Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2002. In der SZ schreibt Jean Rouaud über den französischen Wahlkampf. Die NZZ erinnert an die Vernichtung von Bibliotheken in der DDR. Die taz informiert uns über das Programm der neuen Bundeskulturstiftung. Die FAZ fragt: War Goya ein Kritiker des Stierkampfs?

SZ, 15.04.2002

Der Schriftsteller Jean Rouaud (mehr hier) berichtet vom alles andere als aufregenden Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich. Wenigstens, so erfahren wir, ging es bei der Nominierung des chancenlosen grünen Kandidaten Noel Mamere (einer der wenigen Neulinge in diesem Jahr) drunter und drüber: "Mamere galt als eindeutiger Favorit, und das missfiel der Parteiführung, die nach diesem Erfolg seine dominante Rolle innerhalb des Parteiapparats fürchtete, und so stimmte man heimlich für seinen Konkurrenten, der sich unverhofft zum Kandidaten gekürt fand - bevor er dann einige Monate später wegen unvorsichtiger Äußerungen über so heikle Themen wie Korsika oder die Twin Towers wieder abgesetzt wurde." Ansonsten sieht Rouaud in die Jahre gekommene Platzhirsche und lächerliche Kronprinzen, soweit das Auge reicht: "So kann sich ein und derselbe Kopf zwanzig Jahre lang als Kandidat präsentieren und bekommt - wie im Schulheft - jeweils wechselnde Noten: 'macht Fortschritte', 'kann noch mehr', 'dieses Mal wird er es schaffen'."

Weitere Artikel: Deutsche Autoren wandelten auf den Spuren von Günter Grass und kamen, zur Diskussion über den 11. September, zu einem Teffen in Telgte. Es ging aber eher aus wie das Hornberger Schießen, berichtet Imue. Petra Steinberger macht uns auf die neue amerikanische Begeisterung für Winston Churchill aufmerksam. Richard Chaim Schneider macht darauf aufmerksam, dass die komplette Fehllektüre des biblischen "Auge um Auge" alte Vorurteile schürt. Fritz Göttler streift durch internationale Journale. Kirsten Einfeldt berichtet aus der realen Fremde, nämlich aus Mexiko-Stadt, aber was sie da angetroffen hat, kennen wir gut genug: die Love-Parade.

Besprechungen: Kommentiert wird, wenig freundlich, Oriana Fallacis Streitschrift "Vom Antisemitismus". Rainer Stephan wohnte einer Inszenierung von Elfriede Jelineks "Wolken.Heim" an den Münchner Kammerspielen bei, die aparterweise ihre Uraufführung vor neun Jahren in Hamburg erlebte. Ebenfalls in München: Marcus Creed dirigiert Händels Oratorium "Belshazzar". Eine "gut durchdachte" Ausstellung zum gegenständlichen Frühwerk von Piet Mondrian offeriert das Musee D'Orsay. Der Theatermacher Jan - nicht Jean, wie die Überschrift glauben machen will - Fabre hat das Ballett "Schwanensee" inszeniert und dabei "entblößt bis auf die Knochen". Lahouari Addi legt an der Cornell University eine Deutung des jüngst verstorbenen Soziologen Pierre Bourdieu vor. Fritz Göttler hat im allseits verrissenen Kevin-Costner-Film "Zeichen der Libelle" Reize entdeckt. Besprochen werden weiter Bücher, darunter eine Comic-Adaption der Jekyll-und-Hyde-Geschichte durch Lorenzo Mattotti (mehr hier) und Jerry Kramsky und ein Hörbuch: Sophie Rois liest "Die Freundschaft" von Connie Palmen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 15.04.2002

Brigitte Werneburg und Harald Fricke haben die beiden Leiter der neuen Bundeskulturstiftung befragt, die Kunsthistorikerin Hortensia Völckers, die für den künstlerischen Teil zuständig ist und Alexander Farenholtz, den Chef der Administration (beider Lebensläufe gibt es, im Word-Format, hier). Richtig aufregend ist es nicht, was man so erfährt. Natürlich bedauern Völckers und Farenholtz die geplanten Kürzungen bei der Berliner Alternativkultur, ist aber nicht ihr Zuständigkeitsbereich (Institutionenförderung machen sie nicht). Mit dem Goethe-Institut will man gedeihlich zusammenarbeiten und den Standort Halle findet man prima. Das Prinzip der Künstlerförderung ist auch ein bisschen seltsam: Neben einem allgemeinen Teil gibt es Programmvorschläge, bei dem wie in der Schule Themen vorgegeben werden, die die Künstler dann bearbeiten dürfen: "Im Gründungsjahr sind das Themen wie 'Stadt und Kultur', wie 'Die kulturelle Dimension der deutschen Einheit' oder 'Kulturelle Herausforderungen des 11. September' und ein Regionalschwerpunkt Osteuropa. Wir haben mal mit vier Schwerpunkten angefangen, damit auch gezeigt werden kann, was die Basics sind." So Völckers. Klingt ja wirklich rasend interessant.

