Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.08.2006. Die Gazeta Wyborcza sieht die EU in Nationalismen versinken. Im Spiegel ruft Irene Dische dem norwegischen Schriftsteller Jostein Gaarder zu: Suchen Sie sich andere Objekte für Ihren Hass! Im New Yorker forscht Seymour Hersh nach den wahren Interessen Amerikas an Israels Militärschlag im Libanon. In Al Ahram warnt Haim Bresheeth vor der "jüdischen Lobby". In der London Review kritisiert Yitzhak Laor vor dem "jüdischen Goliath". In Heti Valasz fragt sich der Historiker Andreas Oplatka, ob Imre Nagy wirklich als Kommunist durchgehen kann. Il Foglio erzählt chinesisch-taiwanesische Spionagegeschichten. Im Spectator besteht Boris Johnson darauf, dass er ein britischer Fisch ist. Folio verbreitet ausschließlich Lügen. Und der Guardian porträtiert den großartigen australischen Künstler Ron Mueck.

Gazeta Wyborcza (Polen), 12.08.2006

"Mit der EU-Verfassung ging die Ära der großen europäischen Projekte zu Ende. Ein Jahr nach der Katastrophe der beiden Referenden schweben wir immer noch im Vakuum", konstatiert Jacek Pawlicki, der Europa im Nationalismus versinken sieht. "Die europäischen Nationalismen sind bei weitem nicht so bedrohlich wie in den 1930-er Jahren, aber sie sind im Stande, die Integration des Kontinents zu gefährden. Das erste Opfer ist dabei das Prinzip der Solidarität, und die nächste Herausforderung ist ganz klar die Immigration." Eigentlich müsste die Antwort auf solche Probleme mehr Europa sein, aber "vielleicht ist der Niedergang der EU schon vorgezeichnet?"

Im Interview gesteht der Schriftsteller Pawel Huelle, dass es für ihn nichts Langweiligeres gibt als die Avantgarde, denn: "Nichts altert so schnell wie die Moderne." An die Zukunft mag er nicht glauben. "Ich möchte niemandem die Sommerferienlaune verderben, aber wir leben in einer Zeit, in der es mit der traditionellen europäischen Kultur zu Ende geht. Sie ist ein sinkendes Schiff, das sich immer weniger steuern lässt, und es ist kein Land in Sicht."

Weitere Artikel: Izabella Adamczewska und Aleksandra Hac prophezeit die Wiedergeburt des "Gelobten Landes". Aber nicht im Nahen Osten, sondern in der früheren Textilmetropole Lodz, im "Manchester des Ostens", das der Nobelpreisträger Wladyslaw Reymont 1899 als magischen Anziehungspunkt für unternehmerische Abenteurer beschrieb - als "Gelobtes Land" eben. Nach der Depression der De-Industrialisierung kehrt der Optimismus in die zweitgrößte Stadt Polens zurück, dank ausländischer Investitionen und Einheimischer, die neues Leben in alte Fabrikgemäuer einhauchen. (Diesen Artikel kann scheint man nur im Quelltext lesen zu können.) Und Anna Dudzinska und Bartlomiej Kuras stellen fest, dass immer mehr Polen im ukrainischen Lviv, dem früheren polnischen Lwow, (auf Deutsch heißt es Lemberg) gleich hinter der Grenze studieren. "Die Gebühren sind niedriger als in Polen und die Atmosphäre einmalig", wird die Entscheidung begründet.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Spiegel (Deutschland), 14.08.2006

"Es reicht!", meint die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische in einem Kommentar zu Jostein Gaarder (mehr hier) und anderen Kritikern Israels, die sich nur höchst ungern über israelische Kriegsopfer, Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten oder den vulgären Antisemitismus im Libanon empören und nicht sehen wollen, dass Israel von Staaten umgeben ist, die ihm das Existenzrecht absprechen: "Kein anderes Land, das um sein Überleben kämpft, würde so beurteilt werden. Es ist gut möglich, dass der gegenwärtige Konflikt nur der Auftakt zu einem großen Drama ist, das mit dem Erlöschen des jüdischen Staates endet, der, wie in einer griechischen Tragödie, genau das heraufbeschwört, was er vermeiden will: den Untergang. Und wenn Israel schließlich ins Meer gestoßen ist, gibt es eine zugegebenermaßen krankhafte Genugtuung für mich: Leute wie Jostein Gaarder müssen sich andere Objekte für ihren Hass suchen."

