Efeu - Die Kulturrundschau

Ring-Motiv in eine Kurve gekratzt

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11.03.2014. Leicht gebeutelt, aber doch ganz froh verließ die Presse Elfriede Jelineks "Rein Gold" an der Staatsoper Berlin: selbst die Rehabilitierung des Trautoniums gilt als gelungen. Die Welt singt ein Liebeslied an die Projektionsfläche Kylie Minogue. Wer sich in diesem Frühjahr mit deutscher Literatur langweilt, ist selbst schuld, meint die taz und empfiehlt die neuen Romane von Per Leo, Katja Petrowskaja und Sasa Stanisic. In WDR 3 outet Burkhard Müller-Ullrich den FAZ-Kilroy.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2014 finden Sie hier

Bühne



An der Staatsoper in Berlin hatte Elfriede Jelineks "Rein Gold", ein Bühnenessay genanntes Textkonvolut, das sich zu Szenen bei Wagner in Beziehung setzt, unter der Regie von Nicolas Steman Premiere. Im Saal befand sich sehr viel Presse. In der Berliner Zeitung skizziert Dirk Pilz die Ausmaße dieses ausufernden Textmonstrums: "Es geht (...) um Elfriede Jelinek und Richard Wagner, um Finanzwirtschaft, Nazis und Deutschland, um Häuslebauer und Geldgläubige, um Gott und die große ganze Gesellschaft, außerdem um Sänger, die Schauspieler spielen und Schauspieler, die Sänger zu sein versuchen, um die Rehabilitierung des Trautoniums, dem in den 30er-Jahren entwickelten modularen Synthesizer, wahrscheinlich auch um die Errettung Wagners vorm Wagnerianismus."

Im Tagesspiegel beweist Ulrich Amling unterdessen ein genaues Gehör: "Dirigent Poschner und sein Arrangeur David Robert Coleman haben aus Wagners 'Ring' eine Musikcollage gewoben, die durch Überlagerungen, die wie Flügelschlagen oder Federschaben klingen, von einem Motiv zum nächsten gelangt. Walküre-Vorspiel, Rheintöchter, Ring-Motiv in eine Kurve gekratzt, dazu das Podium in Gang gesetzt, und schon flutet Wagnermusik den Saal. Ein hübscher Effekt, so eine Raumtonblende."

Und Niklaus Hablützel applaudiert in der taz: Das "ist bei Weitem besser und witziger als die tausend Wagneriaden, die wir letztes Jahr auf sämtlichen deutschen Bühnen ertragen mussten." Er beobachtet "ein völlig neues Theater, das deswegen so unterhaltsam ist, weil es ganz unprätentiös Distanz schafft zu diesem Raunen, das offenbar bis heute den nachhaltigen Erfolg von Richard Wagners Monsteropern erklärt. Zu sehen ist der seltsame Monolog einer Gesellschaft, die sich fortwährend nach einer erlösenden Revolution sehnt, die sie aber gar nicht wollen kann." Weitere Besprechung finden bei der nachtkritik, in der NZZ und beim Standard.

Außerdem: Matthias Hartmann hat vorgeschlagen, seine Funktion als Geschäftsführer am Wiener Burgtheater bis zur Klärung aller finanziellen Unstimmigkeiten vorerst ruhen zu lassen, meldet der Standard. Besprochen werden René Polleschs in Frankfurt aufgeführtes Stück "Je t'Adorno" (FR, Welt), Stephan Kimmigs Inszenierung von Ferenc Molnárs "Liliom" in München (Welt), die in Berlin aufgeführte Operette "Clivia" (Welt), das selten gespielte, nun im Theaterforum Kreuzberg gezeigte Stück "Der Auswanderer" von Georges Schehadé (Berliner Zeitung) und die szenische Aufführung von Anton Radziwills "Compositionen zu Göthe's Faust" mit dem Darmstadter Konzertchor unter Wolfgang Seeliger (FAZ).
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Musik

Anlässlich der Veröffentlichung des mittlerweile zwölfte Albums der Popikone Kylie Minogue fragt sich Michael Pilz in der Welt, warum ihm eigentlich der wandlungsfähige australische Superstar wesentlich sympathischer ist als Madonna und Lady Gaga. Selbst gegebene Antwort: "Kylie ist eine reine Projektion. Ihre Persönlichkeit geht niemanden was an, nur sie allein weiß, wer und was sie ist. Wer sie betrachtet, sieht, was er selbst sehen will und seine Wünsche. ... Dafür hat sich Kylie niemals selbst und neu erfunden, nie hätte sie die Autorenschaft an ihren eigenen Figuren beansprucht."

Außerdem gibt's in der Welt ein Interview mit Neneh Cherry über ihr neues Album.

