Efeu - Die Kulturrundschau

Die Sehnsucht, schön zu sein

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08.04.2022. Die NZZ ist fassungslos, wie der österreichische Autor Franzobel im Ukrainekrieg alles relativiert: Täter und Opfer. Ursache und Wirkung. Der litauische Filmregisseur Mantas Kvedaravičius kam in Mariupol nicht zufällig ums Leben, sondern wurde gezielt ermordet, lernt die FAZ. Pink Floyd fordert die Ukrainer auf: "Hey, Hey, Rise Up". SZ und FAZ gehen in einer Ausstellung dem Antisemitismus Wagners auf den Grund, nur das Rätsel seiner Musik wird ihnen nicht enthüllt. Die Theaterkritiker blicken durch ein großes Fenster zur Welt beim Find-Festival der Schaubühne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2022 finden Sie hier

Literatur

Paul Jandl fällt in der NZZ aus allen Wolken, als er Franzobels im Standard veröffentlichtes Plädoyer für eine Kapitulation der Ukraine und für mehr Feigheit und weniger Soldatentum im öffentlichen Diskurs liest: "Die Polemik des Schriftstellers ist durchzogen von der Idee, dass am Kriegsschauplatz Ukraine ohnehin alle irgendwie gleich sind. Alle sind tragisch verblendete Opfer ihres eigenen Heroismus und somit selbst schuld. ... Es gehört zu den Verhängnissen der Schriftstellerei, dass sie oft viel weniger kritische Distanz hat, als sie glaubt. Bei Franzobels Versuchen, die Welt zu erklären, sieht man das auf eine Weise, die tragisch sein könnte, wenn sie nicht so zynisch wäre. Alles wird hier relativiert. Täter und Opfer. Ursache und Wirkung. Das Testosteron der franzobelschen Kampfmetaphern schwappt unkontrolliert in einen Text, der den historischen Hintergründen des Konflikts keine einzige Zeile widmet."

Vor zwei Tagen warf der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch westeuropäischen Intellektuellen mit Blick auf Osteuropa Ignoranz und Arroganz vor und bat sie, "einfach mal die Klappe" zu halten (unser Resümee). In der Berliner Zeitung kann Harry Nutt Twardoch nicht unbedingt widersprechen, wie sich etwa mit Blick auf den Literaturbetrieb zeigt: "Insbesondere deutsche Verlage waren über viele Jahre engagiert dabei, für die Werke aus der polnischen, ukrainischen, georgischen, russischen oder auch rumänischen Literatur deutsche Leser zu gewinnen. Ein Blick in die Statistik fällt indes ernüchternd aus. Von den rund 10.000 Titeln die 2020 aus Fremdsprachen übersetzt und veröffentlicht wurden, waren es siebzig Werke aus dem Russischen und 44 aus dem Polnischen, in der Liste der zwanzig am meisten übersetzen Sprachen kamen Ukrainisch, Georgisch, Ungarisch und Rumänisch nicht vor, obwohl doch die beiden Buchmessen in Leipzig und Frankfurt in ihren Länderschwerpunkten immer wieder engagiert auch osteuropäische Nachbarländer präsentieren."

Außerdem: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw mit der 30. und 31. Lieferung fort. Besprochen werden unter anderem neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Milja Praagmans Gedichtband "Zusammen" (SZ)
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Film

Es geht immer noch finsterer: Mantas Kvedaravičius ist offenbar nicht etwa beim Beschuss von Mariupol ums Leben gekommen (mehr dazu hier und dort), sondern dort ermordet worden. "Russische Soldaten nahmen ihn fest; sie erschossen ihn vermutlich am 2. April", meldet Gerhard Gnauck in der FAZ. Die Nachricht geht auf ein Facebook-Posting einer Freundin des litauischen Filmemachers zurück, meldet The Insider: Die russischen Soldaten "ließen den Körper einfach liegen", schreibt sie. "Seine heldenhafte Frau tat das Unvorstellbare. Es gelang ihr unter Beschuss, seinen Körper in Mariupol zu finden und nach Hause nach Litauen zu bringen. Diese Information musste sie geheim halten, um nicht selbst getötet zu werden und um zu verhindern, dass die Leiche vernichtet wird."

