Vom Nachttisch geräumt

Italien, die Schönheit und das Biest

Von Arno Widmann
19.03.2018. Ganz in Rosé: Vittorio Sgarbis 3-bändige Geschichte der italienischen Kunst, "Il tesoro d'Italia".
Ich habe eine dreibändige Geschichte der italienischen Kunst auf meinem E-Reader. Darin lese ich immer mal wieder ein oder zwei oder auch einmal drei Kapitel. Sie ist ganz altmodisch. Ein paar wenige Sätze über einen Künstler, einige Hinweise auf bestimmte Bilder und auf das, was auf ihnen zu sehen ist, und dann geht es weiter zum nächsten Kapitel. Sie ist nicht zum Lesen, sondern zum Schauen da. Vittorio Sgarbi ist der Autor, ein Hans Dampf in allen Gassen. Nur damit sie gewarnt sind, hier der Beginn des deutschen Wikipedia-Eintrags über den 1952 geborenen Kunsthistoriker: "Sgarbi studierte von 1974 bis 1978 an der Universität Bologna und von 1984 bis 1988 an der Universität Udine. Er war Kurator des italienischen Pavillons auf der Biennale di Venezia 2011. Er war von 1992 bis 2006 Mitglied der Abgeordnetenkammer, sowie ab 2008 Bürgermeister der Stadt Salemi, bis die Gemeinde 2012 wegen mafiöser Infiltrierung einer kommissarischen Verwaltung übergeben wurde."

Wer die entsprechenden Sätze des italienischen Eintrages liest, der liest "È stato più volte membro del Parlamento e di diverse amministrazioni comunali, tra le quali Milano, nonostante abbia collezionato numerose condanne civili e penali per ingiuria, diffamazione e truffa ai danni dello Stato."

Der italienische Wikipedia Eintrag zählt die verschiedenen Verurteilungen des Vittorio Sgarbi dankenswerter Weise akribisch auf. Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, ich hätte dennoch nach seinem Buch gegriffen. Nein, ich tat es gerade darum. Es erhöht den Reiz der Lektüre, wenn man weiß, der feinsinnige Ästhet hat auch eine wirklich verbrecherische Seite. Abgesehen von seiner sexuellen Angeberei. Er soll erklärt haben, er habe an die vierzig unehelicher, von ihm nicht anerkannter Kinder. Mal erklärt er, er sei stolz darauf, Katholik zu sein, mal das Gegenteil. Das italienische Wikipedia nennt zwölf Parteien oder Listen, für die er tätig war oder ist: Kommunisten, Monarchisten, Christdemokraten, Forza Italia, Radikale, und immer wieder eine Sgarbi-Liste.


Schöpfungsgeschichte von Wiligelmo am Dom von Modena (detail), 1099. Bild: Sailko/Wikipedia

Das ist alles natürlich viel interessanter als seine Kunstgeschichte. Aber nur mit der habe ich mich beschäftigt. Zur Warnung: Es gibt sie nur auf Italienisch. Sie ist natürlich nicht ganz so uninteressant wie ich hier tue. Sgarbi hat auch noch entlegenste Kirchen und Klöster aufgesucht und dort Aufnahmen gemacht oder machen lassen von Gemälden, Fresken, die man sonst kaum sieht. Wenn es denn wahr ist, was er schreibt. 2008 wurde ihm nachgewiesen, dass er ein von ihm gelieferter angeblich von ihm geschriebener Text ein Plagiat war. Nicht einmal eines entlegenen Artikels, sondern aus einer der meistverkauften, einst an jedem Kiosk zu habenden Heftes.

"Il Tesoro d'Italia" heißen die drei Bände. Der Untertitel "La lunga avventura dell'Arte". Im ersten Band werden vierzig Künstler vorgestellt. Das Vorwort eines Verfassungsrechtlers erinnert daran, dass Italien das Land ist mit den meisten von der Unesco anerkannten Stätten des Weltkulturerbes - Stand 2013 -, aber auch das Land, das mit am wenigsten für deren Erhaltung ausgibt. Was die ökonomische Bedeutung des Kulturtourismus angeht, hat Berlin Rom längst überholt.

Das macht den Zweck dieser drei Bände deutlich. Sie sind Propaganda. Propaganda für die italienische Kunst. Sie zeigen ihren Reichtum. Die Idee ist, dass man sie nimmt und mit ihnen Italien und seine Kunstschätze entdeckt und lieben lernt. Kunstliebe als patriotische Aufgabe. Allerdings geht Sgarbi chronologisch und erst in der Chronologie die einzelnen Kunstlandschaften durch. Wer Kunstgeschichte noch ganz altmodisch gelernt hat, der bewegt sich also auf sehr vertrautem Gelände.

Das erste Kapitel heißt: "In principio fu la scultura". Also der romanische Steinmetz Wiligelmo, mit seinen um 1100 geschaffenen, die Genesis erzählenden Figuren am Dom von Modena. Wiligelmo ist der erste italienische Künstler, der seine Werke signierte. Die wenigen Seiten, die Sgarbi schreibt, sind Loblieder auf die Lebensnähe, die Lebendigkeit der Darstellung. So geht es weiter von Loblied zu Loblied. Sgarbi ist nur begeistert. Eine Kunstgeschichte ganz in Rosé. Aber. Es gibt ein Aber. Er weist auf Einzelheiten hin, die man leicht übersieht, weil man sie für selbstverständlich hält. Auch der Schöpfergott ist lebensnah und lebendig dargestellt. Ein Mensch wie die anderen auch. Er hat die gleichen überdimensionalen Plattfüße wie sie. Das schreibt Sgarbi nicht. Aber er hat mir mit diesen Fotos die Augen dafür geöffnet.


