Efeu - Die Kulturrundschau

Notieren ist der Tod

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08.08.2016. Die FAZ betrachtet mit Susan Sontag Fotografien von Thomas Mann. Die Zeit schaut sich in Berlin atmende dissidente DDR-Kunst an. Außerdem stellt sich Durs Grünbein in der Zeit vor, Hitler-Briefmarken abzulecken. Die SZ fordert mehr Frauen und mehr Schwarze im Ballett. Die FAS blickt in Anna Netrebkos russische Seele. Die Berliner Zeitung spricht mit Shermine Langhoff über postmigrantisches Theater. Und die Welt wird vom Pfund gebumst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.08.2016 finden Sie hier

Literatur

In der FAZ berichtet Kai Sina von einer im Nachlass von Susan Sontag gefundenen, in jungen Jahren verfassten Erzählung, in der sich die große Essayistin mit ihrer jugendlichen Begegnung mit Thomas Mann auseinandersetzt. Unter anderem geht es darin auch um das Verhältnis zwischen ihrer eigenen Erinnerung und einer Fotografie des Autors. Sina sieht darin ein frühes "hintergründiges Plädoyer für das wirklichkeitsstiftende Potential des Erzählens." Zudem zeige sich der Autorin "ein grundlegender Aspekt moderner Autorschaft: nämlich, wie bedeutend technisch erzeugte Bilder des Autors für das innere Bild des Lesers von diesem sind. Und kaum eine andere intellektuelle Figur des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich derart offensiv für die Kameras in Szene gesetzt wie eben Susan Sontag. Ihr damit verbundenes kritisches Nachdenken über das Medium der Fotografie (...) zeichnet sich bereits an dieser Stelle ab."

Durs Grünbein berichtet in einem von der Zeit online nachgelieferten Artikel davon, auf dem Dachboden auf seine Briefmarkensammlung aus Jugendtagen gestoßen zu sein. Darin sticht ihm vor allem Adolf Hitlers Konterfei ins Auge, der sich in allen Farben und Gebührenhöhen in dieser Sammlung befindet. Darüber gerät der Autor ins Grübeln: "Ich fragte mich, von wie vielen Millionen Menschen Hitler seinerzeit abgeleckt worden war, freiwillig oder nicht. Die Vorstellung hatte etwas Entsetzliches. Wenn es nicht das Schwammkissen am Postschalter war, dann musste eine Menschenzunge ihn auf der Rückseite befeuchtet haben. ... Jedes Mal war es der gleiche selbstvergessene Handlungsakt gewesen, etwas nahezu Affenhaftes wie das Lausen der Felle, das Ablecken eines Stöckchens, an dem Ameisen kleben, ein bedingter Reflex, wie es im hoch entwickelten, modernen Leben so viele gab. Wer sich dabei ertappte, war wohl für einen Augenblick beschämt, dachte auch kurz an die Ansteckungsgefahr, vergaß es aber sogleich und hatte das nächste Stück Wertzeichen bereits angefeuchtet."

Im Standard-Interview mit Mia Eidlhuber spricht der Autor Andreas Maier über sein konstruiertes Ich, sein neues Buch "Der Kreis", seinen Lektor Raimund Fellinger und seinen Schreibprozess: "Notieren ist der Tod. Ich notiere nie irgendetwas. Alles, was notiert ist, ist gestorben, weil es schon seine Form hat. Das größte Notizbuch ist unser Gehirn, sagt Proust, und da, im noch Ungeformten, soll es auch bleiben."

Mit Chuck Tingles absurden Schwulen-Pornos kann England inzwischen sogar über den Brexit lachen, schreibt Harald Peters in der Welt. Das Buch "Vom Pfund gebumst: Schwul geworden durch die sozioökonomischen Implikationen von Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union" erzählt etwa "von den Abenteuern des 25-jährigen Londoners Alex Liverbort, der von einer riesigen, höchst attraktiven Pfundmünze namens Gerber mit in das London der Zukunft genommen wird."

Weiteres: Das einst als Literaturwerkstatt von Peter Wohlfahrt gegründete Berliner Haus für Poesie wird fünfundzwanzig, schreibt Sieglinde Geisel in der NZZ. Seine Verdienste um die oft als unübersetzbar geltende Lyrik sind beträchtlich.

