Virtualienmarkt

Warum noch in der Zeitung werben?

Von Robin Meyer-Lucht
19.03.2008. In Frankreich mehren sich die Stimmen, die Zeitungen für ein Auslaufmodell der digitalen Revolution halten. Denn dank Alternativen im Internet ist die Werbewirtschaft nicht mehr auf die Presse angewiesen.
Die Soziologie hat ein für Zeiten des Wandels extrem hilfreiches Konzept entwickelt: den "tipping point". Veränderungsprozesse können demnach, wenn ein bestimmter Schwellenwert überschritten ist, plötzlich an Vehemenz gewinnen. Lange passiert gar nichts, dann aber kippt die Entwicklung unvermittelt. Das Grundprinzip ist stets dasselbe: Erst ab einem bestimmten Niveau setzen soziale Koordinationsprozesse ein, die sich dann selbst beschleunigen. Dieses Muster lässt sich hundertfach zeigen. Das Konzept warnt davor, vom Gestern und Heute leichtfertig auf das Morgen zu schließen (mehr hier).

Liest man den Text "Das Ende der Zeitungen" in der jüngsten Ausgabe der französischen Zeitschrift le debat (mehr hier; Auszüge hier), dann kommen die Autoren Vincent Giret und Bernard Poulet letztlich genau zu diesem Schluss: Die Presse hat im Kampf mit dem Internet ihren "tipping point" erreicht und droht ins Bodenlose zu fallen. Ihr Kernargument: Die Presse verliert, weil die Werbewirtschaft dank Alternativen im Internet immer weniger auf sie angewiesen sei: "Die Medienwelt ändert sich fundamental. Denn erstmals seit dem Aufkommen der Massenmedien am Ende des 19. Jahrhundert ist die Werbung, die wichtigste Einnahmequelle der Presse, nicht mehr auf Journalismus als Vehikel angewiesen, um ihre Botschaften zu verbreiten."

Exakt die gleiche These findet sich nun auch im jüngsten Statusbericht zum amerikanischen Journalismus (mehr hier): "Die Krise des Journalismus im Internet liegt in der strukturellen Entkopplung von Journalismus und Werbung."

Mit anderen Worten: Journalismus ist immer mehr nur noch ein Werbeträger unter vielen. Die mächtigen Plattformen des Internets, Google, die Portale, die Freemail-Anbieter, die sozialen Netzwerken und demnächst auch noch der Software-Industrie (zum Beispiel Microsoft) üben als Konkurrenz im Werbemarkt einen brachialen Preisdruck auf die Presse aus. Sie büßt daher Werbeumsätze in Print ein und gerät online in einen Refinanzierungsengpass.

Für Giret und Poulet verlieren die großen alten Marken des Pressewesens zwischen Gratiskultur, den hohen Reichweiten der Online-Konkurrenz und der Fragmentierung des Angebots im Netz ihre Geschäftsgrundlage. Dabei verschwinde die Zeitung, so kann man die Autoren lesen, nicht so sehr als physisches Objekt, sondern vielmehr als Idee. Das Ideal einer stolzen, elitär herausgehobenen, ressourcenreich ausgestatteten, die Grenzen der allgemeinen Öffentlichkeit absteckenden Institution verblasse im digitalen Konkurrenzdruck der Werbeträger.

Aus der Logik der neuen Konstellation folge nahezu zwangsläufig der baldige Umsturz der Verhältnisse: "Niemand kann sagen, wie die Medienlandschaft in zehn Jahren aussehen wird - aber es ist offensichtlich, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre eine Revolution stattgefunden haben wird."

Schätzt man die Sensibilität französischer Debatten für soziale Umbrüche, dann kann man Giret und Poulet nicht einfach abtun. Während hierzulande noch kleinkarierte Debatten über die vermeintliche Minderwertigkeit des Internets geführt werden, ist man in Frankreich augenscheinlich schon deutlich weiter: Das gesamte Mediensystem wird zur Disposition gestellt. Dabei erinnern die Autoren nur daran, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Die klassische Formation des Mediensystems basiert auf einer technologischen Grundlage, die seit Jahren dahinschmilzt.

Frankreich ist ein Land, dass für die besondere Krisenhaftigkeit seiner Presse bekannt ist. Die beiden Qualitätstitel Le Monde und Le Figaro befinden sich seit geraumer Zeit in erheblicher finanzieller Schieflage (mehr hier). Angesichts der schwächeren Konstitution der französischen Zeitungen, die zusätzlich durch Gratistageszeitungen bedrängt werden, lassen sich die Folgen des digitalen Medienwandels dort schneller ablesen als hierzulande.

