Efeu - Die Kulturrundschau

Eine kleine, sehr mobile Orgie

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27.02.2015. Die Feuilletons trauern um den Kritiker Fritz J. Raddatz, der sich gestern mit 83 Jahren das Leben genommen hat: Die FR würdigt sein intellektuelles Feuerwerk, die FAZ seine Liebesfähigkeit. So einen wie ihn wird es nicht mehr geben, erklärt die SZ. Außerdem: Die NZZ stellt den ghanesisch-britischen Architekten David Adjaye vor. Die FAZ feiert den viktorianischen Maximalismus der Londoner Modedesignerin Mary Katrantzou. Pitchfork hört die ultimative Zombieband.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2015 finden Sie hier

Literatur


Fritz J. Raddatz im Jahr 2003 bei der Frankfurter Buchmesse auf dem "Blauen Sofa". Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann. Unter CC-Lizenz bei Flickr gefunden.

Große Trauer um den Literaturkritiker, Schriftsteller und langjährigen Zeit-Feuilltonleiter Fritz J. Raddatz, der sich gestern mit 83 Jahren nach mehrfachen Ankündigungen tatsächlich das Leben genommen hat. In der FR erinnert sich Arno Widmann an den "buntesten Vogel der Bundesrepublik": "Er hat es getan. Warum? Ich weiß es nicht. Wenn wir sprachen, war er hellwach, ungeheuer präsent, schlagfertig und keine Viertelsekunde ein Greis. Wenn wir nach zwei Stunden aufhörten, hatte ich das Gefühl, er hätte noch stundenlang weitermachen können und er hätte nicht etwa nachgelassen, sondern hätte sich immer mehr in Schwung geredet. Das langsame Verfertigen der Gedanken beim Reden war nicht seine Sache. Sein Gehirn war ein Flipperautomat, in dem viele Kugeln unterwegs waren und dauernd krachte und flackerte es. Die Einfälle purzelten über einander, eine kleine, sehr mobile Orgie." (Man kann das sehr schön nachempfinden in dem Interview, das Widmann noch Ende Januar mit Raddatz geführt hat.)

Große Sympathie und Trauer auch bei Volker Weidermann in der FAZ: "Dass die Liebe am Anfang stehen muss, wenn man ein guter Kritiker sein will, das hat er immer gewusst und immer propagiert. Ohne Liebe, ohne Bewunderung, ohne die Gabe, sich erschüttern lassen zu können, beim Lesen oder Betrachten eines Kunstwerks, ist alles nichts. Und dass man etwas weitertragen muss, in dem was man schreibt, in dem was man tut."

Außerdem: Im taz-Nachruf würdigt Martin Reichert Raddatz zwar als einen der zentralen Großkritiker der Nachkriegszeit, begeistert sich dann aber doch spürbar für dessen in der alten Bundesrepublik mal skeptisch, mal bewundernd beäugte Extravaganzen in der Lebensführung. "So einen wie ihn wird es nicht mehr geben", meint Willi Winkler in der SZ. Als "Dandy, der sich selbst wichtig nahm" charakterisiert ihn Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Auf ZeitOnline erinnert sich Theo Sommer an die gemeinsame Zeit mit seinem Kollegen. Und in der Welt würdigt Tilman Krause den Kollegen und seinen Vorsatz, selbst zu entscheiden, "wann es Zeit sei für ihn, zu gehen".

Besprochen werden Fadhil al-Azzawis "Der Letzte der Engel" (Jungle World), Edouard Louis" "Das Ende von Eddy" (SZ) und Thomas Brussigs "Das gibts in keinem Russenfilm" (FAZ).
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Bühne

Im Independent erzählt Jessica Duchen, wie Peter Sellars versucht, mit Purcells unvollendeter Oper "The Indian Queen" der abgewirtschafteten English National Opera wieder etwas Strahlkraft zu verleihen: ""The Indian Queen"s" score was left unfinished on Purcell"s death, aged 36; its original play by John Dryden is, according to Sellars, "unrevivable". He has replaced it with a spoken text drawing on the Nicaraguan novelist Rosario Aguilar"s "The Lost Chronicles of Terra Firma", telling of the Spanish invasion of the Mayan people from the women"s point of view; and to bridge musical gaps he has incorporated music from Purcell"s religious anthems and theatrical songs. This reconstructive approach could make the fur fly among purists in the composer"s native UK, but Sellars is not worried. "I think people will be overwhelmed," he declares."

