Virtualienmarkt

Eine feste Burg ist Konzern

Von Rüdiger Wischenbart
12.04.2005. In einem Meer freier Information lassen die Konzerne immer festere Burgen akkreditierungspflichtigen Herrschaftswissens entstehen.
Nitrozellulose (auch bekannt als "Sprengwolle") ist ein einfach herzustellender Sprengstoff, der bis zum Zweiten Weltkrieg häufig als Ersatz für Schwarzpulver Anwendung fand und heute in der DNA-Forschung wie auch für manche Zaubertricks im Zirkus (wegen seiner Eigenschaft, in einem einzigen Augenblick und ohne Rauch abzufackeln) Verwendung findet.

Die beliebte Internet Enzyklopädie Wikipedia unterrichtet über diese - und noch andere - Nutzungsmöglichkeiten von Sprengwolle in ihrer englischen Ausgabe. Der Artikel enthält aber auch Angaben zur labormäßigen Herstellung des Stoffs, die einem Rezept durchaus sehr nahe kommen. Anschauliche chemische Details zu Nitrozellulose findet man sogar auf einer privaten Homepage auf T-Online. Und natürlich führt eine simple Google-Recherche ohne Aufwand zu regelrechten Kochbuchrezepten für das Zeug.

Wer auch nur die allgemeinen TV Nachrichten regelmäßig verfolgt, weiß, dass eine erhebliche Anzahl der markantesten terroristischen Anschläge im letzten Jahrzehnt mit diesem oder einem ähnlichen, auf Nitratbasis hergestellten Typus von Sprengmitteln ausgeführt worden ist.

Dennoch gibt es bislang, soweit ich sehe, keine wesentliche Diskussion, die verlangt, das Internet von solchen Informationen zu säubern. Selbstverständlich wären die Betreiber von Suchmaschinen heillos überfordert, das Auffinden solcher Informationen (in Abgrenzung etwa zu Düngemitteln) durch entsprechende Filter wesentlich zu erschweren, von den Auswirkungen solcher Einschränkungen auf die Freiheit der Medien und der Meinungen ganz zu schweigen.

Der Heise-Verlag, der die weit verbreitete Computerzeitschrift c't herausgibt, wurde hingegen unlängst belangt und in erster Instanz für schuldig befunden, weil ein Nachrichtenartikel einen Link auf die Homepage einer Softwarefirma setzte, deren Produkt die Überwindung von Kopierschutzvorkehrungen auf DVDs ermöglichte.

Durch das Setzen des Links auf die Eingangsseite der Unternehmenspräsenz sei, resümiert Heise selbst das Urteil, "vorsätzlich Beihilfe zu einer unerlaubten Handlung geleistet" worden, und deshalb hafte der Verlag, mit Bezug auf das Urheberrecht, welches das durch die inkriminierte Software bedrohte geistige Eigentum der klagenden Musikverlage unterlaufe, "als Gehilfe gemäß §830 BGB wie der Hersteller selbst." Nachsatz: "Das Gericht setzte den Streitwert auf 500.000 Euro fest." Eine solche Klagsumme ist, allein schon aufgrund der über den Streitwert zu berechnenden Anwaltshonorare, für einen unabhängigen Zeitschriftenverlag ziemlich bedrohlich.

Zum Glück haben wir hier in Sachen Nitrozellulose, "nur" auf nicht mehr patentierte Sprengstoffrezepte verlinkt, und nicht auf umstrittene Software, die Datenklau ermöglicht.

Mein eigentliches Thema in diesem Virtualienmarkt ist indessen weder das Urheberrecht noch der Terrorismus und seine Informationsbeschaffung, sondern eine diffizile Entwicklung im Hintergrund der Informationswirtschaft.

Es geht um ein seltsames Paradoxon: Das World Wide Web brachte eine Explosion an frei und jederzeit über ein paar Klicks verfügbarer Information. Parallel dazu aber entstanden noch viel umfangreichere Reservoirs an Informationsressourcen, die nicht frei zugänglich sind.

Jede größere Institution oder Firma schuf in den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten mithilfe der mächtigen Werkzeuge der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien immense - und mehrheitlich auch vor unbefugtem Zugriff streng geschützte - Reservoirs an Wissen.

Die Europäische Kommission hat ganze Förderschienen eingerichtet, nur um sinnvolle Nutzungen all der verborgenen, oder zumindest ungenutzten "Public Sector"-Information anzuregen. "Data Mining", oder die Schaffung und Nutzung von Werkzeugen, um all das verborgene Wissen zumindest innerhalb der sammelnden Organisationen greifbar zu machen, ist einer der am besten florierenden Geschäftszweige der IT Industrie. Denn die Wissensschätze sind längst unter so hohen Gebirgen von Datenmüll, Sicherheitsvorkehrungen und, wohl am meisten von allem, allerlei restriktiven Nutzungsvorschriften begraben, dass man danach bohren muss wie nach Erdöl.