Besprochen werden das Album "Vis a Vis" der Indie-Band Findus (taz), ein Konzert zu Ehren des Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach (Berliner Zeitung) und das neue Album von Laibach (taz).
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Kunst

Gesine Borcherdt besucht für das Art Magazin die große Pietro-Roccasalva-Ausstellung in Köln, die bei ihr vor allem Fragen aufwirft: "Vor dem Kölnischen Kunstverein dürfte also in diesen Tagen ein reges Kommen und Gehen herrschen. Denn wer Pietro Roccasalvas seltsames Werk begreifen will, muss durch ein Labyrinth, in dem keine der üblichen ästhetischen Wegweiser wie Schock, Schönheit oder Smartness die Richtung angeben. Vielmehr mäandert man wie durch die Gehirnwindungen von einem, für den die Welt ein einziges Spiegelkabinett ist; ein Universum, in dem nur wenige, aber immer wieder dieselben Dinge auftauchen. Oder gerade nicht auftauchen, und eben deswegen präsent sind." (Bild: Pietro Roccasalva, "Il Traviatore", 2013)

Außerdem: Die vom Bode-Museum in Berlin neuerworbene "Muttergottes mit Kind" kann keine rundum geklärte Provenienz vorweisen, berichtet Kerstin Krupp in der Berliner Zeitung. Wer heute Zeit- und Kostenexplosionen bei modernen Bauvorhaben beklagt und glaubt, früher sei alles besser gewesen, irrt: Der vor 500 Jahren verstorbene Renaissance-Baumeister Donato Bramante toppte sie alle mit seinem Neubau für St. Peter, den Michelangelo schließlich verwirklichte, erzählt Jürgen Tietz in der NZZ. In der SZ beklagt Laura Weissmüller den Umgang der Stadt Frankfurt mit dem Erbe des Architekten Ferdinand Kramer, dem das Museum für Angewandte Kunst gerade eine Retrospektive widmet.

Besprochen werden eine Ausstellung von zwei Sonnenblumen-Bildern van Goghs (und sonst nichts) in der National Gallery in London (SZ, Daily Telegraph), die Ausstellung "I Can't Control Myself" des Kunstvereins Wolfsburg (taz), eine Ausstellung zum Thema "Migration" im Dresdner Hygienemuseum (taz), die Ausstellung "Echte Gefühle - Denken im Film" in den Kunst-Werken Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "La voix humaine" im Münchner Kunstverein (FAZ).
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Literatur

In der taz stellt Dirk Knipphals mit den aktuellen Romanen von Per Leo, Katja Petrowskaja und Sasa Stanisic seine Lieblingslektüren der Saison vor: Und allen dreien eignet ein freier Umgang im Erzählen, stellt er erfreut fest. Auch deshalb stehen sie quer zu Maxim Billers Polemik in der Zeit: Sie "schließen weite historische, geografische und gedankliche Räume auf. ... Maxim Biller hat eine Sehnsucht nach festgelegten Rollen innerhalb des Betriebs und verfehlt mit seinem Rigorismus prinzipiell die erzählerischen Freiheiten, die derzeit möglich sind und auf die man setzen sollte. Und es ist auch genau das, was man derzeit verpassen kann, wenn man sich - allzu beeindruckt von Langweiligkeitsthesen - nicht mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur beschäftigt." Dazu passend liest sich auch Jan Drees Streifzug im Freitag durch die aktuell für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romane.

Seit Jahresanfang ziert ein Grafitto mit dem Titel "Kilroy was here" jedes einzelne FAZ-Feuilleton. Burkhard Müller-Ullrich klärt bei WDR 3 auf, dass dieses Grafitto früher gang und gäbe war (amerikanische Soldaten hatten es eingeführt). Und er outet den Dichter, der unter dem Grafitto sechs mal wöchentlich anonymerweise einen Aphorismus zum besten gibt. Wir wollten bei ihm nachfragen, aber wir erreichen ihn nicht (er hat sein Handy weggeworfen).

Außerdem: Schriftsteller Ralf Bönt erinnert sich in der Welt an die chaotischen Zustände im Ostberlin der neunziger Jahre. Die FAZ druckt Textfragmente aus einem "Buch gegen den Tod", das Elias Canetti schreiben wollte, aber nicht mehr zu Ende bringen konnte (erscheint im März bei Hanser). In der SZ macht sich Benedikt Sarreiter Gedanken über das Onanieverbot, dem nicht nur Sybille Lewitscharoff, sondern auch Rapper 50 Cent einiges abgewinnen können: In den USA, informiert er uns, hat sich schon eine entsprechende Bewegung gebildet, die Fapstronauts.

Besprochen werden eine der Buchgestalterin Roswitha Quadflieg gewidmete Berliner Ausstellung (Tagesspiegel) und Bücher, darunter Ryad Assani-Razakis Roman "Iman" (taz), Donna Tartts Roman "Der Distelfink" (Welt), Lutz Hachmeisters Band über das Spiegel-Interview mit Heidegger (NZZ) und ein Prosagedicht des Haitianers Dany Laferrière (NZZ). Und der Perlentaucher wirft einen Blick auf die am besten besprochen Bücher des Monats: der Bücherbrief ist raus.
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