Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
30.06.2004. Was ist das Handwerkszeug der Maler? Wie durchlässig sind unsere Eliten? Wohin führte der Bitterfelder Weg? Was tun chinesische Streuner in Deutschland? Arno Widmann hat Bücher von David Hockney, Michael Hartmann, Christa Wolf, Xu Xing und Gottfried Meyer-Thoss vom Nachttisch geräumt.
Lektionen vom Künstler

Im Jahre 2001 erschien David Hockneys "Geheimes Wissen - Verlorene Techniken der Alten Meister wiederentdeckt". Der englische Künstler zeigt darin, dass die europäische Malerei seit dem frühen 15. Jahrhundert ohne die Kenntnis der von den Künstlern verwendeten optischen Techniken nicht zu verstehen ist. Es ist ein klug komponiertes Buch, das sowohl überwältigendes Bildmaterial vorlegt als auch schriftliche Belege für die frühe Verwendung der Laterna Magica oder ähnlicher Apparaturen. Das Buch wurde sofort in allen größeren Feuilletons besprochen. Es war ein wenig Sensationshascherei dabei. Aber es geht bei der Kunst nun mal nicht ohne Empfindungen. Bis heute ist das Buch in keinem kunsthistorischen Fachorgan besprochen worden. Der akademische Betrieb will sich nicht stören lassen von einem Handwerker.

Die Kunstgeschichte besteht zu neunzig Prozent aus Belletristik, Philosophie, Geschichte oder einer mehr oder weniger gekonnten Mischung dieser drei. Wie hergestellt wird, worüber sich so schön reden und forschen lässt, interessiert kaum jemanden. Man schwärmt lieber von der "Meisterschaft", als herauszubekommen, worin sie bestand. Der Maler der Neuzeit - auch schon der frühen - war ein Meister nicht nur seines Handwerks, sondern auch seines Handwerkzeugs. Er stellte die Farben und die optischen Gerätschaften oft selbst her, die ihm dabei halfen, jenen täuschenden Realismus zu erzeugen, auf den in den meisten Perioden der Kunstproduktion seit den Höhlenmalereien von Altamira größter Wert gelegt wurde.

David Hockney ist kein Kunsthistoriker, sondern einer der bedeutendsten Maler und Zeichner der Gegenwart. Er wollte vor allem wissen, wie die Großen der Kunstgeschichte ihren hohen Grad an Präzision erreichten. Die Erfahrung, dass es auch bei jahrzehntelangem Training einer so begabten Hand wie seiner nicht gelang, die Strichgenauigkeit zum Beispiel eines Ingres zu erreichen, mag eine Rolle gespielt haben bei der Aufdeckung der von seinen Vorgängern verwendeten Techniken.

Wer Hockneys Buch nur liest, hat es missverstanden. Es ist eine Gebrauchsanweisung. Sein idealer Leser dürfte der sein, der Hockneys Forschungen so weit folgt, dass er es ihm nachtut und zeichnet und bastelt, Spiegel verwendet und Schattenrisse und wie Jan van Eyck ein Epidiaskop. Aber selbst der faulste Leser sollte sich die Zeit nehmen und Hockneys Winken folgen. Hockney demonstriert mehr als er argumentiert. Er zeigt uns, was er sieht, und wir tun gut daran, noch einmal auf die Bilder zu sehen und genau anzuschauen, worauf er uns hinweist. Wer das zwei Stunden lang macht, der hat einen völlig neuen Blick auf alle Malerei. Mit diesem neuen Blick geht er nicht nur anders durch die Museen, sondern auch durch die Welt. Er hat gelernt, Bilder auf die Techniken ihrer Produktion hin zu lesen.

Dirk Bouts Abendmahl, entstanden zwischen 1464 und 1468, wurde, so Hockney, zusammengesetzt aus lauter Einzelporträts, die mittels einer Spiegel-Linse gemalt worden waren. Das Verfahren hat Bouts auf dem Bild selbst dargestellt. Im Hintergrund sieht man zwei Porträts in einem Fenster. So muss man sich die Projektionsöffnung auch für die Porträts Jesus' und der Apostel vorstellen. Hockney erläutert dem aufmerksamen Betrachter seines Buches dieses Verfahren, in dem er ihm eine seiner eigenen Polaroidcollagen gegenüberstellt, die ganz ähnlich hergestellt wurde und den Blick des Betrachters auf die gleiche Weise führt.

