Essay

Sowohl Voltaire als auch Lessing

Von Adam Krzeminski
10.03.2007. Der heutige Streit zwischen den "Fundamentalisten der Aufklärung" und den "Kulturrelativisten" hat in Europa sehr alte Wurzeln. Beide Positionen sind vonnöten, um auf die islamische Herausforderung zu reagieren.
Die vom Perlentaucher angeregte Debatte "fundamentalistischer Aufklärer" mit "Kulturrelativisten" las ich im Restaurantwagen des Berlin-Warschau-Express. In die subtilen Überlegungen, ob man auf dem Altar eines obskuren Multikulturalismus' die liberalen Werte des Westens schlachte, mischten sich Wortfetzen eines am Nachbartisch bei Bier und Kutteln derb geführten Gesprächs über die polnische Innenpolitik. Ich war gerade beim Berliner Aufruf von Ayaan Hirsi Ali angekommen, in dem sie sich mit den osteuropäischen Dissidenten der siebziger, achtziger Jahre verglich und vom Westen ein stärkeres Engagement zugunsten der Dissidenten des Islam anmahnt, als ich die für die derzeitigen polnischen Debatten geradezu sakramentalen Worte "Kaczory" (Enteriche) und "Michnikowszczyzna" (die Michnik-Herrschaft) hörte. Die regierenden Zwillingsbrüder standen dabei für das radikale Ausmisten der postkommunistischen Mülls und der Chefredakteur der liberalen Gazeta Wyborcza für ein schändliches Techtelmechtel mit den Postkommunisten. Da hast du ihn wieder, dachte ich, den endlosen Streit deiner Landsleute. Auf der einen Seite die Fundamentalisten, die dem Freund-Feind-Prinzip frönen und dialogische Konfliktlösungen an "runden Tischen" von Übel halten. Auf der anderen die angeblichen Relativisten, die den Teufel im jakobinischen Autismus der selbsternannten Einziggerechten sehen, der stracks zum leninistischen Machtprinzip "Wer wen" führe.

Nachdem ich mich wieder ins Zugabteil zurückgezogen hatte, las ich Ayaan Hirsi Alis Autobiografie zu Ende und war hingerissen. Dann blätterte ich im Ian Burumas Buch "Murder in Amsterdam", las Timothy Garton Ashs glänzende Besprechung der beiden Bücher und war ebenfalls beeindruckt. Das Etikett, Hirsi Ali sei eine "Fundamentalistin der Aufklärung", ließ mich relativ kalt, obwohl ich diese Etikettierung für überflüssig hielt. Und das anschließende französisch-angelsächsisch-deutsche Geplänkel darüber, welches Modell des Umgangs mit den islamischen Einwanderern in Europa nun besser sei, der französische Laizismus oder der britische Multikulturalismus, ließ mich insofern kalt, als es von der Weichsel aus gesehen immer noch ein recht theoretisches Modell ist.

Es wird noch viel Wasser die Weichsel in die Ostsee abfließen, bis ein polnischer Innenminister, so wie Wolfgang Schäuble anlässlich der Berliner Islamkonferenz, öffentlich sagt, dass der Islam ein Teil der polnischen Identität sei. Obwohl auch Polen seine Erfahrungen mit dem Islam gemacht hat, nicht so sehr wegen der Türkenkriege im 17. Jahrhundert und der winzigen Gruppe polnischer Tataren, die es seitdem in Polen immer noch gibt, sondern weil es in Warschau bereits die ersten polnischen Konvertiten zum Islam gibt, wie etwa Piotr Ibrahim Kalwas, der in zwei reißerisch geschriebenen Büchern seinen Bruch mit der Kälte seiner bildungsbürgerlichen Familie sowie der Verlogenheit des einheimischen Katholizismus darstellte und den emotionalen Halt, den er unter den friedfertigen Muslimen fand.

Trotzdem gibt es in Warschau noch kein türkisches Stadtviertel wie Neukölln in Berlin. Die Lücken auf dem einheimischen Arbeitsmarkt, den Hunderttausende junge Polen hinterließen, die nach Großbritannien oder Irland gingen, füllen Ukrainer und nicht Türken auf. Oriana Fallacis Breitseite gegen die orientalen Eindringlinge, die in Florenz die Renaissance-Denkmäler verunreinigen, liegt in einer Prachtausgabe in polnischen Buchhandlungen. Und während des "Karikaturenstreits" brachte auch eine polnische konservative Tageszeitung die dänischen Mohammed-Karikaturen als ein stolzes Zeichen europäischer Solidarität und als ihr Bekenntnis zum "Clash of Civilisations".

