9punkt - Die Debattenrundschau

Stabile und abgesicherte Wahrheiten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2016. In der SZ bekennt der Dramatiker Simon Stephens seine ganze Verzweiflung über den Brexit.  Die FAZ erinnert daran, dass der Frieden in Nordirland die EU-Mitgliedschaft Irlands und Großbritanniens voraussetzt. Die taz erinnert an das Pogrom von Iași in Rumänien vor 75 Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.07.2016 finden Sie hier

Europa

Europas Sozialdemokraten haben den Schuss nicht gehört, wenn sie den Brexit bejubeln, meint Götz Aly in der Berliner Zeitung. Hollande, Renzi, Juncker, Schulz und Tsipras wirft er vor, eine europäische Schuldengemeinschaft anzustreben: "Seit 2009 schütten Italiens Banken fette Dividenden aus; die vorgesehenen Rücklagen bildeten sie nicht und geraten deshalb in Schwierigkeiten. Warum sollte irgendjemand außerhalb Italiens für diese Art der Selbstbedienung einstehen? Leider wird genau das geschehen - mit Hilfe der Europäischen Zentralbank."

Jochen Stahnke schickt der FAZ eine beunruhigende Reportage aus Nordirland, wo sich ein alter Konflikt durch den Brexit neu regen könnte. Denn der Friede in Nordirland ist unter dem Schirm der EU geschlossen worden: "Das Karfreitagsabkommen von 1998 zwischen Terrorgruppen beider Seiten sowie Irland und Großbritannien beruht nämlich auf einem Kompromiss: dass Nordirland zwar Teil des Vereinigten Königreichs bleibt, die Grenze zu Irland jedoch unsichtbar ist und die politischen Vertreter der Kriegsparteien gemeinsam regieren. Das Abkommen beruft sich direkt auf die europäische Menschenrechtskonvention und auf die gemeinsame Mitgliedschaft Irlands und Großbritanniens in der Europäischen Union. "

Geradezu verzweifelt klingt der britische Dramatiker Simon Stephens im Gespräch mit Alexander Menden von der SZ: "Die ideologischen Gräben auf der linken und der rechten Seite des politischen Spektrums werden tatsächlich immer tiefer, auch innerhalb der Lager. Ich bin so wütend auf Jeremy Corbyn, dass ich ihm nicht mal mehr zuhören kann. Er verkörpert die Spaltung der Labour-Partei, die auf jeden Fall bevorsteht. Er ist ein Ideologe, ihm ist das, was er für seine politischen Prinzipien hält, wichtiger, als Einfluss auf die Zukunft des Landes zu haben. Natürlich braucht die Politik auch Figuren, die irritieren. Aber nicht, wenn sie der Chef der Opposition sind! Niemand in der Opposition kann uns aus dieser furchtbaren Lage herausholen."
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Wissenschaft

Deutschland ist bei den digitalen Zukunftstechnologien gar nicht schlecht aufgestellt, meint im Interview mit der FAZ Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. Das Institut arbeitet derzeit an einem Industrial Data Space, der von einem Verein getragen wird, und an einem High-Speed-Internet, mit dem sich die Abhängigkeit von Google ganz von selbst erledigen soll: "Eine Millisekunde ist das Minimum. Besser 0,1 Millisekunde. Signalanfrage, Signalbearbeitung, Signalrückkehr - und das mindestens in einer Millisekunde: Da darf der Server nicht weit entfernt stehen. Der eines deutschen Mittelständlers von der Schwäbischen Alb zum Beispiel wird nicht mehr in Dublin oder in den Niederlanden stehen können, sondern eher gleich um die Ecke. Das High-Speed-Internet muss von seiner ganzen Architektur her anders aussehen, als wir das heute kennen."
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Ideen

Liegt in diesem Essay auch eine Akzentverschiebung für die Online-Politik des Guardian? Seltsamerweise macht Katharine Viner, Chefredakteurin des Guardian und also Nachfolgerin des Internet-Propheten Alan Rusbridger, das "Internet" für die Desinformation, etwa in der Brexit-Debatte, verantwortlich - als seien nicht ganz klassisch die britischen Zeitungen für einen Großteil der Verzerrungen verantwortlich. "25 Jahre nachdem die erste Website online ging, liegt auf der Hand, dass wir durch eine Periode atemberaubenden Wandels gehen. In den 500 Jahren nach Gutenberg war die gedruckte Seite die dominierende Form der Information. Wissen wurde vorwiegend in einem festen Format geliefert, das die Leser ermutigte, an stabile und abgesicherte Wahrheiten zu glauben. Nun stecken wir in einer ganzen Reihe verwirrender Schlachten widerstrebender Kräfte, zwischen Wahrheit und Fälschung, Fakt und Gerücht, Freundlichkeit und Grausamkeit..."

Ganz anders denkt Ziyaad Bhorat in opendemocracy.net über den Einfluss der Technogiganten nach - er greift Elon Musks Ideen einer direkten digitalen Demokratie auf, die er gefährlich findet, auch weil die Silicon-Vally-Firmen im Besitz so vieler Daten sind: "Da Technologie schneller veranschreitet, als die meisten Institutionen reagieren können, wächst die Gefahr, dass die Gesellschaften der Macht jener, die Technik kontrollieren und beherrschen, immer stärker ausgesetzt sind. Technokraten könnten absichtlich oder nicht beeinflussen, welche Gruppen an die Macht kommen, welche politischen Themen Aufmerksamkeit erhalten und wie Technologie genutzt wird, um Demokratie zu vertiefen oder auszuhöhlen."
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Geschichte