Ebenso lehrreich ist Hockneys Gegenüberstellung von van Eycks Genter Altar von 1432 und seinem "Pearblossom Highway". Sie ist es nicht nur für das, was Hockney zeigen möchte - dass nämlich auch verschiedene Blickwinkel auf einem Bild diesem eine ähnliche Illusion von Raumtiefe geben können wie der eine der Zentralperspektive -, sondern es wird auch deutlich, dass, was dem nur auf die Etikette schielenden Leser als Anmaßung erscheinen mag, dass David Hockney eine seiner Arbeiten mit einem zentralen Bild der europäischen Kunstgeschichte vergleicht, in Wahrheit Ausdruck eines bescheidenen, eines handwerklichen Umganges mit der Kunst ist - der eigenen wie der der Kollegen. Diese Lektion erteilt Hockney dem Leser nicht. Aber wir können sie lernen von ihm.

David Hockney: "Geheimes Wissen - Verlorene Techniken der Alten Meister wiederentdeckt". Knesebeck Verlag, München 2001, 24 x 30 cm, 296 Seiten, 402 farbige Abbildungen, 49,90 Euro, ISBN 3896600923.


Verlorene Illusionen

Es ist eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre. Es informiert über die Bundesrepublik, über ihre Geschichte und über die aktuelle Lage. Letzteres nicht so recht. Denn die Zahlen, die Michael Hartmann auswertet, betreffen im Wesentlichen nur die Jahre 1955 bis 1985. Aber ohne Hartmanns Buch gelesen zu haben, begreift man nicht die Welt, in der wir leben, und man hat keine Vorstellung davon, wie schwierig es ist, sie zu ändern. Michael Hartmann unterrichtet Soziologie an der Technischen Hochschule in Darmstadt. Seine Studie "Der Mythos von den Leistungseliten" räumt gründlich mit der Vorstellung auf, wir lebten in einer Welt, in der die besten die besten Jobs bekämen. Die soziale Auslese, so macht Michael Hartmann klar, funktioniert nach anderen Gesetzen.

Er tut das in klarstem Deutsch und mit noch klareren Zahlen. Das Bild, das Hartmann so entwirft, schmeichelt der Bundesrepublik nicht. Es ist uns nicht gelungen, die deutschen Eliten signifikant zu öffnen. Die führenden Positionen werden nach wie vor im wesentlichen von denen besetzt, deren Eltern schon die führenden Positionen besetzt hielten. Hartmann sieht darin eine zentrale Schwäche unseres - wenn man so will - "Systems", da es seine Anpassungsfähigkeit, seine Flexibilität, seine Fähigkeit, auf sich verändernde Konstellationen einzugehen, schmälert. Die Durchlässigkeit der Eliten ist nicht in erster Linie ein Gerechtigkeitsproblem - das ist sie auch -, sondern vor allem ein Problem der Effizienz des Systems. Solche Überlegungen führten schon Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre zu der Vorstellung, man müsse das Bildungssystem radikal öffnen, so dass es nicht mehr als Hemmschwelle, sondern als Sprungbrett dienen könnte. Das ist teilweise - das belegt Hartmanns Arbeit sehr deutlich - überzeugend gelungen.

Zur Elite gehören für Hartmann die Eigentümer oder die Topmanager der vierhundert größten deutschen Unternehmen, die Richter an den Bundesgerichten oder Spitzenpolitiker. Zur Elite im weiteren Sinne zählt Hartmann auch die Inhaber und Leiter von mittelständischen Firmen mit mindestens 20 Millionen Mark Umsatz, die Juristen vom Vizepräsidenten eines Landgerichts oder einem Richter am Oberlandesgericht an aufwärts sowie Politiker beginnend mit einfachen Bundestagsabgeordneten und Oberbürgermeistern von wichtigen Großstädten. Hartmann hat sich die Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 aus den Ingenieur-, den Rechts- und den Wirtschaftswissenschaften angesehen und untersucht, wer davon in die von ihm definierten Elitepositionen gelangt ist. Dann hat er die Herkunft dieser Sieger untersucht und kam zu seinen niederschmetternden Ergebnissen. Hartmann macht klar, dass je stärker man das Bildungssystem öffnete, desto wichtiger andere Kriterien wurden. Das ist nicht in allen Bereichen mit gleicher Wucht geschehen. Aber man kann sagen, dass je wichtiger der Bereich ist, desto wichtiger werden die Kriterien, die weniger mit Bildung als mit sozialer Herkunft zu tun haben. Hartmann zitiert den Headhunter Eberhard Bremeier - "sein Vater war im Übrigen Vorstandsmitglied bei Siemens", merkt er lächelnd an -, der in einem Artikel in der Wirtschaftswoche vom 22. Februar 2001 feststellte: "Leistung ist kein Differenzierungsmerkmal der Elite mehr, wohl aber die soziale Herkunft."