Doch die westeuropäischen Debatten über den Islam verfolgen die Polen immer noch als Zaungäste. Es gibt in Polen auch keinen nennenswerten Streit um den EU-Beitritt der Türkei. Auch die Nationalkatholiken sind gar nicht dagegen. Zu stark hat sich in das polnische Bewusstsein die Legende eingeprägt, dass das Osmanische Reich die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert nie anerkannte und bei offiziellen Anlässen im Palast des Sultans den polnischen Botschafter rituell aufrief, um ihn dann als "zeitweilig verhindert" zu entschuldigen. Dass die Polen in westlichen Augen gelegentlich selbst mit den Türken verglichen werden, so etwa von Norman Stone 2005 in der Frankfurter Allgemeinen, wurde in Polen ohne große Empörung berichtet. Schließlich weisen polnische Historiker wie Janusz Tazbir darauf hin, dass der polnische "Sarmatismus", jene Ideologie des polnischen Adels, die eine autistische Mischung von Marienkult, polnischer Selbstgenügsamkeit und Misstrauen gegenüber dem aufgeklärten Westen war, im 17./18. Jahrhundert so starke orientalische Züge trug, dass Friedrich II. polnische Adlige in ihren türkischen Röcken verächtlich als "Irokesen Europas" bezeichnete, um die Zerstückelung der polnisch-litauischen Adelsrepublik vor der europäischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen.

Historische Vergleiche sind verlockend, und dennoch muss vor ihnen gewarnt werden. Auch der Vergleich zwischen dem Islam und dem Kommunismus, den Ayaan Hirsi Ali auf dem Höhepunkt des "Karikaturenstreits" in ihrer Berliner Rede zog, ist auf den ersten Blick bestechend, doch nicht ganz überzeugend.

Die Schützenhilfe, die ihr Ulrike Ackermann dann leistete, machte die Sache nicht besser. "Die Verharmlosung des Islam erinnert heute allerdings an jene des Kommunismus vor 1989", schreibt sie. "Zeigten sich damals der westliche Selbsthass und die Entwertung der Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie in der Weichzeichnung des Kommunismus, so können wir dies heute gegenüber dem Islam beobachten - nicht zuletzt aufgrund seines Antikapitalismus und Antiamerikanismus. Der Vorbehalt vieler westlicher Intellektueller gegenüber den ostmitteleuropäischen Dissidenten gründete nicht zuletzt darin, dass sie ja nur für sogenannte 'bürgerliche Freiheiten' kämpften. Viele träumten damals noch vom 'dritten Weg' zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Bis in den Sprachgebrauch hinein liegt die Analogie nahe: die Stalinismuskritik war damals hoffähig, aber der Kommunismus als solcher wurde mit Samthandschuhen angefasst; heute ist die Islamismuskritik common sense, aber der Islam darf nur maßvoll kritisiert werden."

Selbst wenn man im Kommunismus, zumal dem russisch-orthodox geprägten, das Instrumentarium einer politischen Theologie nachweisen kann, ihn - diese theoretische Totgeburt - mit einer über tausendjährigen monotheistischen Religion gleichzusetzen, ist eine grobe Vereinfachung. Die Differenzierung zwischen Stalinismus und Kommunismus hin oder her, er war - selbst in der Sowjetunion - nie eine tief verinnerlichte Religion, die von den Menschen getragen wurde, er war ein von oben mit Gewalt aufgezwungenes Glaubenssystem und eine soziale Verheißung. Und er implodierte wie eine Seifenblase von selbst bereits nach siebzig Jahren. Die Gründe dafür waren vielfältig: der Druck von innen - und da gebührt den Dissidenten und den revoltierenden Massen, wie der polnischen "Solidarnosc", den ungarischen, tschechischen, ostdeutschen, baltischen, ukrainischen und allen anderen Protestbewegungen in all den Jahren Anerkennung - wie auch der Druck von außen und die Verwicklung in den Dialog, die Kooperation und schließlich in den von Ulrike Ackermann so geschmähten "Wandel durch Annäherung".

