Essay

Kritik und Werbung? Markt und Meinung!

Eine Antwort auf Felix Philipp Ingold. Von Beatrix Langner
20.10.2008. Das eigentliche Problem der heutigen Literaturkritik ist ihr denunziatorischer Grundton. Eine Antwort auf Felix Philipp Ingold.
Sie haben völlig Recht, lieber Felix Philipp Ingold, mit Ihrer Literaturkritik-Kritik. Aber man braucht mit dem Zitieren gar nicht so weit auszuholen, um zu finden, das kluge Köpfe am allgemeinen Fortgang der Dinge meist wenig ändern.

1968 schrieb H.M. Enzensberger im später berühmt gewordenen Kursbuch 15: "Eine kritische Rhetorik, die den Begriff der Revolution auf ästhetische Strukturen übertrug, war nur zu einer Zeit möglich, da der Bruch mit konventionellen Schreib-(Mal-Kompositions-)weisen noch als Herausforderung gelten konnte. Diese Zeit ist vorbei. Proklamationen und Manifeste, in denen 'Umwälzungen', 'Revolten', 'Revolutionen' der Sprache, der Syntax, der Metapher usw. angekündigt werden, klingen heute hohl." Da sich eine gesellschaftliche Funktion für literarische Werke nicht mehr ermitteln ließe, so Enzensberger weiter, sei auch eine "Literaturkritik, die mehr als Geschmacksurteile ausstoßen und den Markt regulieren könnte, nicht erwünscht." Im gleichen Heft meinte Karl Markus Michel, die Literatur arbeite für den Konsum, aber auch gegen ihn. FORM und MARKT bestimmten gleichermaßen ihre Logik, die Logik der "Anti-Literatur".

Noch fünfzig Jahre später ist an dieser Diagnose nicht das Geringste auszusetzen. Niemand wird ernsthaft den Abschied der Literatur von der Ideologie beklagen. Der Markt hat bewiesen, dass er sich auch unabhängig von einer mehr als geschmäcklerischen Literaturkritik ganz gut selbst regulieren kann. Dafür sorgen die Werbe-und Marketingabteilungen der Groß-Verlage, die dafür den größten Teil der (ohnehin lächerlich niedrigen) Autorenhonorare verschlingen. Gut ist, was gekauft wird. Wozu braucht es da noch eine Literaturkritik, die sich nicht allein als kostenfreie Lobbyarbeit der Verlage versteht, sondern als - ja was eigentlich?

Beispiel: Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt". Können sich hundertfünzigtausend Leser irren? Haben die alle sich an Rezensionen orientiert, bevor sie das Buch gekauft haben? Wahrscheinlich nicht. Das Buch als Renditeobjekt lebt nicht von seinem Gebrauchswert, schon gar nicht von seinem ästhetischen Wert, sondern von der Meinung, genauer gesagt von Meinungsmehrheiten. Meinung ist der zuverlässigste Distributionsapparat, den man sich nur denken kann. Eine Meinung hat fast jeder; und je mehr Leute dieselbe haben, um so gravierender sind die ökonomischen Folgen im Konsumtionssektor.

Was hat Literaturkritik per definitionem mit Meinung zu tun? Gar nichts. Nicht die Literaturkritik darf sich Kehlmanns Mega-Erfolg also gutschreiben, sondern bestenfalls der sekundierende Kulturjournalismus mit seinen Veranstaltungsberichten, Autorenporträts, Branchennews und Meinungsventilatoren, gewissermaßen per Mund-zu-Mund-Beatmung. Ein Kritiker meint nicht, er trifft Urteile, Entscheidungen. Er muss wie ein Arzt die Fieberkurve eines literarischen Werkes lesen und verstehen können, wann und wo der kritische Punkt erreicht ist, um zu entscheiden, ob der Patient sterben oder überleben wird. Dafür braucht er Wissen über - um im Bild zu bleiben - Anatomie, Physiologie, Endokrinologie, Ätiologie, Semiologie etcpp. Gäbe es genug solcher Kritiker im alten griechischen Wortsinn, wäre die Literatur wahrscheinlich schon lange für tot erklärt. Da sie selbst aber im Aussterben begriffen sind, tut man - zumindest in Deutschland - ungerührt weiter so, als sei Literatur noch immer das pulsierende Zentrum einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich in ihren Romanen und Gedichten ihrer selbst und der sie zusammenhaltenden Werte vergewissert.

