Magazinrundschau

Michael Caine: Magnetismus, Charisma, Sprezzatura

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.09.2007. Der New Yorker geht daran, die amerikanische Niederlage im Irak zu planen. Le Monde diskutiert Rechte für Roboter. Al Hayat geißelt fehlende Transparenz und Autoritarismus in Arabien. In Literaturen betrachtet Andrzej Stasiuk das derzeit aufgeführte Drama des Polentums. In Przekroj erklärt Zadie Smith, wie man Pole wird. Figyelö beklagt die ungenießbare Mittelklasse von Ungarns Wein und Gesellschaft. Der Spectator reist nach Radschastan, das in seiner Ödnis vor allem Milliardäre hervorbringt. In ADN wird Javier Marias von einer Hellseherin verfolgt. Die Weltwoche sucht den Beweis für die Collatz-Vermutung. Trouw rätselt über Taliban Fritz und Guerillera Tanja. Il Foglio isst Kuttelsuppe in Istanbul. Und das TLS fragt, woher Charisma und Sprezzatura kommen: Wird es einem zugeworfen?

New Yorker (USA), 17.09.2007

Unter der Überschrift "Die Niederlage planen" beschäftigt sich George Packer mit der Frage, wie und wann sich die US-Armee aus dem Irak zurückziehen könnte. Das Scheitern einer die verfeindeten Seiten versöhnenden Politik sei nicht alleine den Irakern anzulasten und entlasse die Vereinigten Staaten nicht aus der Verantwortung. "Vielmehr erheben sich eine Reihe neuer moralischer und strategischer Fragen, die auf ihre Weise viel schmerzlicher sind als in jeder anderen Phase des Krieges. Sich diesen Fragen zu stellen, verlangt von der amerikanischen Führung, zu tun, was sie bisher versäumt hat: über die nächsten drei oder sechs Monate hinaus auf die nächsten zwei oder drei Jahre zu blicken. Was können wir tun, den Schaden zu begrenzen, den wir hinterlassen, wenn sich Amerika auf den unausweichlichen Abzug vorbereitet, nicht nur für den Irak, sondern für uns selbst? Amtsträger im Weißen Haus sind entschlossen, den Vorstoß als dramatische Wendung des Kriegs zu präsentieren - als könnte der Krieg noch gewonnen werden."

Ryan Lizza schreibt über Hillary Clinton, die sich für ihre Politik aus dem politischen Vermächtnis ihres Mannes herauspickt, was sie braucht. Zu lesen sind außerdem die Erzählung "Mr. Bones" von Paul Theroux und Lyrik von Les Murray und Joni Mitchell.

David Owen stellt eine Geschichte des Bridge-Spiels vor: "The Backwash Squeeze & Other Improbable Feats". Jill Lepore bespricht eine Studie über den ersten Präsidenschaftswahlkampf der USA: "A Magnificent Catastrophe". Und Anthony Lane sah im Kino den Thriller "Eastern Promises" von David Cronenberg und den Dokumentarfilm "In the Shadow of the Moon" des Briten David Sington über die Apollo-Missionen der Nasa.

Und noch ein Artikel über das Rätsel Schreibabys und ein Porträt der im vergangenen Jahr gestorbenen britischen Pianistin Joyce Hatto.
Archiv: New Yorker

Le Monde (Frankreich), 10.09.2007

Sollen Roboter angesichts ihrer künstlichen Intelligenz auch Rechte haben? Mit dieser Frage, weiß Le Monde, beschäftigen sich diverse wissenschaftliche Projekte, aber auch Verbände in Roboter herstellenden Ländern. Während man in England über Wahlrecht und Steuerpflicht von Maschinenhelfern und in Amerika über eine mögliche Gleichstellung mit Tieren nachdenkt, hat man in Japan ein eher pragmatisches und wenig von ethischen Überlegungen geprägtes Verständnis. In Südkorea wiederum, dem größten Rivalen der Japaner auf dem Robotermarkt, soll noch in diesem Jahr ein "Ethikkatalog für Roboter" abgefasst werden. "Der Text lehnt sich an Prinzipien an, die der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov formuliert hat. Roboter dürfen sich nicht an Menschen vergreifen oder Menschen Schmerzen zufügen tun. Roboter müssen Menschen gehorchen, solange es nicht gegen die erste Regel verstößt. Roboter müssen für deren Schutz sorgen, sofern es nicht gegen die anderen Regeln verstößt."
Archiv: Le Monde

