Efeu - Die Kulturrundschau

Die Meise hat etwas Partisanenhaftes

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2014. Die Theaterkritiker erwarten Großes von Oliver Reese, dem designierten Nachfolger Claus Peymanns am Berliner Ensemble ab 2017. Aaron Bady gibt in The New Inquiry Lektüretipps für Literatur aus Afrika. Ist Film noch eine autonome Kunst, fragt die taz blass nach einer Wiener Diskussion über Film, Kunst und Medien. Die NZZ schwelgt in den Bildern von Constable und Turner und den italienischen Bauten Alvaro Sizas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.12.2014 finden Sie hier

Kunst



Kommenden Donnerstag wird im Kölner Auktionshaus van Ham ein von Edmond Goncourt einst ausgiebig beschriebenes, dann aber für 118 Jahre verschollenes Hokusai-Bild versteigert, das die frisch abgeschlagenen Köpfe zweier hingerichteter Verbrecher im Jahr 1847 zeigt, berichtet Andreas Platthaus in der FAZ: "Die Provenienz lässt sich nicht mehr lückenlos schließen, doch der verstorbene Mann der jetzigen Eigentümerin kaufte das Werk vor vierzig Jahren in Paris, schloss es aber sofort danach in einem Safe weg, um seiner Frau den Anblick zu ersparen. Sie wusste nur, dass sich dort etwas sehr Bedeutendes befand; dass es sich um eine Hokusai-Malerei handelte, die einzige echte überhaupt in Deutschland, wusste sie nicht."

"Nacktheit sei tabu, Aufstände dürften nicht thematisiert werden und man lege Wert auf positive Botschaften, habe es in einem Papier geheißen": Die von Anselm Franke geleitete 10. Shanghai Biennale muss sich den Maßgaben und Auflagen der Regierung fügen, berichtet Sabine Weier in der taz. "Ähnliche Kriterien gelten für die Ästhetik des Sozialistischen Realismus. ... Künstler wie Liu Ding setzen sich mit der Bedeutung dieser ideologisierten Bildsprache für die Gegenwart auseinander. Kunst entstehe in China nach wie vor innerhalb der von der sozialen Ordnung und der zentralisierten politischen Macht vorgegebenen Grenzen, kommentiert er."


The Hay Wain,John Constable, 1821, oil on canvas. © The National Gallery, London 2014

Derzeit widmen die Tate Britain und das Victoria & Albert Museum den beiden großen Konkurrenten John Constable und William Turner jeweils umfassende Einzelausstellungen, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ, die beide Ausstellungen "erhellend und faszinierend" fand. Vor allem über den nicht so bekannten Constable lernte sie Neues: "Die Schau im Victoria & Albert Museum ist eine wunderbare Einführung in sein Werk und seine Arbeitsweise; sie erklärt, zeigt und erzählt. Sie geht von der Behauptung aus, dass Constable als Maler galt, der mit europäischen Traditionen brach und sich in besonderer Weise der ihn umgebenden Landschaft annahm: Auf dieser Grundlage wuchs und gedieh wohl auch Constables Ansehen als prototypisch englischer Maler. Doch diese Behauptung, so die These der Ausstellung, war ein Mythos. Constables Kunst, so wird im V&A schlüssig gezeigt, war tief in den Traditionen europäischer Malerei verankert."

Besprochen wird eine Ausstellung von Barbara Klemms und Stefan Moses" Porträtfotografien im Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg (FAZ).
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Bühne

Oliver Reese, bislang Intendant des Schauspiels Frankfurt, übernimmt 2017 Claus Peymanns Posten am Berliner Ensemble, meldet etwa die FAZ via dpa. Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung schaut dem mit verhaltenem Wohlwollen entgegen: Reeses "eigenen Regiearbeiten zeichnen sich eher durch Zurückhaltung als durch einen eigenen Ausdruckswillen aus. ... Das Künstlersein ist bei aller gebotenen Eitelkeit nicht seine erste Intention. Er wird auch in Berlin vor allem als kulturbetrieblich und kulturpolitisch sicher vernetzter Theateradministrator verdienstvolle Arbeit leisten." Was man sich darunter vorstellen könnte, erfahren wir bei Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: Reese plane wenige Klassiker, aber ein ""Theater der Gegenwart", was nur durch ein "Theater der Autoren" zu erreichen sei, und zwar im internationalen Rahmen." Pläne, deren Umsetzung laut Gerhard Stadelmaier in der FAZ "aufs innigste zu wünschen" sei.


