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Drama im Legoland

Von Rüdiger Wischenbart
05.07.2002. Die Medienindustrie prodiziert ein heiteres Nebeneinander - und durchlebt selbst ein klassisches Drama.
Zu Schulschluss gibt es fürs Zeugnis eine Belohnung für die Kinder und damit, nebenher, auch für die Erwachsenen. So verschlug es mich dieser Tage ins kürzlich eröffnete "Legoland" nahe Augsburg. Mein Achtjähriger genoss den Tag in vollen Zügen - mit Achterbahn und Elektrobootfahrt, mit der Perspektive eines Riesen auf eine Frankfurter Wolkenkratzersilhouette, die den Kindern nur knapp über den Scheitel ragt, und nicht zuletzt mit lauter netten Menschen, die herumlaufen, alles sauber halten und den ganzen Tag nur freundlich sind.

Auch ich mochte den entspannten Tag, dessen artiges Flair nichts trübte. Nur das Geschehen auf zwei Bühnen, einer Show-Bühne und einer Puppenbühne, mochten wir beide nicht, denn die dort vorgebrachten Geschichten - die eine zum Beispiel über ein Wasserwerk, dass vor einem chaotisierenden, roten Berserker gerettet wird! - waren so hanebüchen und schlecht erzählt, dass es grausam war.

Dieser überraschende Riss durch die sonst so perfekte milde Welt brachte mich ins Grübeln. "Legoland" wie alle anderen Themenparks auch, wirkt wohl deshalb so beruhigend und einnehmend aufs kindliche wie auf das erwachsene Gemüt, weil sie frei sind nicht nur von Bedrohung und Schmutz, sondern überhaupt von jeglichen Überraschungen, die daran erinnern, wie unberechenbar die Welt draußen tagein tagaus ist. Jedes einzelne Thema, das aufgegriffen wird, scheint an ein Ende gelangt zu sein, wo es wie in Harz eingegossen unveränderlich in sich ruht. So ist der Reichstag aus Legosteinen seiner Geschichte enthoben, und so ist - im neuen Eurodisneyland in Paris, in dem es um Film und Kino geht - Hollywood am Ende seiner Geschichte angelangt und in eine ewige Abfolge von fertigen Zitaten aus Requisiten und klassischen Filmszenchen eingefroren worden.

Was vom lächelnden Betriebspersonal bewacht wird und der Zaun rund um die Themenparks abgrenzt, ist letztlich eine Erlebnis- und Kulturform, die radikal einem Kernstück der gesamten abendländischen Kulturtradition entgegentritt: Das Drama mit seiner ständig konfliktreichen Entwicklung von der Geburt zum Tod hin, und mit seinen Figuren, die erst lebendig werden, indem sie sich beständig verändern.

Dies galt, mag man einwenden, bereits für die Mickey Maus seit ihrer Erfindung durch Walt Disney, denn die Maus, ohne Alter und ohne Geschlecht, ist bekanntlich unsterblich. Jedoch folgen die Streifengeschichten immer noch, so wie alle Geschichten, dem linearen Faden des Erzählens. Nicht so der Themenpark, in dem alle Bestandteile immer schon und gleichzeitig vorhanden zu sein scheinen. Auch deshalb ist ein Tag im Reservat so versichernd, denn man läuft niemals Gefahr etwas zu versäumen.

In beiden Qualitäten ähnelt die Welt der Themenparks jener des World Wide Web. Alles in ihnen ist Gegenwart, und auch wenn permanent neue Elemente hinzu kommen und andere verschwinden, ist die lineare Entwicklung, wie sie unser Verständnis von "Geschichte" darstellt, ersetzt durch ein "Ende der Geschichte" und ein Ende der Linearität.

Ich hatte vor gut einem Jahr ein ganz ähnliches Schlüsselerlebnis, als ich am Times Square in New York stand. Der Platz, um den bis vor wenigen Jahren neben Theatern hauptsächlich Rotlicht-Buden versammelt waren, ist heute das Zentrum der globalen Medienwelt. Mehrere der ganz großen Medienkonzerne haben hier ihr Hauptquartier oder zumindest wichtige Schaltzentralen, AOL Time Warner, Viacom oder Bertelsmann. An einer Ecke wird, in einem Schaufenster, mit "Good Morning America" allmorgendlich eine jener TV-Shows live produziert, die den Ton setzen für das Gespräch des Tages. An einer anderen Ecke läuft, in Echtzeit, der Ticker der Technologiebörse Nasdaq auf einem haushohen Schirm.