Es war die Vielfalt der Impulse, die den Kommunismus so erfolgreich und schließlich undramatisch knackte. Die endlosen Debatten - ob "der Westen", sprich: der eine oder andere Politiker, lies: die SPD, zu windelweich gegenüber den Satrapen im Osten und zu nachlässig gegenüber den wahren Helden des Widerstandes war - erwiesen sich letztendlich als wenig produktiv, weil sie rechthaberisch die eine oder andere Seite nachträglich stützen und alte Kränkungen, Fehleinschätzungen und Unterlassungen anprangern und begleichen sollten. Der Sieg des Westens - der auch in den Menschen der sowjetischen Kolonien in Ostmitteleuropa innerlich präsent war - ist aber kein universelles Modell für den Sturz des Kommunismus andernorts, wie der chinesische Fall beweist.

Die ostmitteleuropäischen Dissidenten aus den "realsozialistischen" Ländern, wie Leszek Kolakowski, Adam Michnik oder Vaclav Havel, kehrten ebenso wie die früheren kommunistischen "Renegaten", Arthur Koestler und Ignazio Silone beispielsweise, nach ihrem Bruch mit der kommunistischen Verirrung heim in ihren alten - europäischen, judäo-christlich-aufklärerischen - Kulturraum, so wie es über Jahrhunderte in der europäischen Geschichte jene politischen Emigranten, Abtrünnige, Ketzer und Häretiker taten, die - im eigenen Land verfolgt - bei den Nachbarn Halt suchten. Als Czeslaw Milosz - als volkspolnischer Diplomat - 1951 im Westen blieb und das "verführte Denken" seiner Freunde und Bekannten im von Stalin beherrschten Polen anprangerte, kehrte er in Paris lediglich in seine ursprüngliche kulturelle Heimat zurück, während Hirsi Ali sich mit ihrer Ankunft in Holland von der ihren radikal abwendete, und als Abtrünnige fand sie ihre neue Identität durch die radikale Negation ihrer eigenen islamischen Prägung. Dass Neophyten und Katechumene übereifrig zu sein pflegen, kennt man aus der europäischen Geschichte zur Genüge. Dass Ayaan Hirsi Ali eine mutige, bewundernswerte und in ihrem Anliegen, säkulare Menschenrechte auch den Muslimen - zumindest in Europa - abzuverlangen, zu unterstützende Person ist, steht außer Frage. Selbst wenn sie als eine "Fundamentalistin der Aufklärung" bezichtigt wurde.

Und dennoch ist ein grundsätzlicher Denkfehler in der Analogie zwischen Islam und Kommunismus offenkundig. Der Kommunismus war eine ephemere Erscheinung und ein künstlicher Auswuchs der europäischen Ideengeschichte, während der Islam seit über tausend Jahren die Essenz einer tief verinnerlichten, religiös geprägten Kultur, Tradition, Mentalität und Politikauffassung ist. Den Kommunismus konnte man intellektuell zerpflücken, weil er einen Anspruch auf "Wissenschaftlichkeit" erhob, und - theoretisch - das eigene Denkgebäude einer kritischen Prüfung unterwarf. Die Wortreligionen dagegen erheben den Anspruch, die Offenbarung Gottes als Glaubenssatz zum Fundament zu haben. Und dennoch wandelten sich die Religionen - auch der Islam - im Laufe der Zeit, weil sich die Welt und die Mentalität der Gläubigen veränderte. Sie hatten ihre Schismen und Reformationen, ihre Abtrünnigen und Reformer, ihre heiligen Krieger und toleranten Unionisten, die verfeindete Konfessionen zumindest im Dialog miteinander halten wollten.

Voltaire und die europäische Aufklärung kamen aus der Mitte der europäischen Kultur und blieben vor Ort. Die muslimischen Voltaires sind Grenzgänger, die durch Konfrontation mit der westlichen Kultur die westlichen Kategorien der Freiheit, der Menschenrechte und der Kritikfähigkeit jeglicher Dogmen von außen her, aus Europa, in ihre Kultur hineintragen wollen und tragen. Das ist eine völlig andere Konstellation als die Unterstützung der Abtrünnigen und Dissidenten im Ostblock nach dem Tod Stalins. Ulrike Ackermanns Klagen, dass zu viele westlichen Intellektuelle und Politiker weitaus mehr auf einen "Wandel durch Annäherung" von oben, das heißt auf Gespräche und Umarmungen mit den Machthabern als auf die Unterstützung der Bürgerbewegungen von unten und der Dissidenten setzten, mag in Einzelfällen eklatant zutreffen, und dennoch erinnern sie an einen im polnischen Kabarett seit Jahren veralberten Streit "über die Überlegenheit von Weihnachten über Ostern" oder umgekehrt. Letztendlich war es eine konzertierte Aktion mit verteilten Rollen, für die der NATO-Doppelbeschluss sich als genauso zweckmäßig erwies wie die KSZE-Schlussakte, die Umarmungen mit Honecker und Jaruzelski, die spontane Unterstützung der osteuropäischen Dissidenten und die enorme Paket-Aktion während des Kriegszustandes in Polen, die westliche Gorbimanie (die im Oktober 1989 die DDR-Demonstranten ermutigte) und die polnische Maßarbeit der Jahre 1988/89 - der erneuten Streikwelle und der Dialogfähigkeit beider Seiten, die zum "Runden Tisch" und den ersten halbfreien Wahlen im Ostblock führte, am 4. Juni 1989 (am selben Tag, an dem in Peking die protestierenden Studenten von Panzern platt gewalzt wurden).