Al Hayat (Libanon), 10.09.2007

Dalal al-Bizri widmet sich dem Gerücht, das trotz aller Dementis die ägyptische Öffentlichkeit während der letzten Wochen in Atem hielt: Präsident Hosni Mubarak sei gestorben. Für Bizri ist dies Ausdruck des "neblig-kafkaesken Klimas", das die Debatten über die politische Zukunft des Landes prägt. "Suzan Mubarak fordert, nach der Quelle der Gerüchte zu suchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Oberste Presserat unter dem Vorsitz von Sawfat al-Sharif trifft sich, um den Umgang der nationalen (das heißt regierungsnahen) und der unabhängigen Presse mit den Gerüchten aus einer 'rechtlichen' Sicht zu überprüfen. Die Anhänger Mubaraks sind also dabei, Vergeltung zu üben. Sollte es aber tatsächlich dazu kommen, dass man die Quelle der Gerüchte findet - und ich meine damit die wirkliche Quelle und nicht nur diejenigen Personen, die das Gerücht später aufgriffen und verbreiteten - hieße dies nicht, der fehlenden Transparenz und dem politischen Autoritarismus ein Ende zu bereiten? Fehlende Transparenz und politischer Autoritarismus sind der beste Nährboden für Gerüchte! Arabien ist ein Land der Mutmaßungen, der Unklarheiten und Eindrücke, ein fruchtbarer Boden für alle Gerüchte."

Die öffentlichen Gebete, zu denen die Fatah im Gazastreifen zum Protest gegen die Hamas aufgerufen hat, werden von Rasim al-Madhun wohlwollend kommentiert: "Die Freitagsgebete auf öffentlichen Plätzen sind nach meiner Ansicht Ausdruck eines breiten öffentlichen Protestes gegen die Herrschaft der Hamas und ihr Vorgehen in Gaza. Es ist der erste ernsthafte Schritt der Bevölkerung, die Kontrolle der Moscheen (durch die Hamas) abzulehnen - ein Erfolg für diejenigen, die die Moscheen als Orte des Gebetes und nicht als politische Zentren irgendwelcher Art betrachten."
Archiv: Al Hayat

Economist (UK), 07.09.2007

Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat ein dickes Buch geschrieben über die Frage, wie weit und wie tief die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften von heute reicht. Der Economist hält es für nicht ganz leicht zu lesen, aber sehr anregend: "Taylor nimmt einige krude Versionen des nach-aufklärerischen Säkularismus auseinander. In manchen Darstellungen, stellt er fest, werde Religion als bizarre und vorübergehende Wahnvorstellung präsentiert, der die Menschheit leider für einen Moment verfiel. Hatte die Wissenschaft erst einmal bewiesen, dass die religiösen Behauptungen über die Ursprünge der Welt falsch sind, konnte die Menschheit zu einem 'natürlicheren' Denken 'zurückkehren'. Charles Taylor beharrt darauf, dass auch das säkulare, wissenschaftliche Denken eine Form existenzieller Wahl, ein besonderer Moment der menschlichen Entwicklung ist - und nicht ein 'natürlicher' Zustand."

Außerdem geht es um Nicolas Sarkozys Vorstellungen zur Schulreform, die Eröffnung eines Sprachlehrinstitus für Arabisch in New York, die aktuellen Pläne für die zukünftige Ground-Zero-Architektur und den aktuellen Stand des DVD-Formatkriegs zwischen Blu-Ray- und HD DVD, Besprochen werde auch ein "umfassendes und faszinierendes" Buch von Jonathan Carr über den Wagner-Clan und eine Studie von Elizabeth Currid über den New Yorker Kunstmarkt mit dem Titel "The Warhol Economy".
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 07.09.2007