Außerdem: Arte droht wegen der Ausstrahlung von George A. Romeros in Deutschland staatsanwaltschaftlich beschlagnahmten Horrorfilm "Day of the Dead" ein juristisches Nachspiel, berichtet Denis Gießler in der taz - über die Hintergründe solcher staatlichen Filmverbote hatte Thomas Groh im Perlentaucher ausführlich geschrieben. Hannes Stein berichtet in der Welt von Drohungen der US-Republikaner, den Disneykonzern zu enteignen, der ihnen zu "woke" geworden sei - Hintergrund ist, dass der Konzern plant, seine Spenden an die Partei in Zukunft einzustellen.

Besprochen werden eine Ausstellung in der Wiener Kunsthallte über das feministische Filmkollektiv "die widerständigen Musen", das Delphine Seyrig in den Siebzigern gegründet hat (Standard), Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht" (SZ, unsere Kritik), Alexander Koberidzes "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" (Tsp, Zeit, mehr dazu hier), Matt Bissonnettes "Death of a Ladies' Man" (Tsp, unsere Kritik), Volker Schlöndorffs Dokumentarfilm "Der Waldmacher" (SZ), der dritte Teil des Harry-Potter-Spinoffs "Phantastische Tierwesen" (SZ) und die zweite Staffel der auf Arte gezeigten Serie "In Therapie" (taz).
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Musik

Pink Floyd, die eigentlich schon seit Jahren aufgelöst sind, melden sich mit einer musikalischen Intervention zum Ukrainekrieg zurück, meldet Andrian Kreye in der SZ. Für ihren Song "Hey, Hey, Rise Up" haben sie ein Sample aus einem Instagram-Video des ukrainischen Rockmusikers Andriy Khlyvnyuk aufgegriffen. Dieser "hatte im März seine Amerikatour abgebrochen und sich der Nationalpolizei der Ukraine angeschlossen, die im Krieg sowohl humanitäre Hilfe leistet, als auch bewaffnete Patrouillen geht. Im besagten Video sieht man Khlyvnyuk in Kampfkleidung mit einem Sturmgewehr vor der Sophienkathedrale in Kiew. Er schaut sich kurz um, dann sing er a cappella das patriotische Lied 'Oi u luzi chervona kalyna' (Der rote Schneeball auf der Wiese), das 1914 zu Ehren der Ukrainischen Freischützen komponiert wurde, die an der Seite Österreich-Ungarns kämpften." Im Guardian-Interview begründet Bandleader David Gilmour die Entscheidung für dieses Comeback mit seiner erweiterten ukrainischen Familie.



In Frankfurt ist das Museum of Modern Electronic Music (Momem) eröffnet worden. FAZler Kevin Hanschke staunt über die Architektur und die schier unglaubliche Menge von 25.000 LPs, die hier zu sehen sind. Aber er hat auch Vorbehalte: Das Museum will "ein Treffpunkt der weltweiten Technoszene werden und dabei auch die lokalen Größen unterstützen. Das wird wohl ein schwieriger Spagat werden, da sich die Koordinaten der globalen Technoszene immer mehr gen Osten verschieben und Frankfurt in der letzten Zeit eher mit Klubschließungen als mit innovativen Neugründungen von sich reden machte. Die Hochburgen der Technokultur, Berlin, Detroit oder Ibiza, kommen nur am Rand vor."

Das Forward-Magazin hat eine Liste mit den 150 besten jüdischen Popsongs veröffentlicht, über die sich Klaus Walter für die FR beugt. Die Liste könnte man durchaus auch heikel finden, Rat holt sich Walter bei Steven Lee Beeber, der auch ein Buch über die jüdischen Wurzeln des Punk geschrieben hat und damit "eine andere Version von Juden zeigt, als die allgemein akzeptierte": "Im Sinne Beebers können wir die Liste lesen als antiessenzialisische identitätspolitische Intervention - nein, das ist kein Paradox. Wenn jüdische Autor:innen, deren Vorfahren sich verstecken mussten, die ihr Jüdischsein camouflieren mussten, mit Aplomb so ziemlich alles Mögliche und Unmögliche im Pop für sich (re-)claimen, dann ist das einerseits eine identitäre Selbstermächtigung der spektakulären Art. Aber eben auch eine der spekulativen Art, denn die dreiste Jewifizierung von Jagger, Bowie & Co. verweist ja auch auf den hybriden, fluiden bis opaken Charakter von Identität." Trotzdem sein Fazit: "Eine Liste des Grauens. Für Reinheitsfanatiker, Rassisten und Antisemiten."