Weiteres: Der Titel ist den jüngsten Attentatsplänen der al-Qaida gewidmet, die, so Yassin Musharbash, ihre früheren Ausbildungscamps längst durch Schulungskurse im Internet ersetzt hat. Zu lesen ist auch ein Vorabdruck aus Henryk M. Broders neuem Buch "Hurra, wir kapitulieren", eine Abrechnung mit der Appeasement-Politik des Westens gegenüber dem militanten Islam. Hans-Michael Kloth und Klaus Wiegrefe haben beim Blick in die Archive festgestellt, dass die Führungsspitze des Bundes der Vertrieben stärker mit Ex-Nazis besetzt war als bisher angenommen: Bis in die achtziger Jahre waren demnach von etwa 200 Funktionäre ein Drittel Mitglied der NSDAP oder anderweitig belastet.
Archiv: Spiegel

New Yorker (USA), 21.08.2006

Seymour M. Hersh untersucht die "Interessen Amerikas an Israels Krieg". Trotz der bei Beginn der Auseinandersetzungen offiziell abwartenden Haltung des amerikanischen Außenministeriums stehe fest: "Die Regierung Bush war eng in die Pläne für die israelischen Vergeltungsschläge einbezogen. Präsident Bush und Vize Dick Cheney waren, wie mir derzeitige und frühere Geheimdienstleute und Diplomaten erzählten, davon überzeugt, dass eine erfolgreiche Bombenattacke der israelischen Luftwaffe gegen die Hisbollah ... Israels Sicherheitsbedenken beruhigen und zugleich als Auftakt zu einem möglichen amerikanischen Präventivschlag dienen könnte, um die Atomanlagen des Iran zu zerstören."

Zu lesen sind außerdem ein Kommentar von Hendrik Herzberg über den wachsenden Widerstand gegen den Irakkrieg und die Erzählung "The Spot" von David Means. Adam Kirsch bespricht unter der schönen Überschrift "Der bekiffte Philosoph" die englische Erstveröffentlichung von Walter Benjamins "Über Haschisch" und die "Berliner Kindheit". Joan Acocella schreibt über israelischen Tanz im Lincoln Center. Alex Ross stellt drei neue amerikanische Opern vor. Und David Denby sah im Kino Oliver Stones Film "World Trade Center" über den 11. September. Er fand ihn wider Erwarten gar nicht so schlecht: "Stone bahnt sich seinen Weg zu unseren Gefühlen mit dem gewöhnlichen Nachdruck, aber mit mehr Klarheit, Vernunft und Maß als in der Vergangenheit."

Nur im Print: ein Brief aus New Orleans über ein verlorenes Jahr, ein Text, der sich mit der sich nicht unmittelbar erschließenden Frage beschäftigt, ob Surfen je wieder sein wird, was es einmal war, eine Untersuchung, was Dirigenten Musikern eigentlich übermitteln, und Lyrik.
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 10.08.2006

Der in London lehrende Kultur- und Medienwissenschaftler Haim Bresheeth wärmt eine alte Verschwörungstheorie auf. Eine die Spitzen US-amerikanischer und europäischer Medien dominierende "jüdische Lobby", so seine Vermutung, verbreite pausenlos israelische Propaganda und unterstütze so auch die "schlimmsten Gewaltexzessse Israels". "Was ist nur aus den Nachfahren der Propheten und der Holocaust-Überlebenden geworden?", fragt Bresheeth und entdeckt in meinungsbildenden "Koryphäen wie Bernard-Henri Levy oder Alain Finkielkraut" einen "neuen Typ des rechten jüdischen Intellektuellen": "Wie kann etwa die britische Öffentlichkeit eine korrekte und genaue Sicht der Ereignisse bekommen, wenn der Chor der Apologeten täglich einstimmig sein Lied singt, uns vor Fakten, Beweisen, der Wahrheit bewahrend und jeden Kritiker israelischer Gewalt als Antisemiten brandmarkend?"