Der politische, mentale und philosophische Pluralismus der Europäer hat in einer konzertierten Aktion den Kommunismus zu Fall gebracht und sehr viele, sehr unterschiedliche Gruppen und Denkrichtungen dürfen für sich reklamieren, einen Beitrag zum europäischen annus mirabilis geleistet zu haben.

Diese Vorgehensweise lässt sich nur zum Teil auch auf die Auseinandersetzung mit dem Islamismus übertragen. Die muslimischen Voltaires brauchen natürlich Unterstützung, selbst wenn sie medial perfekt inszenierte "Fundamentalisten der Aufklärung" sein sollten. Sie gehören zu unserem pluralistischen Spektrum ebenso, wie der Islam inzwischen (wieder) ein Teil unserer europäischen Identität geworden ist, da hat Wolfgang Schäuble sicher recht. Und es gibt keinen Grund, weshalb die Europäer nicht kritisch mit diversen heiligen Schriften, also auch dem Koran, umgehen sollten.

Man mag diskutieren, welches Modell - das britische, französische oder deutsche - für die Integration des Islam und der Muslime in Europa das Bessere ist. Alle drei haben ihre Vor- und ihre Nachteile, und in allen diesen Ländern haben halbwegs europäisierte Islamisten, mit Kopftuchverbot oder ohne, Terrorakte verübt. Das Problem ist zu komplex und zu ernst, um es zum Emblem der Überlegenheit der eigenen politischen Kultur über die des französischen bzw. britischen Konkurrenten zu trivialisieren. Es betrifft sowohl die Muslime als auch die europäischen "Aborigines", die glauben, durch die Einwanderer in ihrer eigenen kulturellen Identität gefährdet zu werden. Es gibt keinen Grund - auch nicht den der multikulturellen Toleranz -, in Europa eigene Rechtsprinzipien, wie die Gleichberechtigung der Frau oder die Trennung von Kirche und Staat, mit dem Hinweis auf das Gebot der Toleranz gegenüber anderen Sitten aufzugeben oder durchlöchern zu lassen. Wenn jemand dauerhaft nach Europa kommt, dann will er offensichtlich auch die europäischen Standards akzeptieren. Es erscheint dann auch unverständlich, warum muslimische Schülerinnen von Klassenfahrten, Biologieunterricht oder Sport suspendiert werden sollten. Die Schule führt nicht zur Assimilation, sondern zur Integration der Einwanderer, vorausgesetzt, sie sind in ihr nicht wieder nur unter sich.

Die europäische Geschichte kennt beide Modelle des Umgangs mit "Anderen" als Nachbarn. Seit vielen Jahrhunderten waren Juden im christlichen Europa "innere Nachbarn", mal gern gesehene Händler und Handwerker, von Königen, Fürsten oder Stadträten in ihnen zugewiesene Ghettos geholt, mit eigenen Schulen und - wie in Polen vor den Teilungen - auch mit eigener Selbstverwaltung, mal nach der Ausrufung von Erlassen wie dem "de non tolerandis judaeis" wieder des Landes verwiesen oder nach Pogromen vertrieben. Oft hatten sie sich von ihren christlichen Nachbarn durch ihre Kleidung zu unterscheiden. Die Konsequenz war räumliche und sprachliche Separation. Bei ethnisch motivierten Aufständen oder Bauernunruhen traf sie dann als "Fremde" die volle Wut des bewaffneten Mobs. Während des Chmielnicki-Aufstandes in der Ukraine im 17. Jahrhundert beispielsweise knüpften die Kosaken immer wieder nebeneinander einen Juden, einen (polnischen) Adligen, einen Jesuiten und einen Hund an den Galgen - um den Feind zu veranschaulichen. Die Folge war die große Auswanderungswelle der Juden ins aufgeklärte Preußen, in der Hoffnung, mit der Aufklärung ein Vehikel für Integration und sogar Assimilation mit der preußischen Staatsnation erreichen zu können.

