Post aus der Walachei

Unruhe am Donau-Delta

Von Hilke Gerdes
19.12.2005. Der Ringier-Verlag und die Zensur, angebliche amerikanische Foltergefängnisse, Vogelgrippe - ein Streifzug durch Rumänien vor Weihnachten.
Verbindungen

Schön, dass es die Globalisierung gibt. So lässt sich eine Meldung auch auf Rumänien beziehen, die zwei Tage nach Gerhard Schröders Mandatsübergabe an Angela Merkel durch die deutschsprachige Presse ging: Der Altbundeskanzler wird Berater des Schweizer Medienkonzerns Ringier. Wie der WAZ-Konzern ist auch Ringier hier in Rumänien keine unbekannte Größe: Beide Unternehmen mussten sich die Beschneidung der Pressefreiheit vorwerfen lassen (siehe auch Post aus der Walachei vom 14. Dezember 2004). Chefredakteure der Tageszeitung Evenimentul Zilei, eines der elf Printprodukte von Ringier Rumänien, wurden entlassen bzw. in die Provinz versetzt, ein gutes Viertel der Redakteure kündigte Anfang diesen Jahres, da sie eine regierungskritische Berichterstattung nicht mehr für durchsetzungsfähig hielt (mehr dazu in der WOZ). Der Leiter von Ringier in Rumänien, Thomas Landolt, hielt dagegen, dass es darum ging, Anzeigen- und Redaktionsleitung personell voneinander zu trennen. Die Beeinflussung der Berichterstattung durch Werbeverträge ist ein allgemeines Problem im Pressewesen, das wiederum mit der schlechten Bezahlung der Journalisten zusammenhängt. Viele verdienen wenig, einige allerdings sind erstaunlich wohlhabend, wie Anca Paduraru anmerkt. Die 2005 von "Reporter ohne Grenzen" mit dem Press Freedom Award ausgezeichnete freie Journalistin sieht in dem Konflikt der inländischen Journalisten mit dem ausländischen Investor weniger ein politisches als ein finanzielles Motiv .

Für Ringier ist das Engagement in Osteuropa (Tschechien, Ungarn, Rumänien, Slowakei, Serbien) zukunftsträchtig. Über 40 Prozent Umsatzsteigerung hat man im letzten Jahr erreicht. Werden wir den Altkanzler demnächst mit Thomas Landolt durch die besseren Lokale Bukarests ziehen sehen?


Washington-Berlin-Bukarest


Wer von Süden kommend in Constanta den ersten Wegweiser Richtung Bukarest verpasst und notgedrungen die längere Strecke weiter nördlich nimmt, kommt am Militärflughafen "Mihail Kogalniceanu" vorbei. Der nach dem Politiker und Historiker benannte Flughafen war zwischen 2001 und 2003 von den U.S.A. benutzt worden, um Truppen und Equipment nach Afghanistan und in den Irak zu bringen. Im letzten Jahr kam Donald Rumsfeld zur Besichtigung um zu sondieren, wo die amerikanischen Militärbasen entstehen sollen. Und einige amerikanische Soldaten haben hier zwischendurch noch einmal Übungen abgehalten. Jetzt ist von dem Flughafen in allen Zeitungen zu lesen: War hier ein geheimes Gefängnis, wurde hier gefoltert?

Außer einem großen, leer wirkenden Gelände ist von der Straße aus nichts zu sehen, nur das Fotografier-Verbotsschild am stacheldraht-bekrönten Zaun und ein soldatischer Wachtposten zeigen an, dass es sich hier um eine militärische Einrichtung handelt .

Die rumänische Regierung weist alle Verdächtigungen kategorisch zurück. Nur der Führer der Großrumänienpartei reißt sein Maul auf, um wieder einmal Publicity zu haben: Mit Sicherheit habe es ein Gefängnis gegeben, nur seien allen Spuren beseitigt worden. Er sei der Einzige, der die EU nicht anlüge.

Wichtiger als die Gerüchte über geheime Gefängnisse und Folter ist der rumänischen Regierung der endgültige Vertragsabschluss über die Einrichtung der amerikanischen Militärbasen (Mihai Kogalcineau, Babadag, Cincu, Smardan). Als Condoleezza Rice direkt aus Berlin zur Vertragsunterzeichnung nach Bukarest kommt (und mit ihrem Besuch am Nikolaustag ein schönes Verkehrschaos in der Innenstadt anrichtet), gehen die Emotionen hoch: der Außenminister Mihai Razvan Ungureanu betont im rumänischen Fernsehen, Jahre auf die rettenden Amerikaner gewartet zu haben, jetzt sei es endlich soweit. Auf den Militärbasen werde nichts geschehen, was dem internationalen Recht widerspreche. Präsident Traian Basescu sieht sein Land angekommen im globalen Sicherheitssystem und wertet dies als ein Beweis der politischen Glaubwürdigkeit Rumäniens. Flugzeuge seien gelandet und werden landen.