Besprochen werden unter anderem Wilhelm Genazinos "Außer uns spricht niemand über uns" (FR), Emma Clines "The Girls" (Tagesspiegel), Julia Decks "Winterdreieck" (Tagesspiegel), Eva Schmidts "Ein langes Jahr" (SZ) und Bonnie-Sue Hitchcocks "Der Geruch von Häuser aderer Leute" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Joseph Brodskys ihm gewidmetes Gedicht "Eine Postkarte aus Rio":

"Komm nach Rio, o komm nach Rio.
Iss Ananas und mach auf Bio.
Wer reich ist, wird reicher, wer arm ist, ärmer,
..."
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Kunst

(Bild: Performance Via Lewandowsky. Berlin, 1989
© Jochen Wermann
)

Die Zeit hat Hanno Rauterbergs Besprechung der Berliner Ausstellung "Gegenstimmen" über dissidente DDR-Kunst online nachgeliefert. Dass die Kunst des zweiten deutschen Nachkriegsstaates vom Museumsbetrieb für gewöhnlich gering geschätzt oder als bloß straatstragend abgetan wird, hält er für skandalös. Denn diese Kunst "atmet." Von Staatskunst könnte keine Rede sein, vielmehr war es "der staatliche Kontrollwahn, das zeigt die Ausstellung, der viele Künstler hineintrieb ins Verquere und Verträumte, sie suchten den Kontrollverlust. Es ist keine Rebellenkunst im engeren Sinne. ... Die Künstler [mussten], um subversiv zu sein, auch nicht zum blutig-barschen Arsenal westlicher Provokationen greifen; die Reizschwellen lagen sehr viel tiefer. Da reichte es manchmal schon, dass ein Fotograf seine Bilder nicht still und sorgsam komponierte, sondern absichtsvoll rau und schräg drauflosknipste wie Jörg Knöfel." Dazu flankierend gibt es im Künstlerhaus Bethanien die im Tagesspiegel besprochene Ausstellung "Ende vom Lied", für die sich ehemalige DDR-Künstler nochmals mit der einschneidenden Episode der Ausbürgerung Wolf Biermanns befassten.

In der Ausstellung "A World Not Ours", die sich auf der griechischen Insel Samos mit Fragen der aktuellen Flüchtlingskrise befasst, offenbaren sich Tazler Ingo Arend "die Aporien der Flüchtlingsästhetik, um die gerade künstlerisch gerungen wird. Fast alle Arbeiten ordnen sich dem verständlichen, ethischen Imperativ unter, das Leid dieser Menschen nicht ästhetisch auszubeuten, sachlich zu informieren und Empathie für die Schicksale zu wecken, sie wirken daher aber oft vorhersehbar."
Archiv: Kunst

Film

Im Welt-Interview mit Silvia Bizio spricht der Comic-Autor Stan Lee über wissenschaftliche Akkuratesse, den Trend zur Comicverfilmung und die Erfindung von Spiderman: "Ich beobachtete, wie eine Fliege an der Wand entlangkrabbelte, und dachte: Wäre es nicht schön, wenn auch ein menschliches Wesen das tun könnte?"

Wissbegierig hat Tazlerin Jenni Zylka einen Vortrag über den prognostischen Charakter von Star Trek besucht. Für die Berliner Zeitung spricht Ulrich Lössl mit Jude Law.

Besprochen wird Alberto Rodríguez' Thriller "La Isla Minima - Mörderinsel" (taz).
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Design

Im Tagesspiegel schreibt Jens Müller zum Tod des Möbeldesigners und Ausstellungsarchitekten Clemens Tissi.

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Stichwörter: Tissi, Clemens, Möbeldesign

Architektur

Im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt kann man in den Entwürfen von Future Systems und Archigram die "Zukunft von gestern" sehen, schreibt Christian Thomas in der FR. Wie Science Fiction mutet da mancher Stadtentwurf auch heute noch an. "Wohl auch deshalb kannte die Vorwegnahme der Zukunftstechnologien auf dem Papier keine Grenzen. Papier lässt das zu. ... Auch der 1937 in Prag geborene und 1968 aus der CSSR geflohene Jan Kaplický [opponierte] gegen die Konventionen der Architektur. Baukörper und Stadtgehäuse waren Ausdruck eines fidelen Zeitgeists, der sich an der allgemeinen Aufbruchsstimmung mindestens so stark interessiert zeigte wie an der Autonomie der Architekturzeichnung."