Wenn man nicht begreift, dass jeder Versuch, denen, die die Macht haben, wenigstens ein Stück davon zu nehmen, nicht nur mit Gegenwehr, sondern auch mit raffinierten Anpassungstechniken an die neuen Gegebenheiten rechnen muss, dann hat man nicht die geringste Aussicht, ein Gemeinwesen so zu organisieren, dass es mit neuen Herausforderungen fertig wird. Alte Eliten verteidigen das Alte. Sie arbeiten daran, mit den neuen Realitäten möglichst nicht konfrontiert zu werden. Michael Hartmanns Buch öffnet uns dafür die Augen.

Michael Hartmann: "Der Mythos von den Leistungseliten - Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft". Campus Verlag, Frankfurt/Main 2002, 208 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3593371510.


Ausgedrückt

Auf Seite 49 stößt der Leser auf eine "Vollmacht", gegeben vom Werkdirektor Schneider auf dem Briefpapier "VEB Waggonbau Ammendorf" vom 2.6.1960: "Ich erteile hiermit die Genehmigung, dass die Genossin Christa Wolf und der Genosse Gerhard Wolf in sämtliche Betriebsunterlagen, d.h. Pläne, Produktionsprotokolle und andere für sie interessante Unterlagen Einsicht nehmen können."

Die Einsichten, die Christa Wolf auf ihrem Bitterfelder Weg gewann, verhalfen ihr und einer inzwischen weltweiten Öffentlichkeit zum "Geteilten Himmel". Ein paar Seiten später sieht man Christa Wolf mit den Angehörigen ihrer Brigade in Ammendorf während der Dreharbeiten zur Verfilmung des Romans diskutieren. Über den "Bitterfelder Weg" schrieb Christa Wolf 1990: "Die Bitterfelder Konferenz von 1964 wird heute eigentlich nur lächerlich gemacht. Sie war auch zum größten Teil komisch und lächerlich. Darüber könnte man eine Komödie schreiben. Aber manche Künstler haben etwas daraus gemacht. Sie sind, wie sie aufgefordert worden waren, in die Betriebe gegangen und haben sich angeguckt, was dort los war. 'Spur der Steine' ist aus solchen Begegnungen entstanden. Auch den 'Geteilten Himmel' hätte ich nicht geschrieben, wenn ich nicht in einem Betrieb gewesen wäre. Und als klar wurde, dass die Verbindung der Künstler mit den Betrieben dazu führte, dass sie realistisch sahen, was dort los war, dass sie Freundschaften mit Arbeitern, mit Betriebsleitern, mit Leuten anderer Berufe knüpften und dass sie Bescheid zu wissen begannen auch über die ökonomische Realität in diesem Land: Da, genau an diesem Punkt, wurde die Bitterfelder Konferenz, wurden die Möglichkeiten, die sie uns eröffnet hatte, ganz rigoros beschnitten. Damit wurde also die Möglichkeit zur Einmischung durch Kunst, die wir vehement ergriffen hatten und die wir gar nicht so schlecht fanden, gekippt."