Der innerjüdische Konflikt im Deutschland des 19. Jahrhunderts zwischen den reformierten, oft sogar deutschnational gesinnten Juden, die die Massen der Ostjuden im Kaftan und mit Pejes, die ins Berliner Scheunenviertel zogen, scheel ansahen, erinnert ein wenig an die heutige Debatte um Ayaan Hirsi Alis "aufklärerischen Fundamentalismus". Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch die Assimilation der deutschen Juden sie nicht schützte: Die Nürnberger Gesetze von 1935 sollten die gelungene Assimilation und Integration rückgängig machen und führten zu den Verbrennungsöfen von Auschwitz. Europa war und ist eben bei weitem nicht nur jener Hort der Humanität und Toleranz, wie es uns die Franzosen in die Präambel der EU-Verfassung hineinschreiben wollten, sondern auch eine lange Geschichte der Separation, der Apartheid und des Massenmordes.

Und nun wissen die Europäer nicht genau, wie sie auf die neue Binnenmobilität und Völkerwanderung reagieren sollen, die den (noch gar nicht so alten) Nationalstaat vor grundsätzliche Fragen stellt. Bedeutet die Masseneinwanderung, dass man in den EU-Mitgliedstaaten neue ethnische Minderheiten statuieren soll? Das ist heute einer der deutsch-polnischen Streitpunkte. Wenn es in Deutschland hunderttausende Polen gibt, warum sollten sie keinen Minderheitenstatus bekommen? Ein solcher Status für die Muslime wurde ja in innerdeutschen Debatten schon angesprochen. Der Witz ist, dass kein polnischer Nationalkatholik bisher einen Minderheitenstatus für die ebenfalls hunderttausenden Polen, die in Großbritannien leben, fordert. Im deutschen Fall geht es nur um die fehlende Symmetrie: In Polen gibt es eine angestammte deutsche Minderheit, daher soll es auch eine polnische in Deutschland geben. Schließlich war sie als solche ja früher auch anerkannt, bis 1939 in Schlesien und im Ruhrgebiet. Und um sie gab es vor genau hundert Jahren einen Riesenkrach, der dem wilhelminischen Deutschland ziemlich schadete, als nämlich in Preußen-Polen der Religionsunterricht in polnischer Sprache verboten wurde, was zum Schulstreik der Kinder in Wreschen führte, der erst mit Polizeiknüppeln und Zuchthausstrafen gebrochen wurde. Über den Religionsunterricht in deutscher Sprache sollten damals die Polen germanisiert werden.

Diese Geschichten sind nur auf den ersten Blick alte Kamellen. Sie zeigen, dass der heutige Streit zwischen den "Fundamentalisten der Aufklärung" und den "Kulturrelativisten" in Europa sehr alte Wurzeln hat. Dieser Gordische Knoten lässt sich nicht mit einem Schwerthieb durchschlagen. Deswegen erfordert die islamische Herausforderung in Europa - wie so oft - sehr unterschiedliche Lösungen, sowohl "fundamentalistische", als auch "kulturalistische". Gespräche und Verhandlungen in Form diverser Islamkonferenzen ebenso wie grundsätzlichen Widerspruch dort, wo die Gepflogenheiten der Scharia mit europäischen Prinzipien unvereinbar sind. Europa ist pluralistisch, und es braucht sowohl muslimische Voltaires wie auch Lessings. Schade, dass Hirsi Ali keinen Platz für sich in Holland sah, gut aber, dass sie nach wie vor nicht nur virtuell in Europa präsent ist. Auch in Polen, das derzeit mit einem anderen Fundamentalismus und einem anderen Kulturrelativismus als dem islamischen beschäftigt ist?

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Adam Krzeminski, geboren 1945, ist Publizist und Redakteur der Zeitschrift "Polityka" in Warschau.


Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen Ian Burumas Buch "Murder in Amsterdam" und einen Artikel Timothy Garton Ashs eine internationale Debatte ausgelöst. Alle Artikel zu dieser Debatte finden Sie auf Deutsch hier, auf Englisch hier.