Der Politikwissenschaftler Hassan Nafaa überlegt, warum die Hisbollah es vermochte, die libanesische Gesellschaft und die arabische Welt insgesamt "mit Stolz" zu erfüllen. Zunächst mal sei es 2000 "einer Widerstandsgruppe erstmals in der Geschichte des israelisch-arabischen Konflikts gelungen, die Israelis zum Rückzug aus besetztem arabischen Territorium zu zwingen". Und zum zweiten zeige der jetzige Krieg: "Ein Staat, der seine Bürger nicht beschützen kann, ist seinen Namen nicht wert... In der gegenwärtigen Konfrontation mit Israel sind wir mit gegensätzlichen Bildern konfrontiert. Das eine zeigt Israel, einen militärischen Behemoth ohne Moral. Das andere zeigt den Widerstand, der das Monster herausfordert und demütigt. Die Hisbollah geht aus dieser Konfrontation glänzender hervor als alle arabischen Regierungen zusammen. Und die Libanesen scheinen erfinderischer als alle anderen arabischen Gesellschaften."
Archiv: Al Ahram Weekly

London Review of Books (UK), 17.08.2006

Der israelische Schriftsteller Yitzhak Laor geht harsch mit seinen Landsleuten ins Gericht: "Sobald Details über den Hinterhalt von Bint Jbeil, bei dem acht israelische Soldaten starben, öffentlich wurden, begannen Presse und Fernsehen in Israel kritische Stimmen zu marginalisieren. Die Medien fielen zurück in den Kitsch, an den Israelis sich von Kindheit an gewöhnen müssen: die bedrohlichste Armee der Region wird hier beschrieben, als sei sie der David gegen den arabischen Goliath. Tatsächlich hat der jüdische Goliath den Libanon zwanzig Jahre zurückgeworfen und die Israelis noch weiter: Wir erscheinen nun als eine Lynchmob-Kultur, am Fernseher klebend, angestachelt von einem Premier, der seine Führung mit einem Feuersturm und Zerstörung auf beiden Seiten der Grenze gestartet und legitimiert hat."

In einem wundervoll Haken schlagenden Text ergründet der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin eine bedeutsame gesellschaftliche Entwicklung: die Transformation der Köche von "Leuten, die für billiges Geld für Reiche kochen, in Menschen, für die einige Reiche liebend gern umsonst arbeiten arbeiten würden". Anlass ist "Heat", das Buch von New-Yorker-Autor Bill Buford, über "An Amateur's Adventures as Kitchen Slave, Line Cook, Pasta-Maker and Apprentice to a Butcher in Tuscany".

Weiteres: Charles Glass beschreibt die Hisbollah als allem äußeren Anschein entgegen moderne militärische Truppe. Und in seinem Tagebuch stellt August Klein fest, dass Tony Blair seinen Karikaturen immer ähnlicher wird.

Heti Valasz (Ungarn), 10.08.2006

Zum 50. Jahrestag des ungarischen Volksaufstandes von 1956 sind unveröffentlichte Archivmaterialien erschienen. Andreas Oplatka, Historiker und ehemaliger Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, analysiert die Tagebücher des inhaftierten Anführers Imre Nagy. Er sei auch nach dem Aufstand ein Kommunist geblieben, aber "seltsamerweise waren seine Ansichten auch mit Standpunkten vereinbar wie: Die bedingungslose Treue zur Sowjetunion ist kein Prüfstein der Politik eines sozialistischen Landes. Der echte Internationalismus des Proletariats bedeutet Gleichrangigkeit, nicht demütige Dienerschaft gegenüber Moskau. Mehrparteiensystem und Sozialismus sind kompatibel. Nagy betonte, dass das Volk die Neutralität Ungarns fordere - auch das war mit seinen kommunistischen Ansichten vereinbar. Der Warschauer Pakt, aus dem Ungarn am 1. November 1956 austrat, war für ihn grundsätzlich negativ, ein Instrument der Blockpolitik. Die Revolution sei der Unabhängigkeitskampf eines gekränkten Volkes gewesen, das vom chauvinistischen russischen Imperialismus niedergeschlagen worden sei. Noch einmal: War er wirklich ein Kommunist?"
Archiv: Heti Valasz

Foglio (Italien), 12.08.2006

Seit Ende Juni wird Top-Beamten der chinesischen Regierung zur Abschreckung ein Video von dem Prozess gegen den - später hingerichteten - taiwanesischen Spion Tong Daning gezeigt. Antonio Talia nimmt den Fall zum Anlass, die aufsehenerregendsten Fälle des andauernden Spionagekriegs zwischen China und Taiwan zu beschreiben. "Zhu Gongxun etwa ist ein Angehöriger des taiwanesischen Geheimdienstes. Die Chinesen haben ihn im vergangenen Mai in der Provinz Guangxi gefasst, im Südwesten des Landes, nachdem er über die Grenze zu Vietnam herein gekommen war, mit einem weiteren Agenten, von dem man nur den Nachnamen weiß, Li. Die Details der Operation sind diffus. Zhu sei in die Falle eines fiktiven chinesischen Verräters gegangen, heißt es. Zhu ist kein gewöhnlicher Agent. Er ist der Vizechef der Abteilung, die für alle taiwanesischen Zellen im südöstlichen asiatischen Raum verantwortlich ist."