Foto: Monika Rittershaus

Außer Amüsement wenig gewesen, meint Peter Uehling in der Berliner Zeitung nach Herbert Fritschs "Don Giovanni"-Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin: "Fritschs Inszenierung ist auf den schnellen Effekt und den flachen Lacher berechnet. Damit wird sie, trotz einiger Buhs am Ende, zweifellos Kult werden wie Koskys Projektions-"Zauberflöte". Darüber kann sich die Komische Oper freuen. Als Konzeption eines modernen Musiktheaters wird das Spaßprogramm des Hauses indes allmählich schal."

Stefan Puchers "Baal"-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin stieß bislang auf wenig Begeisterung. Harald Jähner immerhin zeigt sich in der FR hoch beeindruckt von Christoph Franken als Baal: Er "ist ein Koloss mit fettigen Haaren, die ihm bis auf die häufig nackten Brustwarzen reichen. Ein weißer Kloß und so raumgreifend, wie der 20-jährige Bertolt Brecht (...) ihn sich erträumte, als er 1918 die erste Fassung schrieb. ... Als sich der Zwei-Zentner-Mann auszieht und triumphierend seinen ungestählten Körper reckt, hält der Saal den Atem an. Es schwabbelt wirklich an allen Stellen - geradezu hyperreal vom Scheinwerferlicht in Szene gesetzt."

Außerdem: Im Tagesspiegel gratuliert Rüdiger Schaper der Berliner Volksbühne zum 100-jährigen Bestehen. Besprochen werden Verdis "Otello" am Theater Basel (NZZ), Volker Löschs "Die Ratten"-Inszenierung in Düsseldorf (SZ), neue Hauptmann-Inszenierungen in Bochum und Düsseldorf (FAZ), Jüri Reinveres in Oslo aufgeführte Oper "Peer Gynt" (FAZ) sowie Vincenzo Bellinis "La Sonnambula" in Frankfurt (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Im Interview mit der Welt erklärt Wu-Tang-Clan-Mitglied RZA woher die innere Ruhe ihres neuen Albums kommt: "Als junge Männer hatten wir die Energie eines Malcolm X. Jetzt, wo wir älter geworden sind, bevorzugen wir den Tonfall eines Martin Luther King." Todlangweilig findet Saskia Hödl in der taz das neue Album von Taylor Swift: "Es erfüllt gängige Popklischees in einem Ausmaß, dass es schon an Ideenlosigkeit grenzt. Die Songs wirken bereits beim ersten Hören wie Plagiate." Für die SZ porträtiert Reinhold J. Brembeck den Geiger Rüdiger Lotter, der zugleich erfolgreich die Hofkapelle München leitet.

Außerdem: Adventszeit - Jahresbestenlistenzeit! The Quietus präsentiert mit seinen 100 wichtigsten Alben des sich neigenden Jahres ein wahres Füllhorn. PopMatters kürt unterdessen die 75 besten Songs des Jahres.

Besprochen werden ein Konzert der Smashing Pumpkins (Berliner Zeitung, FAZ) und ein von Marek Janowski dirigierter Ravel-Abend (Tagesspiegel).
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Literatur

In der NZZ empfiehlt Nico Bleutge gewissermaßen mit leuchtenden Augen Franz Friedrichs Romandebüt "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr", dessen "ausgeprägter Sinn für Nuancen" momentweise versteckte Utopien aufblitzen lasse: "Die Meise hat "etwas Partisanenhaftes", heißt es an einer Stelle. Und so ähnlich verhält es sich mit Franz Friedrichs Details. Seine Einzelheiten sind die erzählerischen und sozialen Partisanen, die den Bürokratismus von Behörden ebenso unterwandern können wie jede andere Art von Normierung."

(via 3 quarks daily) Literaturempfehlungen aus Afrika umfassen immer die selben Verdächtigen: Achebe und Ngugi natürlich und eine handvoll weiterer Autoren, die alle eins gemeinsam haben: Sie wurden in den 30er Jahren geboren. Hat vielleicht jemand Interesse an neuerer Literatur aus den Afrikas, fragt Aaron Bady in The New Inquiry. Er hat einige Tipps, wenn er auch niemandem die Lektüre von Achebe vermiesen will. Aber: "Wenn man wirklich verstehen will, was Gabriel García Márquez macht, sollte man vielleicht William Faulkner lesen, wie es García Márquez tat. Und Faulkner ist kein schlechter Autor. Aber Faulkner ist keine Voraussetzung für García Márquez. Ebenso ist die Generation der in den 1930ern geborenen Autoren keine Voraussetzung für die Lektüre von Büchern, die in den letzten zehn oder gar dreißig Jahren geschrieben wurden." Leider sind die meisten Empfehlungen Badys nur auf Englisch zu lesen. Aber vielleicht fühlt sich ein deutscher Verlag ja inspiriert von der Liste?