Weitere Artikel: In der taz stellt Katja Kollmann die siebenköpfige, ukrainische Frauenband Dakh Daughters vor. Im Standard berichten Stefan Ender und Ljubiša Tošić über Initiativen, die im Zuge von Corona eingeschlafene Projekte zum Sichtbarmachen von Musikerinnen reaktivieren wollen. Georg Rudiger vom Tagesspiegel wünscht sich von Teodor Currentzis ein eindeutiges Statement gegen den Krieg in der Ukraine wünschen. Christian Schachinger freut sich im Standard auf das anstehende Wiener Konzert von The Smile, der neuen Band der Radiohead-Musiker Thom Yorke und Johnny Greenwood. Wir hören rein:



Besprochen werden neue Alben von Jenny Hval (FR), Vince Staples (ZeitOnline), der Rapperin Ebow (taz) und der Red Hot Chili Peppers (NZZ) sowie ein Auftritt der texanischen Band Khruangbin in Berlin (Tsp). Sehr schön ist dieses Live-Video, das Pitchfork vor einigen Jahren auf Youtube veröffentlicht hat:

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Kunst

Bedeutet der Boykott gegen Russland auch, dass man aus Russland ausgeliehene Kunstwerke nicht zurückschicken darf? Derzeit hängen einige Gemälde im finnischen Zoll fest, die in Italien ausgestellt waren, berichten Till Briegleb und Jörg Häntzschel in der SZ: "Viele andere Museen haben das umgekehrte Problem: Sie müssen ihre Ausstellungen ohne fest eingeplante Leihgaben neu konzipieren. Und sie fragen sich, was von der Zusammenarbeit mit ihren Partnerinstitutionen in Russland noch zu retten ist." Alexander Diehl unterhält sich für die taz mit dem Kunsthistoriker Tobias Vogt über Barnett Newman und Dan Flavin.

Besprochen werden die Gruppenschau "Das entwendete Meisterwerk. Bilder als Zeitmaschinen" in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien (Standard) und eine Ausstellung der Künstlerin Libby Heaney, die sich mit dem Quantencomputer auseinandersetzt, in der Schering Stiftung Berlin (Tsp).
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Bühne

Richard Wilhelm Wagner (1813 bis 1883). Quelle: bpk | British Library Board


Wolfgang Schreiber hat für die SZ die Ausstellung "Richard Wagner und das deutsche Gefühl" im Deutschen Historischen Museum Berlin besucht und ist zwiespältig: "Die Berliner Ausstellung taugt nicht, etwa erwartbar, zum wonnigen Eintauchen in Wagners Musikdramen und deren Sog. Umso mehr zur Beschäftigung mit seinen Denkgebäuden, den Gesellschafts-, Musik- und Bühnenideen, wie sie hier die Wagner-Sängerin Waltraud Meier und der intellektuell wagner-gewappnete Regisseur Stefan Herheim in Videobeiträgen abhandeln. Das Rätsel aber, wie beides, Wagners schlimme Ideologie und sein Musikdrama, in Genuss und Rausch der Besucher zusammenpassen, kann die Ausstellung leider nicht lösen."

In der FAZ geht Jan Brachmann noch weiter: Dass Richard Wagner ein widerlicher Antisemit war, weiß inzwischen jeder, meint er. "Die Frage steht im Raum, warum wir uns weiterhin mit Wagner beschäftigen, wenn er als Figur dermaßen verlogen, manipulativ und abstoßend war. Diese Frage kann die Ausstellung nicht beantworten, weil sie vor dem Wesentlichen ausweicht: der Musik. Ihr darf man sich in zwei verhüllten Hörinseln nur andächtig lauschend, aber nicht analytisch nähern. Dabei hätte man mit guten Hörinstallationen, die einzelne Ereignisse herausfiltern und stückweise kombinieren, sehr gut zeigen können, worin Wagners große Leistungen bestehen", die auch "Komponisten wie César Franck oder Ernest Chausson, Alexander Skrjabin oder Sergej Rachmaninow" beeinflusste - "lauter Vertreter von Nationen, deren Musik im Grunde noch Thomas Mann 1945 in seiner Rede 'Deutschland und die Deutschen' Innerlichkeit und Tiefe absprach." Im Tagesspiegel empfiehlt Bernhard Schulz den Katalog zur Ausstellung mit seinen Essays von Laurenz Lütteken, Stephan Mösch oder Herfried Münkler zu den Gefühlskomplexen Entfremdung, Eros, Zugehörigkeit und Ekel.