Caravaggio, Vocazione di san Matteo (detail), chiesa di San Luigi dei Francesi, Roma

Der Sgarbi'sche Enthusiasmus ist schwer zu ertragen. Auch weil er zu völlig blödsinnigen Sätzen führt. So schreibt er zum Beispiel über Benedetto Antelami (circa 1150 - circa 1230), der sei der erste Bildhauer gewesen, der den arbeitenden Menschen ganz unsymbolisch dargestellt habe. Er lässt die antiken Vorläufer, geschweige denn die altägyptischen, mal kurz weg. Alles zum Ruhme Italiens. Dazu passt, dass er Antelamis Darstellung der Arbeit nutzt, um auf den Artikel 1 der italienischen Verfassung hinzuweisen. Dessen erster Satz lautet: "L'Italia è una Repubblica democratica, fondata sul lavoro".

Sgarbi hat zusammen mit Michele Ainis, dem Verfassungsrechtler, der ein Vorwort zu seiner Trilogie schrieb, auch ein Buch geschrieben: "La Costituzione e la Bellezza". Das kam freilich erst im Mai 2016 heraus. Das Pathos der Arbeit prägte die italienische Nachkriegszeit - die Verfassung, die Sgarbi meint, entstand am 27. Dezember 1947 - so sehr wie die Realität der Arbeitslosigkeit. Sgarbi wendet sich nicht zurück und blickt auf das Parma, an dessen Baptisterium Benedetto Antelami seine Bauern- und Küferfiguren anbrachte.

Man kann den ganzen Jahreszeitenzyklus auch im Internet betrachten. Der Blick dort hinüber lohnt sich. Bei Antelami zum Beispiel steht in der deutschen Wikipedia, dass er "die südfranzösische Baukunst und Bildhauerei sehr gut gekannt haben muss". Man neigt dazu, das als Gegengift zu Sgarbis Nationalstolz zu schlucken. Aber die englische Wikipedia schreibt über ihn, dass sein "sculptural style sprang from local north Italian traditions that can be traced back to late antiquity". Sgarbi selbst weist daraufhin, dass es überhaupt nur zwei Quellen zu Antelamis Lebensgeschichte gibt: die Inschrift von 1178, die ihn als Schöpfer der Kreuzabnahme am Dom von Parma nennt, und die von 1196 am Baptisterium derselben Stadt. Alles andere sind stilistische Schlüsse.

Aber warum schreibe ich das alles? Erstens finde ich, dass Vittorio Sgarbi, dass aber vor allem sein Erfolg etwas erzählt über Italien. Zweitens frage ich mich, warum kein deutscher Verlag etwas Vergleichbares zustande bringt. Eine deutsche Kunstgeschichte in hundert Künstlern zum Beispiel. Das hat finanzielle Gründe. Man muss wissen: Sgarbis Schwester Elisabetta leitete den Verlag, in dem seine Kunstgeschichte Italiens erschien. Aber es gibt auch - nennen wir sie - geostrategische. Deutschlands Mittellage, die Offenheit für Einflüsse aus allen vier Himmelsrichtungen. Immer und jederzeit. Sgarbi blickt auch hinüber nach Frankreich, Holland und auch zu Dürer. Aber er tut es immer mit dem ungebrochenen Selbstbewusstsein der Italianità, der italienischen Kunst.

"Das Deutsche in der deutschen Kunst" ist der Titel eines Buches, das Volker Gebhardt 2004 bei DuMont veröffentlichte. Gebhardt stieß auf erstaunliche Parallelen zum Beispiel zwischen Ottonischer Buchmalerei und Expressionismus. Allerdings lässt sich über die Lücke eines Jahrtausends keine deutsche Kontinuität konstruieren. Aber ich verstricke mich. Das macht Sgarbi auch nicht. In Wahrheit lese ich gerne in den drei Bänden, weil Sgarbi in seinen Texten meinen Blick auf Details lenkt, die ich ohne ihn übersehen würde. Zum Beispiel, wenn er mir zeigt, wie viel Christus in dem berühmten Che-Guevara-Foto von Alberto Korda steckt. Oder die eng anliegenden roten Hosen des heiligen Julian auf dem Bild von Bartolomeo della Gatta. Über eine seiner für mich verblüffendsten Entdeckungen freilich schweigt Sgarbi. Tino di Camainos Caritas-Figur im Museo Bardini in Florenz. Die Caritas nährt an jeder ihrer Brüste einen Säugling. Den in ihrem linken Arm tätschelt sie am Penis. Die Figur soll zu einer Gruppe theologischer Tugenden gehört haben, die über der Ostpforte des Baptisteriums in Florenz stand. Steht nicht bei Sgarbi, sondern bei Wikipedia. Man stelle sich den Sturm der Entrüstung vor, den eine solche Darstellung heute entfachen würde.

Vittorio Sgarbi: Il tesoro d'Italia I- III, Bompiani Mailand 2013 - 2015, zusammen etwa 1400 Seiten, mit mehr als 1000 farbigen Abbildungen, 28,07 Euro.