Desweiteren erinnert Andro Fusina an Richard Hamilton, der der Pop-Art vor fünfzig Jahren mit einer Collage ihren Namen gab.
Archiv: Foglio

Spectator (UK), 11.08.2006

Boris Johnson, zufällig in New York geboren, aber so britisch wie Roastbeef und Königin, verkündet, dass er keinen Wert mehr auf seinen amerikanischen Zweitpass legt, weil er gefälligst auch als Brite in die USA einreisen dürfen will. "Welches andere Land besteht darauf, dass man sein Staatsbürger sein muss, nur weil man es sein kann? Stellen Sie sich vor, alle in Großbritannien geborenen Amerikaner dürften nur in dieses Land reisen, wenn sie ihren britischen Pass benutzen. So etwas krankhaft Besitzergreifendes habe ich nicht mehr erlebt seit den Verhandlungen um die EU-Fischfangquoten, als die Iren darauf bestanden, dass der Kabeljau des Atlantiks in seiner Fischseele immer noch irisch sei, auch wenn er längst in portugiesischen Gewässern schwimmt."

Man könne zwar fragen, ob Israels Vorgehen gegen die Hisbollah im Libanon politisch klug ist, meint Paul Robinson, aber vom militärgeschichtlichen Standpunkt aus entspreche Israels Kriegsführung den Standards des gerechten Krieges - und genau der Taktik der Nato gegenüber Serbien 1999. "Die Absicht der israelischen Armee (eine fremde Macht einzugrenzen, indem man ihrer Infrastruktur unwiderruflichen Schaden zufügt), die Ziele (Straßen, Brücken, Fernsehstationen) und die Folgen (angesichts der Länge der Kämpfe ungefähr die gleiche Anzahl an unschuldigen Toten) sind sehr ähnlich. Diejenigen, die Israel jetzt kritisieren, aber die Nato-Schläge guthießen, sollten entweder ihre jetzige Opposition oder ihre damalige Unterstützung überdenken."

Weiteres: David Cameron hat die britischen Tories auf einen israelkritischen Kurs geführt, Fraser Nelson fragt sich, ob es Zufall ist, dass das neue Logo der Partei - ein grüner Baum - aussieht wie die Flagge des Libanon. Und Rod Liddle erklärt Großbritannien für übervölkert.
Archiv: Spectator

HVG (Ungarn), 09.08.2006

Der konservative Bürgermeister eines Budaer Edelbezirks hat im Oktober 2005 den Opfern des Zweiten Weltkriegs ein Denkmal gestellt. Der riesige Turulvogel stammt aus dem ungarischen heidnischen Mythenkreis, und ist einem Adler ähnlich. Das Denkmal ist umstritten: als Symbol der ungarischen Nazis in den 1930er Jahren und heutiger Rechtspopulisten sei der Turulvogel als Denkmal ziviler Opfer des Zweiten Weltkriegs unakzeptabel. Da er ohne Genehmigung der Hauptstadtverwaltung aufgestellt wurde, muss er jetzt innerhalb von 30 Tagen wieder entfernt werden. Eine konservative Bürgerinitiative will mit einer Menschenkette den Abbau verhindern. Zoltan Horvath fordert trotzdem, dass das Denkmal entfernt wird: "Beim Anblick des Turulvogels befällt viele Budapester ein Unbehagen, weil er nicht nur an die ehrenhafte Geschichte der ungarischen Nation, sondern auch an ein würdeloses Kapitel unserer Geschichte erinnert. Für viele bedeutete diese Zeit Erniedrigung und Lebensgefahr, der Anblick des Denkmals ist für sie einfach unerträglich."
Archiv: HVG
Stichwörter: Hvg, 1930er