Als ausgesprochen kluge Kulturgeschichte feiert Michael Caine das Buch "It" des Theaterwissenschaftler Joseph Roach: "Wie Roach zeigt, gibt es eine große Tradition von Prominenten, Märtyrern, Stars, Monarchen und anderen, die in den Augen der Öffentlichkeit Magnetismus, Charisma, Sprezzatura oder was auch immer besaßen - jeder Begriff birgt seine eigene historische Fülle. Das gewisse Etwas ist laut Roach die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit magisch auf sich zu ziehen, unabhängig von schauspielerischem Talent, physischer Schönheit oder einem anderen handfesten Vorzug. Aber was ist es genau? Wird man damit geboren? Muss man sich dazu emporarbeiten? Wird es einem zugeworfen? Um Es zu haben, muss der glückliche Besitzer diesen seltsamen Magnetismus haben, der beide Geschlechter anzieht. Er oder sie muss sich gänzlich seiner selbst unbewusst sein und zugleich voller Selbstvertrauen sein. Einbildung oder das Seiner-selbst-Bewusstsein zerstören Es. Im Tierreich zeigt Es sich bei Tigern und Katzen - beide Tiere sind faszinierend und mysteriös - und nicht zu zähmen."

"Was für eine herrliche, ungestüme, kräftige Breitseite von einem Buch!", freut sich Atheist Richard Dawkins über Christopher Hitchens' Abrechnung mit Religionen aller Art "God is not Great". Auch über Hitchens selbst kann er gar nicht genug schwärmen. Was für ein "tödliche Akkuratesse in der Schießkunst"! Und was für Reaktionsfähigkeiten: "Einmal wurde er von einem amerikanischen Priester öffentlich herausgefordert, zuzugeben, dass es ihn doch beruhigen würde, wenn er erführe, dass die Männergang, die sich ihm in einer dunklen Gasse nähert, gerade von einem gemeinsamen Gebet komme. Sein Volley war nicht parierbar: 'Um nur beim Buchstaben B zu bleiben, hatte ich tatsächlich solche Erlebnisse in Belfast, Beirut, Bombay, Belgrad, Bethlehem und Bagdad. In all diesen Fällen kann ich definitiv sagen und begründen, warum ich mich sogar bedroht gefühlt hätte.'"

Besprochen werden auch Niklaus Largiers Geschichte der Geißelung "In Praise of the Whip" und zwei Bücher über die Geschichte und Ausgrabung Pompejis.

Foglio (Italien), 08.09.2007

Siegmund Ginzberg kehrt hier und hier nach 50 Jahren nach Istanbul zurück, wo er seine Kindheit verbrachte, bevor die Familie nach Italien auswanderte. Die Erinnerungen drehen sich vor allem ums Essen: "die mittendurch gespaltenen Schafsköpfe aus dem Ofen (in Istanbul backt man sie, zusammen mit Kartoffeln, im offenen Ofen), die Kuttelsuppe mit Ei, Zitronen und Knoblauch, und die rohe, leicht gesalzene Makrele. In Istanbul habe ich in den letzten Tagen sogar noch Besseres gefunden, die Kokorec aus Schafsinnereien und das Lakerda, der marinierte Thunfisch, den man einst in Blechkanistern an den Straßenecken kaufen konnte. Mein Vater brachte ihn mit, als er nach Hause kam, stoßgeschützt eingewickelt in gelbem Karton, zusammen mit einer unverzichtbaren halben roten Zwiebel. Ich kann diesen Geschmack den Lesern nicht beschreiben, die das nie probiert haben. Um einen groben Eindruck zu bekommen, kann ich nur sagen, dass es die Mutter aller Sushi und Sashimi ist."
Archiv: Foglio
Stichwörter: Mutter, Kartoffeln

Gazeta Wyborcza (Polen), 08.09.2007

In Polen wird neu gewählt. Für Satiriker hätte es keine bessere Regierung als die der Kaczynskis geben können, konstatieren Joanna Derkaczew und Dorota Jarecka, fragen aber auch, wie sich die Künste mit der "Vierten Republik" tatsächlich auseinandergesetzt haben: "Die Kunst in Zeiten der Kaczynski-Koalition erinnerte oft an Fernsehunterhaltung und Internetwitze. Viele sind der Versuchung einfacher Witze über die Zwillinge erlegen, bedienten sich allgemeiner Slogans. Ein Spiel mit Assoziationen genügte." Bei aller Sorge um das Niveau bleibt aber die Frage "Vielleicht wird ein überzeitliches Werk noch entstehen? Vielleicht ist Politik in solchem Maße schon Spektakel, dass das Theater dabei hilflos ist?"