Für die FAZ besichtigt Andreas Rossmann die derzeit in Sanierung begriffene Johanneskirche in Bochum, die einzige Kirche, die der Architekt Hans Scharoun gebaut hat (mehr dazu hier).
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Bühne

Mehr Schwarze, mehr Frauen: In der SZ fordert Dorion Weickmann mehr Diversität in Ballett und Tanz: Denn Schwarze würden systematisch benachteiligt, während die Top-Choreografen dieser Welt fast ausschließlich weiße Männer sind. "Könnte eine Quotierung für Abhilfe sorgen? Choreografinnen, vom Ballettbetrieb ebenfalls benachteiligt, haben in England kürzlich entsprechende Forderungen erhoben. ... In der Szene wächst das Bewusstsein dafür, dass eine männlich beherrschte Kreativzone entsprechend stereotype Tanzfantasien hervorbringt."

Eleonore Büning plaudert in der FAS ausgiebig mit Anna Netrebko, die in Salzburg gerade in "Manon Lescaut" zu hören war (hier Bünings Besprechung). Unter anderem erfährt man auch, warum Netrebko eher ungern Wagneropern singt und 2018 deshalb, entgegen anderslautenden Gerüchten, auch nicht in Bayreuth auftreten wird: "Ich kann keinen deutschen Text memorieren", erklärt sie. "Mein Gehirn ist vielleicht doch zu Russisch organisiert, es ist dazu einfach nicht in der Lage. ... 'Einsam in trüben Tagen', okay, bis dahin. Silenzio, Schluss, wie es weitergeht, kann ich mir nicht merken. Ich bekam einen Teleprompter für die Elsa in Dresden. Christian Thielemann hatte es mir eingebleut, dass es auf die Worte ankommt. Er sagte, er wolle keine musikalischen Linien von mir hören, er wolle Tttexssssttt hören! Vokale! Konsonanten! Elsa war wirklich hart. Jetzt singe ich erst einmal Puccini."

In der Berliner Zeitung spricht Arno Widman mit der Co-Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters Shermin Langhoff über postmigrantisches Theater. Für sie ist das "der Versuch, die beiden, die vielen 'Kulturen' zusammenzubringen. Weil sie zusammen sind. In unseren Köpfen sind sie zusammen. In der Sehnsucht oder im Hass. Oder in einem Gemisch von beidem. Das gilt für die, die dazugekommen sind. Das gilt aber auch für die, deren Eltern und Großeltern schon hier lebten. Wir werden alle zu Mestizen und unsere Kultur mit uns."

Weiteres: Besprochen wird eine von Pannen heimgesuchte "Tosca"-Aufführung im Rheinsberger Heckentheater (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Musik

Früher galten Partys und Konzertbesuche mitunter auch als hedonistischer Akt der Opposition im Innern, heute gilt beides als patriotischer Akt gedeutet, stellt Felix Stephan auf ZeitOnline fest: "Im Kalten Krieg schrieb die europäische Gegenkultur das Gefühl permanenter Bedrohung nicht zuletzt der Kriegslust der eigenen Regierungen zu. Das ist allem Anschein nach vorbei: Die Popkultur schließt die Reihen, zieht die Zäune hoch und führt Verbote ein. ... Der Umgang der europäischen Regierungen mit dem Islamismus hat nun einen Bedeutungsrahmen geschaffen, in dem es plötzlich patriotisch ist, ein Metalfestival zu besuchen. Diese Logik kannte man bislang eher aus Ländern, deren Öffentlichkeit stark vom Militär geprägt ist."

Weiteres: Für die FAZ hat Guido Holze beim Rheingau Musik Festival Haydns Nelson-Messe und Mozarts Krönungsmesse angehört, die beide von Ton Koopman dirigiert wurden.

Besprochen werden ein Konzert der japanischen Geigerin Midori (Tagesspiegel) und das Debüt der Softpop-Band Whitney (SZ).
Archiv: Musik