Point (Frankreich), 10.08.2006

In seinen Bloc-notes vergleicht Bernard-Henri Levy den Krieg in Nahost mit alten Fotos, auf denen das Bild zunächst verblasst und unscharf erscheine und sich erst mit der Zeit "Schatten, Konturen, Schwarzflächen, Töne und Halbtöne, Kontraste" abzeichneten. Diese Figur dekliniert er an der Hisbollah, dem Libanon, den Palästinensern, dem Iran und dem Islam durch. So habe man natürlich zwar gewusst, dass die Hisbollah im Süden des Landes einen "Staat im Staate" etabliert habe. "Aber so viele Waffen? (...) Dieses unglaubliche Tunnelnetz in den Hügeln? Diese uneinnehmbaren Bunker? Diese Waffenlager in Privathäusern und Moscheen? Das ist die erste Enthüllung dieses Kriegs." Der Libanon, der sich nun offenbart, sei "nicht mehr die Ausnahme, das Wunder, die Oase der Kultur und des Friedens, die uns in unserer Jugend begeistert hat - die moralischen Bomben des Fundamentalismus haben das Land leider entstellt."
Archiv: Point

Folio (Schweiz), 07.08.2006

Alles Lügen im neuen Folio! Reto U. Schneider besucht die New Yorker Zeitung Weekly World News, die jede Woche 48 Seiten voller Lügen verbreitet - mit Erfolg. "Damals wie heute teilt sich die Leserschaft in zwei gegensätzliche Gruppen. Da sind einerseits Städter, Studenten, Intellektuelle, Künstler, die Weekly World News als surrealistische Sozialsatire lesen und die Schlagzeilen neben Gary-Larson-Cartoons an die Bürotür hängen: 'Nonne will sich von Gott scheiden lassen und verlangt das halbe Universum.' Auf der anderen Seite sind da die Leser in ländlichen Gebieten im Süden der USA, Bewohner von Wohnwagenparks, Verschwörungstheoretiker, religiöse Fundamentalisten, wild entschlossen, an nichts zu zweifeln, was in dieser Zeitung steht."

Constantin Seibt amüsiert sich darüber, wie sein erlogener Brecht-Text von 1979 offizielle Anerkennung erfahren hat ."Zum guten Schluss erschien das gesamte Kernstück von Brechts Fußballtheorie auf Seite 41 im offiziellen 'Kunst- und Kulturprogramm der Bundesregierung Deutschland zur Fifa-WM 2006' (Vorwort: Franz Beckenbauer und der ehemalige Innenminister Otto Schily). Zitiert wurde es unter dem Titel 'Theater muss wie Fußball sein' vom Bundesfilmpreisträger Peter Lohmeyer, dem es nicht zuletzt meine Brecht-Passage über die besondere kritische Qualität des Fußballpublikums angetan hatte: 'So ist auch Kritik Markenzeichen dieses Publikums. Während der Smokingträger in Konzerten oder im Theatersaal aufs Maul sitzt, treffen wir in den Sportstadien auf einen Menschen, der pfeift, raucht, singt, aber nicht jede Darbietung zu ertragen gewillt ist.'" Der Beweis als pdf.

Weiteres: "Niemand hat vor, eine Mauer zu errichten." Christian Ankowitsch präsentiert weltbekannte und weltpolitische Lügen. Martin Lindner untersucht anhand einiger bekannter Fälle, warum Hochstapler sich oft bewusst um Kopf und Kragen lügen. Lügendetektoren haben noch nie funktioniert, stellt Ken Alder in seiner Geschichte des Geräts fest. Im Gespräch mit Gudrun Sachse verteidigt der Undercover-Journalist Günter Wallraff seine Täuschungsmanöver. Sachse erzählt außerdem die Geschichte des ostdeutschen CIA-Agenten Eberhard Fätkenheuer, der auch jetzt nicht ohne Lügen leben kann.