Weitere Artikel: In der NZZ spießt Roman Bucheli die "Unsitte" zumeist jüngerer Romanautoren auf, sich seitenlang bei den Geburtshelfern ihres Werks zu bedanken. Bei der Tübinger Poetik-Dozentur gehen in diesem Jahr Taiye Selasi, Priya Basil, AngrChika Unigwe und Nii Parkes Fragen nach Herkunft und Identität nach, berichtet Kathleen Hildebrand in der SZ. Im Tagesspiegel erinnert Tobias Schwartz, in der taz Tim Caspar Boehme an den Marquis de Sade, der vor 200 Jahren gestorben ist. Im Tagesspiegel gratuliert Peter von Becker Botho Strauß zum 70. Geburtstag, in der Welt Eckhard Fuhr, in der FAZ Hubert Spiegel.

Besprochen werden Alenka Zupancics "Der Geist der Komödie" (taz), Claudia Piñeiros "Ein Kommunist in Unterhosen" (Tagesspiegel), die von Shaun Usher herausgegebenen "Letters of Note" (FR), Jennifer Clements "Gebete für die Vermissten" (Tagesspiegel), Ulla Hahns "Spiel der Zeit" (FAZ) und Roman Ehrlichs Erzählungsband "Urwaldgäste" (SZ).
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Film

Ausgerechnet im Österreichischen Filmmuseum, sonst bekannt für seinen Material-Rigorismus, diskutierte man bei einer Tagung sehr unbefangen über Film in anderen Rezeptions- und Medienkonstellationen, wundert sich Sven von Reden in der taz: "Das Beziehungsviereck Film, Museum, Kunst und Geschichte wurde auf so undogmatische und unvorhersehbare Weise verhandelt, dass man sich manchmal Filmmuseumsmitbegründer Peter Kubelka im Auditorium als Zwischenrufer gewünscht hätte... Kubelkas emphatisch modernistischer Begriff vom Film als autonomer Kunst, sein Bestehen auf dem kategorischen Unterschied zwischen analogen und digitalen Bewegtbildern und Insistieren auf dem Kino als "reinstem" Ort für das Filmerlebnis wurde auf dem Symposium von vielen Seiten implizit relativiert, untergraben oder widersprochen."

Für den Tagesspiegel hat sich Martin Schwickert mit Woody Allen unter anderem über dessen neuen Film "Magic in the Moonlight" unterhalten, für den sich Carolin Ströbele auf ZeitOnline so gar nicht begeistern kann: Dieser Film "ist der traurige Tiefpunkt von Allens filmischer Europatournee."

Besprochen werden eine große Ausstellung zu François Truffaut in der Cinémathèque française in Paris (Welt), Ulrich Seidls Dokumentarfilm "Im Keller" (Tagesspiegel) und Peter Luisis antirassistisches Plädoyer "Schweizer Helden" (SZ).
Archiv: Film

Architektur


Alvaro Siza, Block 121 "Bonjour tristesse", Berlin, Schlesisches Tor, ©Giovanni Chiaramonte, 1983

Eine Ausstellung im Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (Mart) stellt die italienischen Arbeiten des portugiesischen Architekten Alvaro Siza seinem Gesamtwerk gegenüber. Ein sehr guter Ansatz, findet Roman Hollenstein in der NZZ: "Unter den italienischen Arbeiten, die das ganze Spektrum von Sizas Schaffen abbilden, findet man eindrückliche Werke wie die Umgestaltung der Kirchenruine und die Sanierung der erdbebengeschädigten Häuser von Salemi, Experimente wie den unrealisierten Umbau zweier Plätze in Siena, städtebauliche Interventionen wie das organisch komponierte Doppelwohnhaus in Gallarate oder unsentimentale Lehrstücke wie die minimalistische "Campo di Marte"-Siedlung auf der Giudecca in Venedig. Dieses Material allein würde reichen, um dem in Italien so einflussreichen Meister nach der großen Retrospektive von 1999 in Vicenza erneut eine attraktive Schau auszurichten."

Weiteres: Nikolaus Bernau berichtet in der Berliner Zeitung von einem Symposium über die anstehende Sanierung der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Besprochen wird eine fünfbändige Monografie zu Bauten und Projekten Peter Zumthors (NZZ).

Archiv: Architektur