Erdöl, Wissen und Sprengstoff haben indessen eines gemeinsam: Es geht jeweils um Macht.

Unlängst besuchte ich die großartige Tate Modern Gallery am Südufer der Themse in London und wollte in der riesigen Turbinenhalle die Soundbites von Bruce Nauman akustisch erleben (bei freiem Eintritt), die einnehmenden, doch verstörend kargen Landschaftsskizzen in Öl von August Strindberg und selbstverständlich dann auch noch die schöne Zusammenschau von Installationen von Joseph Beuys.

Dass mein Presseausweis nicht mit Gratistickets honoriert wurde, irritierte mich nicht wirklich. Jedoch stutzte ich, als ich den Handzettel über die Modalitäten umständlicher Journalistenregistrierungen (nur an Wochentagen!) mit dem Hinweis auf die dazu wohl verfügbaren Informationen auf der Website abzuwiegeln versuchte: Nein, sagte man mir, auf der Website gebe es dazu wohl nichts.

Tatsächlich, auf der Website von Tate Modern, einer international wegweisenden Kunsteinrichtung, sucht man vergeblich den Link "Press" - oder was sonst in nahezu allen verwandten Einrichtungen gewöhnlich auf ausführliche und öffentlich frei zugängliche, präzise und über das PR Kauderwelsch hinausreichende Hintergrund-Dossiers verweist.

Das Beispiel der Tate Modern freilich steht nicht allein. Die Albertina in Wien, die weltweit vielleicht berühmteste Sammlung grafischer Kunst (Dürer: "Der Hase!") befolgt das gleiche Muster. Es gibt "Die Albertina", deren "Geschichte", das "Gebäude" und ?Jobs. Aber keinen offenen Zugang für die Presse.

Wer Presse-Plattformen sucht, wird neuerdings immer öfter gezwungen, sich persönlich an einem Haus oder einer Institution zu akkreditieren. Diese neueste Mode hat ihren Ursprung freilich nicht in Häusern der Kultur, sondern der Finanz (und es ist wohl bemerkenswert, wie zeitnah bestimmte kulturelle Einrichtungen diese Politik der strikten Kommunikationsschranken als Rollenmodell aufgenommen haben.)

Wo Registrierungen verlangt werden, rufen diese freilich, allein schon aus der Logik der Macht, nach gezielter Verweigerung. Diese Lektion traf, wie es so schön heißt, "auf die harte Tour", dieser Tage eine sonst global wegweisende Nachrichteninstanz:

"The World Bank has banned the Financial Times for six months from receiving advance information about its research?, meldete der Guardian am 7. April.

Auslöser für diesen geradezu frühneuzeitlich-päpstlichen Bannfluch sei gewesen, so der Guardian, dass die Financial Times "gave away details of the bank's global development finance report in an article on Monday previewing the week's events." Was auch immer geschehen sein mag, das Verdikt ist hart: "No FT journalist will be able to access protected information in the bank's Online Media Briefing Center until October."

Die World Bank, ist hier zu notieren, ist eine internationale Organisation, alimentiert aus Beiträgen ihrer Mitgliedsländer, also aus Steuergeldern. Die Informationsverweigerung ist also kein skurriles Delikt irgend einer privaten Einrichtung!

In jedem Fall, Gott, die FT oder die Musikindustrie geben - und manchmal nehmen sie auch wieder, oder versuchen es wenigstens. Oder anders gesagt, wären dies nicht Tage der apostolischen Trauer, oder zumindest des Respekts, man wäre leicht zu manch pseudo-katholischer Sottise verleitet angesichts solcher Herrschaftsansprüche über das Wissen und die Gewissheiten in der Welt.

Was uns zum Anfang der Geschichte zurückbringt.

Wir wissen natürlich, dass Wissen ein Schlüssel zur Macht sein kann. Wenn die Musikindustrie (oder sonst wer) verbieten will, dass man die Bösen auch nur benennen darf (und selbst, wenn die Gerichte dies, natürlich, als Unfug zurückweisen), dann wissen alle Umstehenden, dass es um die Deutungshoheit in Sachen Kultur und Geist geht.

Was indessen, auch über lange Zeit hinweg, bestehen bleiben mag, sind einzelne feste Burgen der Macht, die, von ihren Hügeln aus, versuchen alle Bewegungen in der Ebene zu kontrollieren, oder zumindest mit Zöllen zu belegen, auch wenn wir da unten hin und her rennen, leben, pfeifen oder sonst was tun.

Allerdings, wenn solch ein Streit um die Macht nur noch über Umwege läuft (also, wie in diesem Fall, nicht über das Strafrecht, sondern das Urheberrecht - wenn also der Link auf das falsche Software-Tool verboten werden soll, jener auf die Bombenbastelei hingegen unangefochten bleibt), dann spätestens wissen wir, wie schief ins Ungewisse die Grundlage dieser Dinge mittlerweile gerutscht sein muss.

Dann spätestens sind wir vom Sprengstoff weit entfernt - und mitten im Sumpf.