Besprochen werden eine von Mauricio Sotelo vertonte, in Madrid aufgeführte Opernfassung von García Lorcas Stück "El Público" (FR) und John Neumeiers Inszenierung von Mahlers "Lied von der Erde" in Paris (FAZ).
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Architektur


(Das NMAAHC Building von David Adjaye in Washington. Bild: Adjaye Associates)

In der NZZ stellt Sandra Hofmeister den britischen Architekten David Adjaye vor, dem das Münchner Haus der Kunst gerade eine Ausstellung widmet. Ob der Sohn eines Diplomaten, der in mehreren Ländern auf verschiedenen Kontinenten aufwuchs, wirklich als "afrikanische Stimme" im Architekturkurs wahrgenommen werden möchte, wie Mitkurator Okwui Enwezor meint, kann man sich zwar fragen. Aber interessant sind seine Arbeiten in jedem Fall. Am Beispiel des National Museum of African American History and Culture (NMAAHC) in Washington beschreibt sie seine Verknüpfung globaler und lokaler Elemente: "An der städtebaulich und symbolisch herausragenden Position am Washington Monument entsteht ein Gebäude, dessen zeichenhafte Form an eine archaische Krone erinnert und aus goldgemusterten Aluminiumpaneelen zusammengesetzt ist. Die Inspiration zu dieser Struktur kam Adjaye von den Skulpturen des westafrikanischen Künstlers Olowe von Ise. Er transponierte seine Formfindungen auf den großen Maßstab des Projekts, das die Bedeutung der Black Community für die USA würdigt." Und direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Ozeans, baut Adjaye in Cape Cost, Ghana, gerade das Slavery Museum.

Ein leicht nervöser Samuel Herzog reist für die NZZ nach Gallarate, einen Vorort von Mailand, um im Museo MA*GA eine Ausstellung transalpiner Italianità zu besuchen. Sehr komplex, das alles, aber lohnt sich, versichert der Rezensent: "Davon abgesehen lässt sich im Zentrum der Stadt eine kleine, der Kunstwelt kaum bekannte romanische Kirche entdecken, die von einem zierlichen Kolonettenfries mit figürlichen Kapitellen bekrönt wird. Und an jedem letzten Sonntag des Monats versammeln sich hier lokale Produzenten zu einem Markt, auf dem man Schnecken, spitzige Winterartischocken und eine unglaubliche Mortadella di fegato kaufen kann. Traumhaft!"
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Kunst

Besprochen werden die Fotoausstellung "Ugly Babies" der chinesischen Künstlerin Liu Xia im Martin-Gropius-Bau in Berlin (taz), die Oskar-Schlemmer-Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie (NZZ) und eine große, Ernesto Neto gewidmete Ausstellung im Arp Museum Remagen (Tagesspiegel).
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Stichwörter: Liu Xia, Schlemmer, Oskar

Film



Die Filmkritik schwärmt von Céline Sciammas "Girlhood" über eine Gruppe migrantischer Mädchen in den Pariser Banlieus. Ganz großartig findet es Andreas Busche (Zeit), wie die Regisseurin sich des Stoffs annimmt, ohne die Mädchen für ein Programm zu instrumentalisieren: Dieser Film handle vor allem von Bewegung und mache das auch ästhetisch fest: "Wie Sciamma die eine Bewegung in der anderen auffängt, nicht nur erzählerisch, sondern gerade in Bildern, verdient Bewunderung. Die Regisseurin feiert ihre Protagonistinnen und deren Freiheitsdrang, den eine ungestüme Suchbewegung strukturiert. Aber eben nicht: raus aus der Banlieue. Vielmehr suchen die jungen Mädchen einen Ausweg aus den Zuschreibungen und Erwartungshaltungen, mit denen sie in diesen prekären Verhältnissen zwangsläufig konfrontiert werden, einen anderen Weg als den einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung des Scheiterns."