Mit seiner Äußerung, internationale Beobachter sollten zu den Wahlen in Polen eingeladen werden, hat Vaclav Havel für Missmut gesorgt. Dabei war er nur wegen der Präsentation der polnischen Ausgabe seiner Memoiren "Fassen Sie sich bitte kurz" nach Krakau gekommen. Über den grünen Klee gelobt wurde er dabei von Adam Michnik und seinem Künstlerkollegen (und Senator) Kazimierz Kutz: "Herr Havel war, wie ich, für die Politik gar nicht geeignet - Künstler sollten damit nichts zu tun haben. Und er ist dennoch der Beweis, dass jemand mit literarischem Talent und einem Gefühl für Ethik Politik betreiben kann. Das brauchen wir in Polen - wir verbinden Politik nur, verzeihen Sie den Ausdruck, mit Scheiße."

Außerdem: Kritisch gelobt wird das letzte Buch von Zbigniew Brzezinski ("Second Chance", hier die Besprechung aus der NYT) - "einem der letzten Menschen in Amerika, bei dem, wenn er ans Mikrofon tritt, alle respektvoll schweigen".
Archiv: Gazeta Wyborcza

Przekroj (Polen), 06.09.2007

Im Interview spricht die Schriftstellerin Zadie Smith über Ethik und Authentizität. "Es gibt nichts Authentisches außer dem, was du liebst, was dich interessiert. Man ist kein Pole, weil man in Polen geboren ist, sondern weil man polnische Küche, Literatur, Menschen liebt. Das ist keine mythische Eigenschaft des Blutes - das ist eine sehr gefährliche Annahme. Würde ich lang genug in Polen leben, wäre ich wohl nicht weniger polnisch als der vorige Papst. Es ist unglaublich, wie austauschbar Kultur ist."

Außerdem berichtet Joanna Wozniczko-Czeczott berichtet, werden in der Nähe von Lemberg (Lviv) in speziellen Camps Ukrainerinnen zu kosakischen Amazonen erzogen: Anhängerinnen von Julia Timoschenko, die an antike Legenden anknüpfen und so etwas wie ein Shaolin-Kloster für Frauen werden wollen.
Archiv: Przekroj

Figyelö (Ungarn), 06.09.2007

Abgesehen von einigen Spitzenmarken hat der ungarische Wein viele ungenießbare Weine aufzubieten; was fehlt, ist eine breite Mittelklasse. Und genauso, stellt Imre Tompa fest, verhält es sich mit der ungarischen Gesellschaft: "Jede vernünftige Gesellschaft hat einen Mittelstand. Bei uns bildeten vor dem Zweiten Weltkrieg die Möchtegern-Aristokraten und Beamte, während des Kommunismus die unterdrückten Intellektuellen und nach der Wende erschöpfte und/oder Steuern hinterziehende Kleinunternehmer den sogenannten Mittelstand. Die Mittelschicht von heute ist sehr heterogen: erfolgreiche Unternehmer, die gut gebildete und kosmopolitische junge Generation, die für die postsozialistischen Länder typischen, immer vom Staat abhängigen Quasi-Bürger, die sich nicht ändern wollenden, angesichts des Kapitals immer noch errötenden Intellektuellen und die heruntergekommenen Nachfahren des ehemaligen Kleinadels gehören heute zum Mittelstand. Der Antisemitismus und andere Hirngespinste der letzteren gibt diesem schlechten Cuvee einen ekelhaften Beigeschmack. Ganz unten brodelt unidentifizerbarer dunkler Saft.?
Archiv: Figyelö
Stichwörter: Mittelschicht, Mittelklasse