Alles bewegt sich und ist doch in Gleichzeitigkeit schier unveränderlich, denn selbst wenn die Kurse stürzen, scheint das Räderwerk dahinter nie stillzustehen.

Oder doch? Das Frappierende an den Wirtschaftsmeldungen der letzten Wochen über Enron, Arthur Andersen, Worldcom, Kirch Media oder nun über Vivendi Universal - immerhin der zweitgrößte Medienkonzern der Welt - ist, wie rasch diese riesigen Gebilde auch wieder verschwinden können, also Geschichte werden.

Seit ich mich für Kulturindustrien interessiere, wusste ich von diesem Herrn, der bei München saß, und dessen Ein- und Verkäufe erheblichen Anteil daran hatten, was am Abend im Fernsehen lief. Viel länger schon als ich an französischer Kultur teilhabe, gehören zu dieser französisch (mit-) geprägten Kultur auch Filme und Romane aus Afrika, aus Lateinamerika und aus China. Seit ich mich mit Büchern beschäftige, kaufe ich Bücher in Buchhandlungen und treffe die Buchmenschen im Oktober zur Buchmesse in Frankfurt.

Doch nirgendwo steht in Stein gemeißelt, dass diese Ordnung für alle Ewigkeit gilt. Die Landschaft könnte ebenso gut auch anders geordnet werden. Bestimmte Musik und Filme werden längst an Tankstellen vertrieben. Der Handel um Rechte an Büchern wird indes zunehmend innerhalb von globalen Konzernen abgewickelt, und nicht auf öffentlichen Marktplätzen wie in Frankfurt. Die französische Kulturindustrie als Finanzier für Filme aus aller Herren Länder, die nicht so dicht ins Mediennetz mit den Knoten New York und Los Angeles eingewoben sind, kommt zusehends unter Druck, und die Finanzkrise beim Medienriesen Vivendi Universal wird das noch einmal verschärfen. Die Bundesliga-Spiele, lese ich, kehren auch in Zukunft nicht in die öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten heim, auch wenn ich nicht wirklich verstehe, wie eine Firma, die Pleite ist, so groß und auch noch erfolgreich auf Einkaufstour gehen kann.

Was ich hingegen gut nachvollziehen kann, ist, wie abrupt das Gesamtklima über der kulturellen Landschaft von "beständig" auf "stürmisch" gewechselt hat. Mit dem Platzen der Spekulationsblase um die "New Economy" und der anschließenden Wirtschaftskrise, die im vergangenen Jahr, etwas verzögert, auch die Medienwelt erfasst hat, setzt eine Neuordnung der kulturellen Landschaften ein. Dabei ziehen allerdings nicht einige ebenso kühne wie skrupellose oder visionäre Macher die Fäden. Im Gegenteil, die müssen, von Leo Kirch bis Jean-Marie Messier, sogar gehen. Vielmehr, so scheint es, ziehen viele anonyme Landvermesser über die Äcker und durch die Gass', um all die Parzellen neu aufzuteilen, und nebenher kommen natürlich auch allerlei schlechte Manager zum Zug.

Die kulturellen Formen, die aus Drama und Konflikt entstanden sind - dieser ganze Bildungsroman! -, aber auch die Betriebe, die sie hervor gebracht haben - diese schrecklich komplizierten Theaterdirektoren, Verleger und Galeristen! - entwickelten nebenher, zur Selbstbehauptung auch ein System zäher Resistenz gegenüber Veränderung, das nötig war, wenn man seine Identität kulturell anlegen will.

Veränderungen in Legoland hingegen erfordern nur, einen Bauzaun mit vorübergehender Sichtblende um eine Parzelle zu legen, um die Achterbahn durch einen Zoo, oder den Reichstag durch den Münchner Marienplatz zu ersetzen.

Das alles spricht nicht grundsätzlich gegen Legoland. Ganz im Gegenteil, denn ein Tag dort kann Belohnung und Erholung sein. Aber diese Parks mit dem freundlichen - und meist karg entlohnten - Personal drinnen und dem Zaun drum herum sollten nicht zum Modell für die gesamte Landschaft werden. Angesichts der aktuell einstürzenden Neubauten in den Kulturindustrien erwacht auch wieder die Leidenschaft für das Drama. Mehr noch, man möchte meinen, es stehe demnächst eine regelrechte Renaissance dieser alten Künste ins Haus.

Naheliegende Nachfrage: Wie aber sieht ein World Wide Web als Schauplatz von Dramen aus?