Keine Panik

Nicht weit entfernt von den zukünftigen amerikanischen Militärbasen und Trainingslagern liegt das Donau-Delta. Ein einzigartiges Naturparadies, dass seit zwei Monaten weniger mit Pelikanen und vereinzelten Fischerhütten assoziiert wird, als mit astronautenähnlich gekleideten Männern, die Hühner und Gänse in Mülltonnen werfen. Diese immergleiche Szene wurde auf allen Fernsehkanälen gezeigt. Für die betroffenen Dorfbewohner ist die Vernichtung ihres Federviehs ein Drama, für den Rest der Welt eine reine Vorsichtsmaßnahme. Doch die Vogelgrippe bewegt sich inzwischen aus dem Donau-Delta heraus weiter gen Westen. Von neuen Fällen wird regelmäßig berichtet. Und zwei Personen sind mit dem Verdacht auf Infektion ins Krankenhaus eingewiesen worden. Panik herrscht hier aber keineswegs. Auch die Essgewohnheiten haben sich nicht verändert. Hühnerfleisch ist nach wie vor beliebt. Während in Deutschland sämtliches Federvieh im Stall zu halten ist, laufen hier die Hühner vergnügt und munter in Nachbarsgarten herum.

Mehr Sorgen bereitet, zumindest den Familien innerhalb der Bevölkerung, der Verlauf des Schuljahres. Nachdem der Bildungsminister es nicht geschafft hatte, mindestens 5 Prozent des Staatsetats für sein Ressort herauszuschlagen und nur magere 3,9 Prozent übrig blieben, trat er zurück. Die Lehrer begannen zu streiken, Unterricht fand nicht mehr statt. Der Streik weitete sich aus auf die Hochschulen. In der zweiten Streikwoche legten auch die U-Bahn-Angestellten die Arbeit nieder. Ein Generalstreik im öffentlichen Sektor wurde angedroht.

Die Lehrer erhielten keinen Lohnausgleich von den Gewerkschaften, die Mehrheit von ihnen streikte trotzdem weiter. Nach 22 Tagen nahmen sie die Arbeit wieder auf, erreicht haben sie 11,83 Prozent Lohnerhöhung und 5 Prozent für den Bildungetat. Große Freude herrscht allerdings nicht. Inflationsbereinigt steigt der Lohn um weniger als 5 Prozent. Je nach Dienstalter sind es zwischen 190 Euro für Berufsanfänger und maximal 340 Euro nach 40 Jahren Tätigkeit . Es wird weitergehen mit dem Nachhilfesystem: die Lehrer verdienen ihr Geld mit Extra-Stunden, die Kinder pauken tagein, tagaus und die Eltern hoffen, damit etwas für die Zukunft ihrer Kinder zu tun.


Konsum und Produktion

Weihnachten naht. Die Banken haben zum richtigen Zeitpunkt ihre Werbeanzeigen für private Konsumkredite geschaltet: "mehr Spontanität, Inspiration durch den Moment und Freiheit, sofort das zu kaufen, was Sie sich wünschen." Und Rückzahlung in Raten erst nach 40 Tagen.

Produkte aus dem Ausland sind begehrt. Noch immer wird zuviel importiert und zuwenig exportiert. Das Defizit in der Handelsbilanz klettert dieses Jahr voraussichtlich um 1,2 Prozent auf 6,32 Milliarden Euro, das sind 8,1 Prozent.

Gleichzeitig führt Rumänien hinsichtlich ausländischer Direktinvestitionen die Länder Südosteuropas an. Nahezu täglich berichtet die Zeitung der deutschen Minderheit von deutschen Investoren. Gerade hat Siemens eine Fabrik für die Montage von Elektrobauteilen in Sibiu (Hermannstadt) eingeweiht, in Temesvar ist die Belegschaft in fünf Jahren von 120 auf fast 1200 angestiegen, es wird weiter vergrößert. Für alle, die sich hier noch nicht auskennen, aber mit dem Gedanken spielen, im Land des Niedriglohnniveaus zu investieren, gibt es seit September den "Wirtschaftsführer Rumänien".

Die rumänische Nationalbank hat für 2004 ausländische Direktinvestitionen in Höhe von 4,1 Milliarden Euro errechnet. Das nationale Handelsregister hat etwas geringere Zahlen, denn die Nationalbank rechnet auch die Gelder dazu, die von der ausländischen Muttergesellschaft zur Tochtergesellschaft in Rumänien transferiert werden: 200 Millionen in den ersten acht Monaten diesen Jahres. Hier herrscht ein einheitlicher Steuersatz von 16 Prozent, sollte man wissen. Über Briefkastenfirmen wird nicht gesprochen.