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.09.2007

In Ungarn wird zum ersten Mal die in Theresienstadt entstandene Oper "Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung" des in Auschwitz ermordeten Komponisten Viktor Ullmann aufgeführt. In einem Interview sagt der Dirigent Ivan Fischer dazu: "Zahlreiche Werke wurden in den Konzentrationslagern dazu verurteilt, nicht mehr geschrieben zu werden. Wenn die genialen Künstler unter den sechs Millionen Opfern und die Talente unter den nie geborenen Kindern und Enkelkinder der Opfer überlebt hätten, dann hätte sich die Kunst und Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz anders entwickeln können." Aber er hält auch fest: "Diese Oper ist in erster Linie ein Meisterwerk; man sollte sie auch dann aufführen, wenn sie nichts mit dem Holocaust oder den eigenartigen Verhältnissen des Kulturlebens in Theresienstadt zu tun hätte. Man kann die Aufführung als Gedenken an die Opfer interpretieren, aber für mich ist es eher eine große Freude, dass von vielen Werken, die im Weltbrand zerstört wurden, dieses eine gerettet werden konnte."

Spectator (UK), 08.09.2007

Richard Orange begibt sich in die trockenen Weiten von Shekhawati in der Provinz Radschastan, wo der Stahlkönig Lakshi Mittal aufgewachsen ist. "Dieser schmale Landstrich, wo schon um das tägliche Brot gekämpft werden muss, hat eine außergewöhnliche Fähigkeit, Milliardäre hervorzubringen. Mehr als hundert Jahre lang hat die örtliche Händlerschicht, die Marwari Seth, ein Gespür bewiesen, Reichtümer anzuhäufen. Vier der zehn reichsten Inder waren Marwari. Ein Stunde holprige Autofahrt südöstlich von Rajgarh liegt Pilani, Heimat der Familie Birla, deren reichstes Mitglied Kumar Mangalam Birla auf dem siebten Platz der Liste ist. Im Südwesten liegt Ramgarh, Heimat von Shashi und Ravi Ruia, deren Stahl-, Öl- und Reedergeschäft auf dem achten Plaz liegt. Lakshmi Mittals Namensvetter Sunil Mittal, Gründer der Telekommunikations- und Supermarktgruppe Bharti Enterprises, befindet sich an sechster Stelle."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Autofahren

Guardian (UK), 08.09.2007

Ryunosuke Akutagawa, gefeierter japanischer Schriftsteller der zwanziger Jahre, setzte seinem Leben schon nach 35 Jahren eine Ende. Schuld waren sowohl die verrückte Mutter als auch die Zukunft, schreibt David Peace in einem Porträt. "Am 23. Juli 1927 herrschte in Tokio eine Rekordhitze. Akutagawa jedoch schien das nicht zu stören und scherzte mit seinen Kindern beim Mittagessen. Über den Nachmittag und frühen Abend hinweg empfing er den üblichen Strom an Besucherm, die mit einem der führenden Autoren der Gegenwart sprechen wollten. Nach dem Abendessen beendete er seinen Essay "Man of the West" über Jesus als Dichter. Dann begann er, einen überlegten und umfänglichen Brief an Kume mit dem Titel 'Eine Nachricht für einen alten Freund' zu schreiben, in dem er erklärte, was er tun wollte. Akutagawa beschreibt seine ausgeklügelten Selbstmordpläne, Ertrinken kam nicht in Frage, da er ein guter Schwimmer war, Erhängen war ebenso ausgeschlossen, zu unappetitlich. Als er sich für Medikamente entschieden hatte, las er sich in die Toxikologie ein. Als tatsächlichen Grund für den Selbstmord vermerkt er schließlich eine 'vage Angst über meine Zukunft'."

Ian Rankin wird doch nicht? Mit "Exit Music" ist der angeblich letzte Band der Krimireihe über den schottischen Kommissar John Rebus erschienen. Mark Lawson versucht sich an einem unziemlichen Vergleich mit Harry Potter. "Ergebene Leser beider Serien werden diese Bücher mit einer ungeheuren Erwartungshaltung angehen, unsicher ob die zentrale Figur, die schon mehrmals in Todesgefahr schwebte, das finale Duell mit dem Bösewicht überlebt, der sie von Anfang an begleitete. Rebus' Pendant zu Potters Voldemort ist Big Ger Cafferty, ein Gangster aus Edinburgh. Will man in dieser Analogie noch weiter gehen, fragt man sich auch, wie die Autoren langwierig aufgestaute sexuelle Spannungen lösen: was Hermine Granger für Harry ist - ein cleverer, eher praktisch begabter Kumpel für einen introvertierten Grübler - das ist DS Siobhan Clarke für Rebus."