Viel spannender sind da schon die Zahlen und Fakten zur Stiftung - im Fachbeirat, der für die Evaluierung zuständig ist, erfährt man da, sitzt etwa Michael Krüger, der Leiter des Hanser-Verlags, aber es finden sich neben einigen anderen auch, etwas überraschender, der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen und der Filmkritiker Georg Seeßlen. Und der Etat fürs erste Jahr beträgt genau 12,782 Millionen Euro und 2004 sind's dann schon 38.347 Millionen. Im Stiftungsrat stößt man neben jeder Menge Politikern auch auf die Schriftstellerin Monika Maron.

Außerdem: Morten Kansteiner hat miterlebt, wie in Hamburg Ursula Doll ganz alleine das fragmentierte Ich der Protagonistin in Sarah Kanes "4.48 Psychose" auf die Bühne bringt. Sehr glücklich geworden ist er mit der Inszenierung nicht. Und Andreas Hergeth stellt eine umfangreiche Kulturgeschichte der Kaffebohne vor (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Und natürlich Tom.

NZZ, 15.04.2002

An eine beispiellose intellektuelle Vernichtungsaktion erinnert Dirk Sangmeister in einem längeren Artikel: Die DDR schleifte in den Jahren 1952 und 53 die meisten kleineren und mittleren Bibliotheken ihres Herrschaftsbereich, verteilte ihren Bestand auf größere, verschacherte Kostbares in den Westen und stampfte gar einen großen Teil der Bestände ein: "Frühere Feudalbibliotheken aus Zeiten der deutschen Kleinstaaterei, voll mit verstaubten bürgerlichen Bildungsgütern, wollte man nicht fortführen in der DDR. So wurden im sächsischen Grimma die Bücher der 1543 gegründeten Fürstenschule über viele Jahre hinweg verfeuert, verteilt, veruntreut oder verramscht. Ein 'Sachsenspiegel' von 1474 verschwand spurlos, Pergamentbände wurden für zwei Mark das Stück verkauft, Briefe von Melanchthon und anderen Humanisten wanderten vermutlich ins Altpapier." Alles im Namen des "Sozialismus, der ein Humanismus ist".

Stefan Weidner denkt über "Islamwissenschaftler in medialen Kontexten" nach. Die Polemik richtet sich unter anderem gegen den Orientalisten Bernard Lewis, der die These verficht, der Islam sei unfähig zu einer Trennung von Staat und Religion. Schuld an den großen Vereinfachungen sind für Weidner die Medien: "In aller Regel spricht der Islamwissenschafter in den Medien nicht nur über den Islam, sondern zugleich entweder für oder gegen ihn... Am 'telegensten' (man verzeihe das Wort) wäre ein muslimischer Islamwissenschafter, der nicht für, sondern gegen seine Kultur spricht. Er könnte drei Repräsentanzfunktionen auf einmal erfüllen: als Islamwissenschafter, als Muslim, aber zugleich als dem Islam das Verständnis verweigernder Vertreter der westlichen Moderne."

Weitere Artikel: Gerda Wurzenberger resümiert die 39. Kinderbuchmesse Bologna. Besprochen werden die Theodore-Chasseriau-Ausstellung im Pariser Grand Palais, Alan Ayckbournes Stück "Haus & Garten" in Bochum, Labiches "Sparschwein" in Luzern und Mozarts "Idomeneo" in Paris.

FAZ, 15.04.2002

War Goya ein Kritiker des Stierkampfs? Im Prado werden zur Zeit Radierungen des Künstlers unter dem Titel "Kritische Ansicht einer Fiesta" ausgestellt. Paul Ingendaay ist sich über die Intention der späten Werke nicht sicher: sicher ist nur, dass sie eine Zeitgenossen schockierten: "Besonders sprechend ist die direkte Gegenüberstellung einer Radierung aus der 'Tauromaquia' mit einem Blatt der zur selben Zeit entstandenen 'Desastres de la guerra': Beide zeigen in den Gesichtern einer Menschengruppe, die dem Geschäft des Tötens nachgeht - hier eines Stiers, dort eines Menschen -, denselben Ausdruck blinder Aggressivität und moralischer Verrohung." (Bilder hier und hier)

Johan Schloemann erlebte den kommunitaristischen Philosophen Amitai Etzioni, der zu den Befürwortern des Kriegs gegen den Terror gehört, bei einer Berliner Diskussion: "Es erschallte eine antipazifistische Predigt, für 'die von euch, die glauben, man könne sich zurücklehnen'. Rein ökonomische Erklärungsmuster wurden ebenso Ziele seines Zorns wie alle Zweifler an der Achse des Bösen, die sich die Frage gefallen lassen mussten, ob sie denn 'das holländische Modell' wollten, womit Etzioni auf Srebrenica anspielte."