"Until the Flood". Foto: Nicholas Hussong


In der SZ singt Peter Laudenbach ein Loblied auf das FIND-Festival der Berliner Schaubühne, dieses "lebendigste, kraftvollste, schönste Theaterfest Berlins: Hier geht ein großes Fenster zur Welt und zum Welttheater auf". Das würde nachtkritiker Christian Rakow wohl bestätigen. Er war besonders beeindruckt von Dael Orlandersmiths One-Woman-Show "Until the Flood", die die Tötung des Schwarzen Jugendlichen Michael Brown durch den weißen Polizisten Darren Wilson 2014 in Ferguson zum Anlass nimmt, sich mit dem Rassismus und der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft auseinanderzusetzen: "Mal ist Orlandersmith im Ohrensessel eine alte schwarze High School Lehrerin, die ihr persönliches Erleben des Rassismus in den 1960er Jahren erinnert, mal ein weißer Elektriker mit 'White Trash'-Unterschichtsherkunft, der sich in seine Wut gegen schwarze Jugendliche hineinsteigert. ... Im Finale steuert die panoramatisch breite Parade von 'einfachen Leuten' auf aufgeklärt religöse Positionen zu, die eine Vermittlung, ja einen universalistischen Versöhnungspunkt in der Konfliktlage suchen. Siebzig Minuten spielt sich Orlandersmith (inszeniert von Neel Keller) durch das Milieuporträt zerklüfteter Nachbarschaften, mit winzigen charakterisierenden Gesten, mit bestechender erzählerischer Klarheit. Ein kleiner großer Abend, der die soziale Nahansicht gegen identitätspolitische Großerzählungen behauptet."

"The Seven Streams of the River Ota". Foto: Elias Djemil


Die andere viel gelobte Inszenierung bei Find war "The Seven Streams of the River Ota" von Robert Lepage, der FAZ-Kritiker Simon Strauß erzählt hat, wie er bei einem Japanbesuch auf die Idee zu dem Stück kam: "Beim Rundgang durch das seltsam intakt wirkende Hiroshima, so beschreibt es Lepage rückblickend, habe ihm der Stadtführer von einem kleinen Mädchen erzählt, dessen Gesicht vom Feuerstoß der Atombombe so furchtbar verätzt worden sei, dass die Klinikbediensteten alle Spiegel abgehängt hätten. Aber das Mädchen habe unter ihrem Kopfkissen einen kleinen Spiegelsplitter bewahrt, in den sie bei Sonnenaufgang blinzelte, um sich ein wenig zu schminken. 'Man kann einen Menschen verunstalten, aber man kann ihm nicht die Sehnsucht danach nehmen, schön zu sein', sagt Lepage. Aus diesem Erinnerungssplitter heraus entwickelte er dann Mitte der Neunzigerjahre eine mehr als siebenstündige Theaterreise durch ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte. Ein 'exercice de mémoire', wie er es nennt, der Stilmittel des traditionellen japanischen Theaters aufnimmt und mit der Spielform eines psychologischen Realismus verbindet."

Besprochen werden außerdem Harald Fritsches Inszenierung von Thomas Bernhards "Die Jagdgesellschaft" am Hamburger Schauspielhaus (taz) und "Odyssee. A Story for Hollywood" am Schauspiel Stuttgart, ein Theaterstück, für das der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski die Geschichte des Odysseus mit der der Holocaust-Überlebenden Izolda Regensberg kreuzt ("ein praller, ein düsterer, ein witziger, ein erschütternder Theaterabend, gespielt von einem großartigen Ensemble", lobt nachtkritikerin Verena Großkreutz)
Archiv: Bühne