eines noch wertvolleren Gutes: der Berühmtheiten. Sie verhandelten über Einblicke, Garantien auf die Titelseite, die Freigabe von Fotos, die Auswahl der Reporter und sogar darüber, wie viele und welche anwesend sein durften. PR-Leute bekamen eine solche Macht, weil nun sie den Schlüssel in der Hand hielten, der es Zeitschriften ermöglichte, ein großes Publikum anzusprechen. Alle Blätter schrieben über dieselben Promis und Skandale - lieferten immer mehr Massenware -, aber das lag daran, dass es weniger Themen gab, mit denen man ein breites Publikum ansprechen konnte. Zu viele von uns sahen sich lieber Dokumentationen an als den Denver Clan. Das wiederum brachte eine Veränderung des wirtschaftlichen Umgangs mit Fernsehinhalten. Sender, die mit ansehen mussten, wie ihr Publikum schrumpfte, konnten es sich umso weniger leisten, auf teure Serienformate zu setzen, geschweige denn auf Miniserien (erinnern Sie sich noch daran?). An diese Stelle trat das sogenannte Reality-TV, was nicht nur billiger, sondern noch sensationeller war.
     Was tritt an die Stelle der Masse? Die Gemeinschaft durch den Schneeballeffekt - die Masse an Nischen - wird diesen Platz einnehmen. Wir alle werden von Dingen, die unseren eigenen Interessen entsprechen, angezogen. Dank der neuen und preisgünstigen Instrumente, mit denen sich Inhalte für das Internet erstellen lassen, ist für jeden etwas dabei - und wenn nicht, können wir es selbst entwerfen. Die Vorstellung einer Welt mit 500 Fernsehsendern hat sich nie erfüllt. Stattdessen entstand ein Universum mit Milliarden Wahlmöglichkeiten. Wie der Web-Tracking-Service comScore für das Jahr 2008 herausfand, haben wir uns zehn Milliarden Videos pro Monat im Internet angesehen.
     Jeder Einzelne kam natürlich nicht an die Quote des Super Bowl heran. Zusammengenommen jedoch fanden diese zehn Milliarden Videos ein immenses Maß an Beachtung. Laut eMarketer lasen im Jahr 2007 94 Millionen Amerikaner 22,6 Millionen Blogs - das macht mehr aus als alle existierenden Zeitungen und Zeitschriften zusammen: Blogs zum Thema Stricken, Blogs über Herzkrankheiten, Nischen-Blogs darüber, wie man Nischen-Blogs schreibt. Während ich dieses Buch schreibe, existieren 2,3 Millionen Artikel bei Wikipedia, und es gibt neue Mitbewerber, beispielsweise die Star Wars-Version, Wookiepedia. Jeder und jedermanns Interessen sind im Internet vertreten.
     Die Werbebranche, davon abhängig, alles aus einer Hand zu liefern, investiert nach wie vor gewaltige Summen in das Fernsehen. Sie stehen in keinem Verhältnis mehr zu der Zeit, die wir Zuschauer im Vergleich zum Internet überhaupt noch vor dem Fernseher verbringen. Das kann nicht ewig so weitergehen. Schon bald werden Werbeagenturen wirklich etwas für ihr Geld tun müssen. Anstatt reflexartig Werbeblöcke zur Hauptsendezeit zu kaufen, werden sie Netzwerke kleinerer Medien mit kleineren Publikumsgruppen zusammenbringen müssen, die gemeinsam eine kritische Masse ausmachen. Diese Herangehensweise ist zwar anstrengender, aber auch zielgerichteter und effizienter. Was bringt Werbung für Windeln in einer Sendung, die ich mir anschaue - mit meinen Kindern, die bereits Teenager sind -, wo Pampers jetzt die Möglichkeit hat, stattdessen auf Mami-Blogs zu werben?
     Sobald die Werbebranche und Werbeagenturen den Tod des Massenmarktes eingesehen haben, wird online Geld fließen, das wiederum dazu dienen wird, neue Inhalte zu schaffen, die ein größeres Publikum anziehen werden, das dann seinerseits mehr Geld verdienen wird. Dieser Engelskreis wird weiter und weiter gehen, bis das Werbefernsehen nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Erfolgssendungen wird es immer geben - die Deal or No Deals, die man heutzutage als unser großes Gemeinschaftserlebnis betrachtet -, aber es werden nicht mehr so viele sein.
     Google hat verstanden, wie man das Universum der Nischen steuert und davon profitiert. Sie eröffneten der Werbebranche neue Wege, ganz spezielle Zielgruppen in genau dem Moment zu erreichen, wo sie maßgebliche Inhalte suchen und lesen. Noch revolutionärer ist im Vergleich zu den Bahnen der alten Medien die Tatsache, dass Google nicht die Augenpaare - also die Größe des Publikums - in Rechnung stellte, sondern Klicks -also Handlungen. So konnten Werbekunden die Reaktion auf ihre Investition messen, anstatt zu gesichtslosen Massen zu sprechen, die vielleicht oder vielleicht auch nicht gerade zu hörten. Und noch etwas Revolutionäres: Im Gegensatz zu den alten Medien legte Google keine Werbetarife fest, sondern überließ es dem Markt, den Preis für Schlagwörter bei Auktionen zu regeln. Da Google profitiert, wenn mehr Anzeigen angeklickt werden, liegt es in Googles Interesse, die Zielgerichtetheit und Effektivität stetig zu verbessern. Dadurch erhöht sich sowohl die Produktivität werbetreibender Unternehmen als auch Googles Gewinn. Dieser Engelskreis aller Engelskreise besteht darin, dass Google sein Imperium rings um den Untergang der Masse und den Aufgang der Nischen herum aufgebaut hat.
     Auch Sie müssen lernen, wie man den Wandel von Masse zu Nische vollzieht und wie man davon profitiert. Wenn Sie nach wie vor Massenware verkaufen, wird Ihnen das umso schwerer fallen. Wenn Sie eine Größe für alle Produkte herstellen, müssen Sie einsehen, dass sie doch nicht jedem passen. Die Kunden werden Ihnen mitteilen, was sie stattdessen möchten. Im nächsten Kapitel des Buches werden wir uns damit beschäftigen, wie man sich der Bewegung, die von den Massen wegführt, anpassen und daraus Kapital schlagen kann: wie Automobilfirmen uns bei der Produktion von Autos behilflich sein lassen sollten, wie Einzelhändler uns dabei helfen könnten, einzigartige Ware ausfindig zu machen, wie Universitäten uns dabei unterstützen sollten, Bildung zu erwerben. Die Verschiebung weg von der Masse bedeutet tatsächlich eine Verlagerung der Macht von oben nach unten, aus der Mitte an den Rand, von ihnen zu uns.
     Der Massenmarkt ist tot. Er hat Selbstmord begangen. Google hat ihm lediglich die Waffe gereicht.

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