Weiteres: Ali Smith erinnert daran, dass die bekannte Fotografin Lee Miller auch sehr lohnende Literatur geschrieben hat. Euripides' Dramen sind bekannter, doch gut 2400 Jahre nach dessen Tod weist David Greig, der eine Neuinterpretation der "Bacchae" auf dem Edinburgh Festival präsentierte, sicherheitshalber noch einmal darauf hin. Wo sind die Kriegsdichter von heute, fragt James Campbell und macht die Unbeliebtheit von Militarismus und Irakkrieg verantwortlich.
Archiv: Guardian

ADN cultura (Argentinien), 08.09.2007

Die argentinische Tageszeitung La Nacion bietet ihren Lesern seit kurzem ein neues Kulturmagazin: ADN (was der deutschen Abkürzung DNS entspricht).

In der aktuellen Ausgabe beklagt sich Javier Marias darüber - wie es einst Joseph Conrads Witwe durch keinen geringeren als Arthur Conan Doyle habe erleiden müssen -, von einer Hellseherin verfolgt zu werden, die behaupte, sein vor Jahren verstorbener Kollege Juan Benet wolle mit ihm Kontakt treten - zum Abschied vollführe Benet jeweils einen lustigen Knicks: "Ich glaube nicht an Geistererscheinungen und Botschaften aus dem Jenseits. Aber wenn, dann sollen sie gefälligst sprechen wie zu Lebzeiten und nicht irgendwelchen Unfug von sich geben, der ihnen vor dem Tod niemals über die Lippen gekommen wäre."

Im Interview spricht der ehemalige französische Erziehungsminister und erfolgreiche Buchautor Luc Ferry über Sinn und Zweck heutigen Philosophierens: "Ich glaube, die Zeit der philosophischen Avantgarde ist vorbei. Die Philosophie der Gegenwart sollte mit viel positiveren Begriffen arbeiten: Wie lebt man eine moderne, laizistische Spiritualität? Das ist die große Frage. Die Menschen sind heute nicht mehr gläubig, selbst die Gläubigen nicht allzusehr."

Und Susana Reinoso berichtet aus Berlin: "Eine der wichtigsten Aufgaben der Erinnerung ist es, für das, was aus dem Erinnern folgt, einzustehen. Deutschland bietet in diesen Tagen ein Beispiel politischer Reife, und zwar von einer durch nichts zu übertreffenden Bühne aus: dem Internationalen Literaturfestival Berlin."
Archiv: ADN cultura

Literaturen (Deutschland), 05.09.2007

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk kann den polnischen Kaczynski-Zwillingen durchaus etwas abgewinnen: "Mir gefällt das Schauspiel, das die Zwillinge für uns zum Besten geben. Vor den Augen der ganzen Welt führen sie - ganz schamlos, könnte man sagen - das Drama und die Komödie des Polentums auf, vermischt mit dem Drama und der Komödie der Macht. Vor dem Hintergrund des Seilschaftsdenkens, der Lauheit, des Pragmatismus, aber auch der Korrektheit der vorhergehenden Equipen entwickeln sich die Zwillinge förmlich zu Shakespeare?schen Gestalten. Man sieht auf den ersten Blick, dass sie sich von großen Emotionen leiten lassen, die sie im Interesse eines kühlen Wettstreits im Zaum zu halten versuchen."

Weitere Artikel: Rene Aguigah porträtiert die Autorin Kathrin Passig, die sich zwischen Bachmann-Preis und "Riesenmaschine"-Blog von Erfolg zu Erfolg bewegt. In der "Beiseite"-Kolumne muss die Schriftstellerin Sibylle Berg sich sehr über das "grandiose Gewäsch" in einem Artikel von Alice Schwarzer aufregen. In der Netzkarte beschäftigt sich Aram Lintzel mit der "Buergelmaschine", die Theoriephrasen drischt wie der Leiter der aktuellen documenta persönlich.