Was auch Susanne Lenz von der FR bestätigen kann: Dieser Film "übt keine Sozialkritik. Man spürt stattdessen, wie fasziniert die Regisseurin von der Ästhetik der jungen Frauen ist, ihren Posen, ihrem Charisma, der Wärme zwischen ihnen." Nur Philipp Stadelmaier (SZ) sieht es ein wenig anders: "Letztlich führt doch Sciamma Regie. Und damit deren sozialistisches Programm seinen warnenden Ton nicht verfehlt, steuert der Film irgendwann auf die Misere zu, in der seine Protagonistin nicht mehr inszenieren darf, sondern leiden muss."

Weitere Artikel: Das Berliner Kino Arsenal würdigt den russischen Schauspieler und Regisseur Ivan Mosjoukine mit einer Retrospektive, berichtet Carolin Weidner in der taz und versichert: Seinem "Spiel zuzusehen ist ein großer Genuss." In der Welt freut sich Jan Küveler auf die dritte Staffel von "House of Cards".

Besprochen werden Clint Eastwoods "American Sniper" (FR, Perlentaucher) und der neue Asterix-Film (Tagesspiegel).
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Musik

Sehr unschlüssig ist sich Meaghan Garvey (Pitchfork) darüber, ob das kollaborative Projekt Future Brown, dem unter anderem Fatima Al-Qadiri angehört, mit seinem international-migrantischem Clubsound-Eklektizismus tatsächlich so progressiv ist: "If the project"s sense of purpose seems a bit scattershot on paper - it"s about everything and nothing, partying and post-postmodernism, global street music and the New York art world, commodity fetishism and basketball - that ambiguity is even more apparent in sound. ... [But] We"ve heard sounds like these, and better, on Future Brown"s solo members" side projects."

Nachdem Gang of Four bereits (hier und hier) nach allen Regeln der Kunst für ihr Revival abgewatscht wurden, setzt es nun auch für die zweite wichtige Post-Punk-Pionierband aus den späten 70ern, die dieser Tage ein neues Album veröffentlicht, Dresche: Auf Pitchfork lässt Stephen M. Deusner jedenfalls kein gutes Haar an The Pop Group: "Both musically and lyrically, the album is a mess. They were never the most politically nuanced band of their era, but the bluntness of the message often worked in sharp contrast to the antagonism of their music. So many years later, both the music and the message have lost their impact, and the Pop Group have become the ultimate zombie band: They"re back from the dead with no real purpose or direction, and they"re just stumbling around dumbly."

Weitere Artikel: Elise Graton porträtiert in der taz den Experimental-Elektromusiker Rone, der morgen in Berlin spielt. Christian Schröder porträtiert im Tagesspiegel die Südstaatenrockband Big Star, über die ein neuer Dokumentarfilm erscheint. In seinem Rolling-Stone-Poptagebuch gesteht Eric Pfeil, dass er Christopher Lees Metalalben gerne beim Erledigen fiskalischer Pflichten hört. Für The Quietus bespricht Noel Gardner neue Punk- und Hardcore-Veröffentlichungen. Und in der taz freut sich Thomas Mauch über die "praktizierte Popgeschichte" auf dem neuen Album von Das Weiße Pferd.
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Design


Auf faz.net berichtet Jennifer Wiebking von den Londoner Modeschauen, wo die britische Mode, wie sie schreibt, gerade ihre "Wiedergeburt" demonstriert - mit Designern aus aller Welt. Ein Beispiel ist Mary Katrantzou (der Wiebking vor zwei Wochen ein längeres Porträt gewidmet hat), die mit ihrer neuen Kollektion erfindungsreich dem Minimalismus mit viktorianischem Maximalismus eine Nase dreht: "Die Röcke schwingen um die Schienbeine von rechts nach links und links nach rechts, sie lötet bunte Plastikornamente auf schweren Damast, bestickt ihn mit Schaumstoff, sie arbeitet mit Brokat, buntem Pelz und Swarovski-Kristallen und füttert die Kapuzen der Paisley-Dufflecoats mit Glasseide."

Tim Blanks zieht auf style.com den Hut vor Katrantzous Technik: "Katrantzou looked to the guys who make cars for help in melding technologies - or rather, molding technologies. That"s where all those pieces that shaped the body came from. The synthetics of modernism combined with damasks, brocades, paisleys to create manifold weirdnesses, like the filaments of plastic that added a 3-D depth to damask, or the inserts of foam that were sliced into the waistband of a skirt."

Ein Hit, zumindest für Jezebel, war auch Christopher Kanes Schau mit den aufgedruckten nackten Schiele-Illustrationen.
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