Der Bildband "Christa Wolf - Eine Biografie in Bildern und Texten" ist darum so großartig, weil er diesen Text unter das Foto stellt, das Christa Wolf zeigt, wie sie neben Walter Ulbricht im Präsidium der 2. Bitterfelder Konferenz sitzt. Darüber eine Passage aus ihrer Rede auf jener Tagung im April vor vierzig Jahren. Wer die Texte aufmerksam liest und sich die Zeit nimmt, die Fotos in Ruhe zu betrachten, dem erschließt sich an Stellen wie diesen die vertrackte Dialektik, durch die die Sicht auf die Welt und auch diese selbst sich ändern - wie wir sie und sie uns ändern. Als Zuchtmittel für Intellektuelle hatten sich Bürokraten deren Fabrikgang ausgedacht. Einigen aber hatte er die Augen geöffnet, mehr als tausend Bücher und Diskussionen es gekonnt hätten.

Es ist ein Buch, in dem die Freunde eine große Rolle spielen. es gibt die bekannten und berühmten, und es gibt solche, die darin kleine Erwähnungen haben, die wirken wie in einsamen bayerischen Landschaften ein kleines Kirchlein für den Heiligen Damian. Zum Beispiel das Foto auf Seite 154. Es zeigt Hans Mayer und Christa Wolf und im Hintergrund Ulrich Dietzel. Man erfährt nicht, wer Ulrich Dietzel war, aber man ahnt, wie wichtig es Christa Wolf ist, dass der ehemalige Chef des Archivs der Ostberliner Akademie nicht ungenannt bleibt. Auch diese hegende Sorgfalt macht den Band zu einer so angenehmen Lektüre.

Aber vor allem betrachtet man natürlich die Bilder und immer wieder Christa Wolf. Man sieht sie mit ihrem Mann, mit den Kindern und Enkeln, mit Freunden und Kollegen und immer wieder sieht man sie vor Bücherwänden oder tafelnd an einem Tisch. Man betrachtet das Baby, das Mädchen, die junge Frau, die junge Mutter, die berühmte Autorin, die Großmutter und man ist verblüfft wie ähnlich sie sich immer geblieben ist und wie unterschiedlich sie doch auch aussah. Sie war nie schön und doch gibt es Aufnahmen von ihr, die etwas ausstrahlen von der Attraktivität, von dem gewaltigen Sog ihrer Texte. Das Foto, das sie Weihnachten 1980 an einem Kaffeetisch zeigt mit den Töchtern und der Enkelin Jana, ist ein Schnappschuss, etwas unscharf. Aber sie blickt so wach in die Kamera, dass man darüber für einen Augenblick ihren Ernst vergisst. Sie sieht etwas angegriffen aus, aber sie ist ganz souverän dabei, beherrscht zurückgelehnt die Szene. Es ist ein Foto wie aus einem alten Film. Man könnte auf die Idee kommen, die DDR sei eine Zeitaufhaltungsmaschine gewesen und die Frau da gebe uns mit einem noch unmerklichen, aber bald aufbrechenden Lächeln zu verstehen: Ich weiß.... Oder sagt ihr Blick nicht in aller Deutlichkeit: Ich weiß nicht. Fotografien dieser Art, nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, sind rätselhafter als die Mona Lisa es uns inzwischen geworden ist.

Dem aufmerksamen Betrachter entgeht nicht, wie schwer Christa Wolf ihr Aussehen nahm. Sie muss viele dieser Bilder angestarrt und verzweifelt nach sich gesucht haben. Zum Beispiel das Passbild aus dem Jahre 1952. Man möchte ihr die Brille von der Nase nehmen und "cheese" sagen. Aber sie würde einen entsetzt anschauen, denn "cheese" will sie nicht sagen. Dann verschwindet die Brille bis Christa Wolf 1964 mit einer besonders hässlichen, dickrandigen wieder auftaucht. Die waren Mode damals. Eine verunstaltende Apparatur. Aus dem Jahre 1968 gibt es ein sehr schönes Foto von ihr. Es wurde während einer Diskussion in Moskau aufgenommen. Man spürt, dass sie etwas sagen möchte und dass sie das jetzt tut, und sie kümmert sich nicht um den Fotografen. Ganz anders die Aufnahmen aus dem Frühjahr 1969 in Kleinmachnow. Es ist eine sehr attraktive Frau von fast vierzig Jahren, aber sie ist verkrampft vor der Kamera. Sie weiß, dass sie gut aussieht, und sie mag es, aber sie mag nicht so sehr, dass sie es mag. Und darum ist sie streng zu sich und versucht Haltung zu zeigen. Man sehe sich an, wie die eine Hand das Buch hält und wie die andere der Lässigkeit der Körperhaltung aufs Angespannteste widerspricht. Das freundliche Lächeln markiert gleichermaßen Entgegenkommen und Zurückhaltung.