Im Kriminal berichtet Franz Schuh, dass er jetzt endlich auch einen Roman des Wiener Autors Heinrich Steinfest gelesen hat - und siehe da, die Gerüchte sind wahr, Steinfest "ist in der Tat einer der besten Kriminalschriftsteller". Peer Trilcke bedauert in seiner Rezension von Durs Grünbeins "Strohen für übermorgen", dass der Dichter "mittlerweile nur noch Hochkultur in jedem Geräusch" hört. Manuela Reichart hat den Kino-Dokumentarfilm "Feltrinelli" über den linken italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli gesehen, Bernhard Gleim bespricht drei Hörbücher, darunter Peter Wapnewskis "Nausicaa soll nicht sterben", Barbara Vinken rezensiert Hannelore Schlaffers Buch über die Mode "Schule der Frauen" und Sophie von Glinski schreibt über die Männerromane von Robert Menasse und Michael Kleeberg.

Die Titelgeschichte ist Harry Potter gewidmet - online nachlesbar ist sie aber nicht.
Archiv: Literaturen

Trouw (Niederlande), 10.09.2007

Deutschland hat "Taliban Fritz", Holland seine "Guerrillera Tanja": Die 29-jährige Studentin Tanja Nijmeijer kämpft als Mitglied der Guerillatruppe FARC im Dschungel Kolumbiens. Damit hat sie es in ihrer Heimat zur T-Shirt-Ikone gebracht. Jetzt gibt es auch ein Video, in dem die junge Niederländerin über Heimweh klagt und doch überzeugt ist, "das Richtige zu tun". Was treibt junge Westeuropäer dazu, sich einer Terrorgruppe anzuschließen? "Falsche Romantik", schreibt Edwin Koopman und zitiert einen FARC-Experten: "Die Europäer sorgen nur für Probleme. Die FARC will Menschen, die an das harte Leben im Urwald gewöhnt sind. Kolumbianische Studenten und Akademiker, die mit dem bewaffneten Kampf sympathisieren, bleiben in den Städten und halten Kontakt mit ihren Familien. Die wählen die Rolle von Propagandisten, organisieren Solidaritätsbekundungen an den Universitäten oder gründen 'humanitäre' Organisationen im Ausland, um Spenden zu sammeln. In Kolumbien selbst gibt es kaum so etwas wie Dschungelromantik. Denn Kolumbianer wissen, dass eine Entscheidung für die FARC lebenslänglich gilt. Bist Du einmal in der Guerrilla, kommst Du da nie mehr raus."
Archiv: Trouw
Stichwörter: Holland, Kolumbien

Nepszabadsag (Ungarn), 10.09.2007

Nach der Gründung der rechtsextremen paramilitärischen Organisation "Ungarische Garde" lehnt die stärkste politische Kraft, die rechtskonservative Fidesz, weiterhin ab, die Rechtsextremen zu verurteilen. Die demokratischen konservativen Kräfte entziehen sich der Verantwortung und setzen Ungarn der Gefahr der Radikalisierung aus, meint Ervin Tamas: "Die zweite Welle der Wendeverlierer ist lauter, ihr gesellschaftlicher Einfluss stärker. In Ungarn findet gerade nicht die Apokalypse statt, nur einige Strukturreformen. Aber sie werden ohne einen gesellschaftlichen Konsens durchgesetzt, weshalb sich die Frustrationen der Einzelnen summieren. Am Ende wird jeder, wegen einer Baustelle im Stau stehende Autofahrer, von der allgemeinen Lethargie der Massen in Stimmung gebracht, den nationalen Notstand ausrufen."