In seiner Duftnote findet Luca Turin die Parfums Balmain "mit verbundenen Händen auf dem Henkerskarren, der sie für immer ins 9. Arrondissement bringt".
Archiv: Folio

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 11.08.2006

Neal Ascherson stellt David Blackbourns "The Conquest of Nature: Water, Landscape and the Making of Modern Germany" vor, ein Buch über "das 250 Jahre währende Bemühen der Deutschen, sich ihre Landschaft zu unterwerfen": "An der Art von Historiografie, wie sie Blackbourn vorführt, sind zwei Aspekte entscheidend: Erstens wird der Begriff 'Kulturlandschaft' eingeführt, in dem die strikte Trennung zwischen 'Mensch' und 'Natur' aufgehoben ist... Die zweite originelle Fragestellung besteht darin, dass es nicht nur darum geht, herauszufinden, was die Menschen und die Regierungen ihren Flüssen, Wäldern und Mooren angetan haben, sondern auch darum, zu erforschen, was sie jeweils zu tun glaubten und wie ihr Handeln mit den vorherrschenden Ideologien zusammenhing. Während des größten Teils der von Blackbourn untersuchten Periode (von 1750 bis heute) war die Idee im Schwange, dass man der Natur Fesseln anlegen müsse. Und wichtiger noch: 'In Deutschland stand die 'Eroberung der Natur' in engstem Zusammenhang mit der Eroberung anderer Länder.'"
Stichwörter: Ascherson, Neal

Tygodnik Powszechny (Polen), 07.08.2006

Mit der Nominierung von Wiktor Janukowytsch zum ukrainischen Premierminister hat sich Präsident Juschtschenko auf ein gefährliches Spiel eingelassen, meint Andrzej Brzeziecki. "Wer jetzt vom Verrat der Orangen Revolution und der Ideen vom Unabhängigkeitsplatz spricht, sollte bedenken, dass diese schon längere Zeit hinterfragt werden. Spätestens als sich nach den Wahlen im März die Helden von damals auf peinlichste Art und Weise gezankt haben, statt eine Koalition zu formen. Jetzt musste Juschtschenko den Frosch schlucken, den er selbst mit aufgezogen hat."

Weitere Artikel: Arkadiusz Stempin schreibt über die Schweriner Breker-Ausstellung: "Ob bewusst oder weniger bewusst: Sie entdämonisiert Brekers Werk, indem zum Beispiel die riesigen Ausmaße der Skulpturen verkleinert dargestellt werden. Statt sich des Themas objektiv, mit wissenschaftlicher Distanz anzunehmen wählte man den Aktionismus, für den Preis eines Skandals." Und Anna R. Burzynska hofft auf ein Brecht-Revival in Polen: "Die Faszination der jüngeren Generationen von polnischen Theatermachern für deutsche Kollegen wie Castorf oder Pollesch lässt auch bei uns auf eine Renaissance hoffen - des frühen Brecht vermutlich."
Stichwörter: Frösche

Guardian (UK), 12.08.2006

Er ist der Hans Holbein unserer Tage, rühmt Craig Raine den hyperrealistischen australischen Künstler und Bildhauer Ron Mueck, dem die National Galleries of Scotland in der Royal Scottish Academy gerade eine Ausstellung widmen. Großartig, irritierend, anrührend findet Raine die Arbeit "Spooning Couple", ein Meisterwerk aber "Dead Dad": "Gerade seine absolute Vollständigkeit sagt uns, dass etwas fehlt. Leidenschaftslos nimmt der Bildhauer alle delikaten und undelikaten Körperdetails auf - Details die durch ihre Genauigkeit lebendig werden. Nichts fehlt. Sehnen, Zehennägel, das dunkle Haar auf den Waden, das sorgsame graue Haar, der glänzende, bescheidene, unbeschnittene Penis auf vier Uhr - ein Echo auf die Stellung der Daumen... Alles ist noch da, doch etwas Wichtiges fehlt. Die Verkleinerung im Maßstab deutet diesen Verlust an. Der Tod ist leichter als das Leben - 21 Gramm, das Gewicht der Seele und die angebliche Differenz im Körpergewicht vor und nach Eintritt des Todes."

Weitere Artikel: Margaret Drabble erinnert an John Cowper Powys, das fast vergessene Genie der englischen Literatur, einen Autor, der mit "tragischer Grandeur und Alltagswitz über sexuelle Perversionen und eine Tasse Tee" schreiben konnte. Hadley Freeman porträtiert die Autorin Louise Welsh, der man nicht vorschnell die Etiketten "schottisch", "lesbisch" oder "Krimi" anheften sollte. Zum Buch der Woche erhebt Kevin Rushby Jason Roberts' Geschichte eines weitsichtigen Blinden "A Sense of the World". Besprochen werden auch Walter Mosleys neuer Roman "Fortunate Son", Patrick Marnhams Biografie der spät gestarteten Autorin Mary Wesley, "Wild Mary", und William St Clairs Studie "The Grand Slave Emporium".
Archiv: Guardian