Man begegnet in diesem Band einer Autorin, zu deren Erforschung der Welt ganz wesentlich die der eigenen Person gehört. Das, mag man denken, sei ihr antisozialistisches-sozialistisches Erbe. Aber sie, die sich schon immer genau, ja argwöhnisch beobachtet hat, weiß es besser: "Diese Sehnsucht, sich zu verdoppeln, sich ausgedrückt zu sehen, mehrere Leben in dieses eine zu schachteln, auf mehreren Plätzen der Welt gleichzeitig sein zu können - das ist, glaube ich, einer der mächtigsten und am wenigsten beachteten Antriebe zum Schreiben. Ich habe früh versucht, die Verwandlung zu vollziehen, auf weißem Papier: Der Schmerz über die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Lebens ließ sich mildern." Das schrieb Christa Wolf schon 1965. Das Wort "ausgedrückt" wird man auch ganz wörtlich verstehen müssen.

"Christa Wolf - Eine Biografie in Bildern und Texten". Herausgegeben von Peter Böthig. Luchterhand, München 2004, 224 Seiten, zahlreiche s/w Fotos, 35 Euro, ISBN 3630871690.


China gammelt

Ein Herumtreiber-Roman aus China. Xu Xing, geboren 1956 in Peking, erzählt vom Leben junger Männer, die durch China und den fernen Westen - Deutschland - streunen auf der Suche nach sie wissen nicht was, auf der Flucht, vor allem, das sie festlegen könnte. "Und alles, was bleibt, ist für dich" ist vergnüglich zu lesen, aber über weite Strecken von einer demotivierenden Vertrautheit. Xu Xing befriedigt nicht unseren Hunger nach Exotik. Seine Chinesen sind wie wir. Keine Sekunde kommt das Gefühl einer prinzipiellen kulturellen Schranke auf. Was Xu Xings Chinesen von uns unterscheidet, ist einzig ihr Nachholbedarf. Den haben sowohl die Erwerbsfreudigen als auch die Gammler. Beide durften ihren Trieben jahrzehntelang nicht so nachgeben, wie sie es gerne getan hätten. So entsteht das Gefühl einer akuten Notlage, einer bedrängenden Dringlichkeit, die freilich von den Protagonisten, die dem gammelnden Teil der neuen Weltbürger angehören, durchschaut wird als bald überwundene Kinderkrankheit ihrer Eingewöhnung in die neue globalisierte Existenz.

Dass die Menschen zwar nicht gleich sind, dass die Unterschiede aber gerade nicht die der Kulturen, sondern der Individuen sind, das macht Xu Xing einem deutlich. Nein. Das tut er nicht. Er ist zu sehr Erzähler, um sich bei solchen volkspädagogischen Unternehmen zu beteiligen. Es wird klar. So sehr, dass es Augenblicke gibt, da ist man sich so sicher, dass nichts Unbekanntes geschehen kann, dass man drauf und dran ist, das Buch bei Seite zu legen. Aber man tut es doch nicht. Das immer Gleiche, immer wieder neu gespielt, hat seinen nicht erst von der minimal music entdeckten Reiz. Xu Xings Streuner sehen auf Deutschland mit dem gleichen wachen, dennoch desinteressierten Blick, mit dem sie China und Tibet betrachtet haben. Sie dabei zu beobachten, ist sehr unterhaltsam.

Xu Xing: "Und alles, was bleibt, ist für dich". Roman. Aus dem Chinesischen von Irmy Schweiger und Rupprecht Mayer, mit einem Nachwort von Irmy Schweiger. SchirmerGraf Verlag, München 2004, 275 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 3865550053.