Ausgerechnet der Axel Springer Verlag hat für Giret und Poulet im Sommer letzten Jahres das für Frankreich historische Signal für das Ende der klassischen Zeitung gesetzt: Denn statt, wie geplant, eine französische Boulevard-Zeitung zu gründen, kaufte Springer am Ende doch lieber ein Internet-Portal, nämlich auFeminin.com - für kaum vorstellbare 284 Mio. Euro (mehr hier).

Giret und Poulet stützen sich in ihrer Argumentation vor allem auf Beispiele aus dem US-Zeitungsmarkt. Die Entwicklung dort ist in der Tat von dramatischen Auflagen- und Umsatz-Rückgängen, von Hektik-Verkäufen und Entlassungen geprägt. Man muss sich nur die Aktienkurse der großen US-Zeitungskonzerne im Verlauf der letzten fünf Jahre anschauen (hier, hier, hier). Die New York Times erklärte etwa im Februar, 100 ihrer 1300 Journalisten entlassen zu müssen (mehr hier).

Auch für Deutschland mehren sich die Zeichen, dass die Zeitungen im Werbemarkt unter der Konkurrenz des Internets leiden. Während das Brutto-Volumen der Online-Werbung hierzulande laut Nielsen Media weiter mit Raten um 45 Prozent wächst, schwächeln Buchungen in Zeitungen mit einem Minus von 1,8 Prozent derzeit mehr als es die Konjunktursituation erwarten ließe (mehr hier). Zwar erzielten die Zeitungen 2007 noch ein Umsatzwachstum von 3,1 Prozent (mehr hier). Doch beim nächsten Abschwung droht ihnen im Anzeigenmarkt ein Doppelschlag aus strukturellen und konjunkturellen Faktoren.

In der intermedialen Konkurrenz schlagen die Nachteile der hohen Kosten der Zeitungsproduktion nun auch auf den Werbemarkt durch. Zudem geraten die häufig schön gerechneten Leserzahlen der Presse unter Rechtfertigungsdruck. Die Preisbildung bei Print-Anzeigen basiert bis heute auf der Fiktion, dass jeder Leser jede Anzeige liest und dass die Zeitung an jedem Tag der Woche die gleiche Leserzahl hat. Im Zeitalter von "cookies" und "conversion rates" sind derartige Modelle immer schwerer durchsetzbar.

Die Rollen- und Refinanzierungskrise des Journalismus, die in den USA und Frankreich deutlich sichtbarer zutage tritt als hierzulande, kann nur gesellschaftlich gelöst werden. Wenn die Werbefinanzierung tatsächlich nur noch einen kläglichen Journalismus zu finanzieren vermag, dann brauchen wir einen gesellschaftlichen Vergegenwärtigungsprozess, an dessen Ende - auch im Internet - wieder Abonnementsmodelle stehen könnten. Die von Giret und Poulet angestoßene Diskussion ist erforderlich, damit deutlich wird, warum Bezahlmodelle, wie das der neuen Online-Zeitung Mediapart notwendig sein könnten, um journalistische Qualität jenseits der ganz großen Bühne zu refinanzieren.

Auch die Berater von Ernst & Young haben auf ihre Weise schon auf die Umsatzklemme der Online-Presse reagiert: Sie raten den Zeitungen, im Netz doch die Anzeigenpreismodelle von Google zu übernehmen.

Zugleich wird mit der Diskussion erneut klar, dass der Zeitung als physischer Schützkörper des Qualitätsjournalismus und damit vor allem seines Finanzierungsmodells eine weitere deutliche Schwächung bevorsteht. Die Hoffnung, sich darauf noch lange stützen zu können, zeugt von Romantik und einer Einflussfaktorenvergessenheit aus kurzfristigem Selbstschutz. Das Mediensystem wird erneut radikal in Bewegung geraten. Die Zeitungen stehen vor ihrem "tipping point". Ihre Verluste in den digitalen Umbrüchen könnten demnächst rasch zunehmen, denn ihre Online-Konkurrenz hat eine beachtliche Stärke aufgebaut. Französische Debatten sind als Seismograph für solche Entwicklungen nicht zu verachten.