In der taz schreibt Radek Krolczyk über die Künstlerin Eliana Renner, die mit ihrer Arbeit an das Pogrom von Iași in Rumänien erinnert: "In ihrer Arbeit versucht Renner in aufgezeichneten Skype-Gesprächen von Verwandten, Näheres über ihre Urgroßväter und die Umstände ihres Verschwindens herauszufinden... Am Abend des 28. Juni wurden mehrere Tausend jüdische Bürger von einem aufgebrachten Mob gelyncht, weitere Tausende wurden verhaftet. Am folgenden Tag wurde im Hinterhof der Polizeizentrale ein Großteil der am Vortag inhaftierten Juden von rumänischen Soldaten erschossen. Diejenigen, die die Massenexekution überlebten, wurden in Eisenbahnwaggons gepfercht. Sämtliche Luftlöcher wurden vernagelt. Während einer achttägigen Fahrt bei 40 Grad starben viele an Hunger, Durst und Sauerstoffmangel. Insgesamt wurden bei dem Pogrom von Iași mehr als 15.000 Menschen ermordet."
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Gesellschaft

Arne Vogelgesang setzt sich in seinem Performance- und Recherche­projekt "internil" mit Hassvideos im Internet auseinander. Er beschäftigt sich auch mit Dschihadisten, besonders aber mit Rechtsextremen veschiedener Splittergrupen. Im Interview mit Tom Mustroph von der taz sagt er: "Die 'identitäre Bewegung' versucht den Hipster-Körper zu instrumentalisieren und zu martialisieren. Man sitzt offen mit dem Macbook herum, klettert auch mal aufs Burgtheater, um da ein Transparent zu entrollen, und filmt sich dabei mit der GoPro. Das ist ein Spiel mit der Ästhetik der Linken - wie überhaupt die Rechte diskursiv und ästhetisch viel von der Linken gelernt hat. Dieser hippe Guerilla-Körper wird dann allerdings mit Flaggen in den Demo-Zug eingeordnet und so im Identitäts-Kollektiv organisiert."

Jens Bisky ist sauer, dass die Hausbesetzer der Rigaer Straße den Glorienschein der Hausbesetzerszene aus den achtziger Jahren verschatten: Sie seien "nicht einmal Karikaturen ihrer Vorgänger", schreibt er in der SZ, sondern kleinkriminelle "Revoluzzer, die schon lange unter dem Revoluzzerschicksal leiden, nur noch ihre eigene Position zu verteidigen und ihre Privilegien mit 'links' oder 'Freiraum' zu verwechseln." Wie man der Gewalt begegnen soll, weiß er auch nicht so recht, schlägt aber zunächst mal vor, "die widerliche Parole von den 'Bullenschweinen' ebenso zu tabuisieren wie die bei Antisemiten und Rassisten beliebten Tiervergleiche. Die politische Botschaft der Besetzer ist längst auf Enthemmung durch 'Schweine'-Rhetorik geschrumpft, auf die Lizenz zum Zuschlagen."
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Medien

Facebook gräbt den etablierten Medien derzeit noch mehr das Wasser ab als Google. Trotzdem will es auf keinen Fall als Medium gelten und publizistische Verantwortung tragen. Das hat Grenzen, meint Ursula Scheer in der FAZ und verweist auf das Video vom Sterben des von Polizisten erschossenen Philando Castile in Minnesota, das dessen Verlobte in den Livestream von Facebook übertragen hatte. "Die Streaming-App Periscope, die auf Twitter läuft und der Facebook das Wasser abgraben will, hat schon einen Selbstmord und eine Vergewaltigung live gezeigt. Mark Zuckerberg träumt derweil von live übertragener virtueller Realität. Wichtiger wäre, erst zu klären, welche publizistische Verantwortung die Netzwerke für die über sie veröffentlichten Inhalte tragen."

In der SZ kritisiert der iranische Blogger Hossein Derakhshan vehement Facebooks Politik, Nachrichten vorzugsweise per Video statt per Text zu verbreiten: "Das bestätigt meinen persönlichen Verdacht aus der Zeit, als ich 2014 aus einem iranischen Gefängnis kam. Ich fand ein völlig anderes Internet vor, in dem Texte in den Hintergrund treten, während Bilder immer wichtiger werden, ob als Fotos oder Bewegtbild. Als einer der Pioniere des Bloggens in Iran realisierte ich nach sechs Jahren der Isolation, dass Blogs, das beste Beispiel einer dezentralen öffentlichen Sphäre, tot waren. Facebook und Instagram hatten die Hyperlinks getötet. ... Selbstverständlich wird Text nie aussterben, aber die Fähigkeit, über das Alphabet zu kommunizieren, wird in vielen Gesellschaften langsam zum Privileg einer kleinen Elite."

Außerdem: Auf Zeit online stellt Constantin Schreiber einige mutige Journalistinnen vor, die bereits für den Raif Badawi Award nominiert sind.
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Religion

Wie soll man religiösem Fanatismus begegnen? Mit mehr Religionsunterricht, wie es der protestantische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm kürzlich in der Zeit forderte? Oder mit konfessionslosem Ethikunterricht? Der Dresdner Philosoph Markus Tiedemann plädiert in der FR für letzteres: "Was im Ethik- und Philosophieunterricht geleistet wird, kann als transzendentale Toleranzerziehung bezeichnet werden. Es geht nicht um die bloße Vermittlung zu tolerierender Inhalte, sondern um selbstständige Werteentwicklung. In der Arbeit mit Jugendlichen ist dies ein entscheidender motivationaler Vorteil. Philosophische Leistung misst sich an der Qualität ihrer Argumentation, nicht an ihrer Übereinstimmung mit der Political Correctness oder der kulturellen Tradition." (Warum klingen die besten Absichten immer so unsexy?)
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