Während man also einen Konsens vortäuscht, der längst nicht mehr existiert, macht sich eine marktförmige Nivellierung alles Gedruckten breit. Ob Promi-Memoiren, Roman, Gedicht, Sachbuch, Non-Fiction - alles wird medialisiert, durch die Feuilletons geschleust, zu zielgruppenorientierter Information verdampft und in Meinung transferiert. Seien wir doch ehrlich: wer braucht da noch Kritiker, die da, wo es wirklich noch um das Kunstwerk- also um Sprache, Form, Struktur - geht, demütig die Hände heben, da echte Kunst erfahrungsgemäß weder beschreib- noch interpretierbar ist und sowieso alle Fragen offen lässt?

Diese Verlogenheit führt aber dazu, dass Kritik nur noch als großsprecherische hohle Pose daherkommt. Da wird das erzählerische Sujet eines deutschen Schriftstellers, Max-Frisch-Preisträger in der Schweiz, in einer deutschen Wochenzeitung in der Formel: "Hunger, Durst und Geilheit" zusammengefasst; da wird die Besprechung eines 1000-Seiten-Romans mit der großmütigen Feststellung des Rezensenten eröffnet, er wolle dem Buch - "warum auch nicht" -eine Chance geben, obwohl ihn schon die Einleitung heftig langweile. Da wird ein weltbekannter österreichischer Schriftsteller als Jammerlappen beschimpft, seinem Roman "epische Anämie" und dem Autor "die penetrante Selbstverliebtheit des Paranoikers, die überhebliche Empfindsamkeit des Neurotikers" vorgeworfen. Die Reihe der Beispiele lässt sich beliebig verlängern.

Das eigentliche Problem der Literaturkritik scheint mir demnach nicht so sehr zu sein, dass sie freiwillig und kostenfrei Werbeslogans und -strategien für Verlagsprodukte liefert, dass sie das Handwerk des Lobens bis zur Anbiederung beherrscht und geschmäcklerisches Vokabular an die Stelle fundierter Analysen setzt, sondern etwas anderes: ihr denunziatorischer Grundton. Das Instrumentarium der Literaturkritik wird nur noch zum Schein benutzt, so dass die Leser von Literaturrezensionen gar nicht mehr zwischen Meinung und Urteil unterscheiden können. So wird Uwe Tellkamps frisch preisgekrönter Roman mit der Feststellung gelobt, dass er "viele oft ganz ökonomisch gebaute" Stellen habe, "weshalb man es nur selten mit dem Gefühl zu tun bekommt, der Roman sei zu lang". Dass der Autor die Handlung zusammenhalte, wird ihm als besondere Fähigkeit hoch angerechnet, als wäre das nicht selbstverständlich. Resümierend fasst der Rezensent zusammen: "Es ist überhaupt selbstverständlich ganz richtig, dieses Buch als einen Roman über die untergehende DDR zu bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es falsch, das gar nicht zu tun." Also was denn nun, richtig oder falsch oder richtig falsch?

Es gab Zeiten, da beschwerten sich Schriftsteller bei ihren Kritikern darüber, dass diese mit ihren intellektuellen, kopflastigen, akademisch bramarbasierenden Interpretationsoratorien die Sinnlichkeit der Texte, ihre lebendig erfahrbare Präsenz zerstörten. Interpretierende Literaturkritik, schrieb Susan Sontag, im selben Jahr wie Enzensberger, sei "die Verbeugung der Mittelmäßigkeit vor dem Genie ". Der übertriebene Intellekt mancher Kritiker manövriere die Kritik in ein klassisches Dilemma: anstatt dem Leser Verstehenshilfen zu liefern, töte sie die Energie des Kunstwerks, verselbständigte sich, werde "reaktionär, trivial, erbärmlich, stickig".

Seltsam, genau das ist sie heute wieder, obwohl die akademischen, intellektuell hochgerüsteten Kritiker mittlerweile fast ausgestorben sind. Man möchte das beinahe bedauern. Denn wenigstens besaßen die noch den Anstand, sich vor der Würde eines Originalwerks zu verbeugen.