Schenken

Die Weihnachtszeit ist Spendenzeit. Die ausländischen Communitys veranstalten Basare, deren Erlöse verschiedenen Hilfsorganisationen zukommen, die in Rumänien aktiv sind. Nachdem vor fünfzehn Jahren die Berichte über rumänische Waisenhäuser und Straßenkinder - "Resultate" der Familienpolitik Ceausescus, die einen raschen Anstieg der Bevölkerung zum Ziel hatte ­- durch die westlichen Medien gegangen sind, haben sich zahlreiche Initivativen im Ausland gebildet (eine Liste deutschsprachiger Projekte hier). Sie kümmern sich um Kinder, aber auch um Alte und Kranke. Viele von ihnen haben einen kirchlichen Hintergrund.

Eine der größten inländischen Organisationen ist der rumänische Ableger von Save the Children, Salvati Copiii. Sie ist unter anderem aufklärerisch tätig und bringt Berichte zur Lage der Kinder und Jugendlichen heraus.

Seit 1990 hat sich einiges verbessert: die großen Waisenhäuser mit bis zu mehreren Hundert Kindern hat man aufgelöst oder verkleinert; die Anzahl der Kinder, die im Inland adoptiert oder in Pflegefamilien untergebracht werden, steigt; die Kindersterblichkeit ist gesunken; es gibt zahlreiche engagierte NGOs und EU-Gelder.

Seit 1990 hat sich einiges verschlimmert: Der Drogenkonsum steigt kontinuierlich an. Kinderhandel ist zu einem ernsten Problem geworden.
Fehlende soziale Unterstützung führt immer noch dazu, dass Neugeborene in den Entbindungskliniken zurückgelassen werden. Ihre Ernährung kann gewährleistet werden, alles andere nicht. Nach wie vor gibt es zu wenig qualifizierte Betreungsprogramme, insbesondere auf dem Land. Es ist noch vieles zu tun.


Zurück zur Schule

Wer länger als zwei Jahre der staatlichen Schule fernbleibt, hat kein Recht mehr auf einen Schulplatz. Wer nicht zur Schule geht, gerät schnell in Gefahr, in die Kriminalität abzurutschen. "Inapoi la Scoala" (Back to School) heißt ein kleines Projekt in Bukarest, das dem entgegenwirken möchte. Sein Leiter ist der 33-jährige Sozialarbeiter Sorin Gheorghe.

Er teilt sein Büro mit der Frau, die täglich für die Schüler Weißbrotscheiben mit Margarine bestreicht und mit Käse belegt. Die anderen vier angemieteten Räume werden für den Unterricht benötigt. Jeder der Schüler bekommt zwei Butterbrote zu Mittag.

Vormittags werden die älteren Kinder unterrichtet, nachmittags kommen die Grundschüler. Insgesamt sind es siebzig, für die "Back to School" die einzige Chance bedeutet, doch noch einen Schulabschluss zu erreichen. Sie alle sind durch das staatliche Bildungssystem gefallen. Sie haben nie eine Schule besucht oder sind nicht mehr hingegangen, bis es zu spät war.

Es ist Pause. Einige der Schüler spielen auf dem angrenzenden Grundstück Fußball. Andere sitzen in einem kleinen Raum mit mehreren Computern.

Computer und Internet-Verbindung wurden vor kurzem von einer Schweizer Schule gespendet. Vielleicht entsehen bald die ersten Mailfreundschaften?

Ein Erstklässler ist schon da, obwohl er erst nachmittags Unterricht hat. Doch gestern hatte er seine Hausaufgaben vergessen und so muss er zur Strafe heute vormittag nacharbeiten. Die strengen Regeln sollen den Kindern bei der Selbstdisziplinierung helfen. Wer mehr als zweimal im Jahr unentschuldigt fehlt, fliegt raus. Die Rate der Schulabbrecher ist erstaunlich gering. Nicht wenige schaffen die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium.

Großzügig finanziell unterstützt wurde "Inapoi la Scuola" im letzten Jahr vom Schweizer Verein "Podul - Die Brücke". Doch wie es im nächsten Jahr aussieht, weiß Sorin Gheorghe noch nicht. Er kümmert sich mehr um die Kinder als um die Buchhaltung, was der Spendenbereitschaft nicht förderlich ist. Er fährt mit einem Kind bei Bedarf zum Arzt, kümmert sich um dessen Kleidung, um die großen und kleinen Sorgen. Gheorghe ist eher ein Einzelkämpfer als ein Networker. Das Projekt ist keine eingetragene NGO mit entsprechender Struktur und hat es dadurch schwerer an Gelder heranzukommen.

In einer von "Podul" herausgegebenen Broschüre hat Gheorghe die Lebensgeschichten einiger SchülerInnen skizziert. Jeder von ihnen hat harte Zeiten hinter sich, auf der Straße oder in einem Elternhaus, das geprägt ist von Armut, Alkohol, Gewalt. Oder es sind Kinder von alleinerziehenden Müttern, die es nicht mehr ohne Hilfe schaffen. Für sie alle ist Sorin Gheorghe, ob NGO oder nicht, ein Hoffnungsschimmer.