Weiteres: Eberhard Rathgeb berichtet von einem Schriftstellertreffen in Telgte. Oliver Tolmein befasst sich mit rechtlichen Status Transsexueller in den USA. Doron Arazi rekonstruiert die Geschichte eines Flottenverbandes der Royal Navy, der im Kalten Krieg in der Ostsee kreuzte und Spione in die Ostblockländer schleuste. Andreas Rossmann schreibt ein kleines Profil Matthias Lilienthals, der das "Theater der Welt"-Festival im Rheinland leitet. Eberhard Rathgeb gastierte beim in Hamburg geführten Prozess um die Farbe der Haare des Kanzlers (Schröders Anwalt wies nach: "4,2 Prozent der Männer zwischen 50 und 69 Jahren haben gar keine grauen Haare.")

Dietmar Polaczek meldet die sensationelle Datierung einer mittelalterlichen Madonna in Florenz auf de Jahre 1125 bis 75. Dokumentiert wird die Petition von vierzig amerikanischen Biowissenschaftlern, die für das therapeutische Klonen eintreten. Auf der Medienseite schildert Alexander Bartl die Schwierigkeiten des Senders Pro 7 in der Kirch-Krise. Und Michael Hanfeld sagt die Pleite des Bezahlsenders Premiere voraus, falls Rupert Murdoch ihn nicht in den nächsten Tagen kauft.

Besprochen werden die Ausstellung "bodytravel" (mehr hier) des Deutschen Hygiene-Museums, die auf einem Kahn durch die Städte der Bundesrepublik schippert, Artauds "Cenci" am Schauspiel Frankfurt, eine Ausstellung über die erste Besiedlung im Dresdner Raum vor 50.000 Jahren im Japanischen Palais Dresden, Smetanas "Verkaufte Braut" in Freiberg und Döbeln, die Erstaufführung von Alan Ayckbourns "Haus & Garten" in Bochum, eine Ausstellung des Schatzes von Sangershausen im Landesmuseum für Vorgeschichte von Halle, der Film "Showtime" mit Robert de Niro und Eddie Murphy.

FR, 15.04.2002

Heike Kühn hat wenig Gefallen gefunden an dem, was der brasilianische Regisseur Walter Salles in seinem Film "Hinter der Sonne" aus der Vorlage von Ismael Kadare ("Der zerrissene April") gemacht hat: "Wo es bei Kadare unerbittlich und spröde zugeht, ist Salles auf die übersprudelnde Quelle der Sentimentalität gestoßen." Auf der Habenseite gibt es "sprachmächtige Bilder", zuletzt kommt es dann jedoch wieder knüppeldick: "Das Opfer des zum Engel stilisierten Kindes ist eine Übung in frommem Wunschdenken, die noch von Hardcore-Kitsch überflügelt wird: Am Ende steht der kleine Tote auf und erzählt sich ein Märchen. Vermutlich heißt es Hinter der Sonne."

Außerdem in einem sehr knapp ausgefallenen Montagsfeuilleton: Die Times-Mager-Kolumne zeigt sich satirisch beglückt, dass die Zeche Zollverein XII (Informationen hier) nach der Aufnahme ins Weltkulturerbe jetzt auch als Modelleisenbahnmodell Wiederauferstehung feiert. Nicht weniger satirisch, aber etwas seltsam: Christian Schlüter lässt sich Guido Möllemann (sic!) im Supermann-Kostüm im Schneefang verheddern. Peter Michalzik hat Giorgio Agamben und Michel Foucault bei einer Inszenierung von Antonin Artauds "Die Cenci" auf der Bühne gesehen. Und dann wird noch gemeldet, dass Francis Ford Coppola nach dem Tod des Vorlagen-Autors Mario Puzo keine Lust mehr auf einen vierten Teil des Paten hat (obwohl es sogar schon ein Drehbuch gibt).

Besprochen werden politische Bücher, darunter Joachim Fests Buch über Hitler und das Ende des Dritten Reichs: "Der Untergang" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).