Hetes ist ein Ort in Nordungarn der äußersten Not, ohne ärztliche Versorgung, Strom, Straßenbeleuchtung, Müllabfuhr, ohne jegliche Perspektive: ein Stück Dritte Welt in Mitteleuropa. In Hetes leben überwiegend ungarische Roma, die nach dem Abbau der sozialistischen Großindustrie ohne Arbeit geblieben sind. Die Schriftstellerin und Regisseurin Kriszta Bodis hat hier eine Kreativwerkstatt gegründet und bringt ihnen bei, wie sie mit Farbe, ein paar Perlen oder mit Wörtern zum Ausdruck bringen können, was sie beschäftigt. Agi Farkas kommentiert: "Das Ziel der Werkstatt ist, den Teilnehmern kreative Prozesse und Kunstgattungen möglichst komplex bekannt zu machen. Die Kinder schreiben beispielsweise Märchen um, inszenieren sie und treten als Laiendarsteller in ihrer eigenen Fassung auf. Sie drehen Dokumentar- und Spielfilme, schreiben Theaterstücke und führen sie auf. Ihre Sehnsüchte, Träume, Gedanken werden in ihren Werken überhaupt zum ersten Mal ausgesprochen."
Archiv: Nepszabadsag

Weltwoche (Schweiz), 06.09.2007

Für besonders schlaue Leser listet Mathias Plüss einige ungelöste Rätsel der Wissenschaft auf. Gesucht wird zum Beispiel der Beweis für die Collatz-Vermutung. "1937 veröffentlichte der deutsche Mathematiker Lothar Collatz ein Problem, das bis heute ungelöst ist. Man nehme eine beliebige natürliche Zahl. Wenn sie gerade ist, teile man sie durch 2; wenn sie ungerade ist, multipliziere man sie mit 3 und zähle 1 dazu. Mit dem erhaltenen Resultat verfahre man genauso (durch 2 oder mal 3 plus 1) und so weiter. Die Vermutung von Collatz: Früher oder später landet man immer bei 1."
Archiv: Weltwoche

New York Times (USA), 09.09.2007

In der Sunday Book Review bespricht Patricia Cohen das neue globalisierungskritische Buch von Naomi Klein mit dem Titel "The Shock Doctrine", das bereits auf heftigen Widerstand der Ökonomen trifft: "In ihrem Buch argumentiert sie, dass die Schocktherapie, die westliche Ökonomen in den letzten dreißig Jahren verordnet haben, den betroffenen Ländern nicht ohne eine politische Schocktherapie aufgenötigt hätte werden können - nämlich die brutale Unterdrückung und Suspendierung demokratischer Rechte. Die Länder des Westens hätten gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank im Grunde diverse Katastrophen - Hyperinflation, den Tsunami, den Krieg im Irak - ausgenutzt, um radikale Veränderungen wie Privatisierung, Deregulierung und gravierende Einschnitte in Sozialsysteme durchzudrücken. Diese Strategien, die von ausländischen und amerikanischen Schülern des laissez-faire-Ökonomen Milton Friedman durchgesetzt worden seien, hätten bittere Armut und Not für Millionen bedeutet, während sie den multinationalen Konzernen oft die Möglichkeit offerierten, die wertvollsten Besitzstände der Nationen zu Schleuderpreisen zu erwerben."

David Oshinsky hat sich im an der University of Texas in Austin befindlichen Archiv des Verlags Alfred A. Knopf umgesehen - und stieß auf jede Menge peinlicher Ablehnungsgutachten, zu Werken von literarischen Größen wie Jack Kerouac und Jean-Paul Sartre, Jorge Luis Borges und Syliva Plath. Außerdem gibt es eine Rezension zu zwei neuen Büchern über den Nahen Osten, nämlich "World War IV: The Long Struggle Against Islamofascism" von Rudy Giulianis Politberater Norman Podhoretz (das als persönliche Abrechnung mit der Linken heftig verrissen wird) und Michael A. Ladeens "The Iranian Time Bomb".

Die Titelgeschichte des New York Times Magazine ist dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Rudolph Giuliani gewidmet, gegen dessen Erfolg sechs durchnummerierte Gründe sprechen (ist zu schwulenfreundlich, trägt gern Frauenkleider in der Öffentlichkeit, ist ein Unsympath) - und den man trotzdem, warnt Matt Bai, nicht unterschätzen sollte. Mark Edmundson informiert über das Interesse, das der erklärte Atheist Sigmund Freud spät in seinem Leben der Religion entgegenbrachte.
Archiv: New York Times