Die perfekte Einzelhaft

Er ist einer der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart. Keiner hat Mozarts da Ponte-Opern so gegenwärtig gemacht wie der Amerikaner Peter Sellars. Ein reich illustrierter Band mit Aufsätzen von u.a. Ivan Nagel, Edward W. Said, Hermann Beil, Kent Nagano, Gerard Mortier und Toni Morrison über Peter Sellars, dazu ein Text von Peter Sellars und ein Interview mit ihm. Dazu kommen Beiträge von u.a. Robert Wilson, William Forsythe, Adonis (mehr) und Daniel Libeskind. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Aufnahme, die zeigt, wie Betty Freeman, Peter Sellars und Heiner Müller fotografiert werden. Wer genau hinschaut, der erkennt in einem Spiegel auch noch die Fotografin dieses Bildes: Brigitte Maria Mayer. Herausgeber dieser sich über 176 Seiten erstreckenden Schatzkammer ist Gottfried Meyer-Thoss.

Das Buch bietet nicht nur Jubelarien. Edward W. Said zum Beispiel sieht Peter Sellars' Arbeiten sehr kritisch. Er wirft ihm vor, der Musik nicht die ihr zukommende zentrale Rolle zu geben, sich stattdessen auf die Ausnutzung der politischen Anspielungen des Textbuches zu stürzen. Die Frauenrollen würden, so Said, von Sellars lange nicht so differenziert und interessiert betrachtet, wie sie es verdienen. Ivan Nagel dagegen schreibt klug und auf den Punkt, wie wir es von ihm gewohnt sind: "Sellars handelt von unserem abgründigsten Grund, aus dem Liebe mit all ihrem Segen und Schrecken erst aufsteigt, davon, dass die Menschheit nicht aus Menschen, sondern aus Männern und Frauen besteht." Und wer Saids Interpretation noch im Ohr hat, der wird nach Nagels Ausführungen zum Don Giovanni begreifen, dass Said das Sensorium für Sellars Kunst fehlte:

"Dem folgt das Terzett von Elvira, Giovanni und Leporello. Nie klingt Eugene Perrys Stimme schöner, süßer, ja liebevoller als im plötzlich erstrahlenden C-Dur des großen baritonalen Aufstiegs: 'Discendi, o gioia bella'. Aus der jähen Glückshitze, Erfüllungsgewissheit und Droge fliegt die Werbung zu Elviras Fenster, lockend die 'schöne Wonne', herabzusteigen: Als betörte Giovanni einen Augenblick lang sich selbst mit der Hoffung, dass sich dieses Mal Schönheit und Wonne auf ihn wie ein Segen niedersenken könnten. Plötzlich versteht man, warum dieselbe Melodie sofort noch leichter, noch erdvergessener wiederertönt: 'Deh, vieni alla finestra.' Sie ertönt als Serenade an das nächste Fenster, in dem niemand erscheinen wird. Die schönste, einzige Frau lebt, unerreichbar, in Giovannis süchtig fiebernder Phantasie. Welche Rechtfertigung für ihn im Moment seines bösesten Liebesverrats: Die Unsichtbare, Vollendete im leeren Fenster - sie liebt er. Während der Serenade schaut Sellars' Giovanni kein einziges Mal zum Haus hinauf. Sein Blick vor sich, ins Leere, erschafft das imaginäre Wesen, das er ansingt und erschafft dadurch gleichermaßen, in uns Entsetzten, das Bild seiner Einsamkeit. Ich kenne kaum einen Schauspieler, vielleicht gar keinen Sänger, der das wie Eugene Perry spielen, wahrmachen kann: Liebe heißt rettungslos allein zu sein. Wir behaupteten, dass für Peter Sellars 'Figaros Hochzeit' die Komödie, 'Cosi fan tutte' hingegen die Tragikomödie der Liebe sei. Weshalb aber ist 'Don Giovanni' die Tragödie der Liebe? Weil auch Giovannis Liebe, wie jede Liebe, zu einem anderen Menschen drängt. Und weil Mozart uns erfahren lässt (Lange vor den großen Dekonstrukteuren der Liebe, den Benjamin Constant und Stendhal und Proust), dass Liebe die perfekte Einzelhaft ist, die man nur mit den Wahnbildern des eigenen Kopfes, Herzens und Geschlechts teilt."

Gottfried Meyer-Thoss: "Extrakte Peter Sellars - Amerikanisches Welttheater". Broschiert, Parthas Verlag, Berlin 2003, 176 Seiten, ISBN 3932529421