Essay

Verborgene Menschheitsreligion?

Jan Assmann oder der Preis des Kosmotheismus Von Jan-Heiner Tück
30.05.2013. Jan Assmanns Vorschlag, das Gefahrenpotential des exklusiven Monotheismus durch Relativierung der Wahrheitsansprüche einzudämmen, ist problematisch: Wie kann ein gläubiger Mensch, der davon ausgeht, dass Gott aus dem Verborgenen herausgetreten ist und sich ein für alle Mal geoffenbart hat, sowohl seiner Überzeugung treu bleiben als auch anerkennen, dass die Wahrheit möglicherweise doch noch verborgen ist?
Anders als Kulturwissenschaftler, Soziologen und Philosophen, die sich dem Phänomen der Religion aus einer Beobachterperspektive nähern, nehmen Theologen eine Teilnehmerperspektive ein, die sich auf die Quellen und rituellen Praktiken des Glaubens ausdrücklich rückbezieht. Dies hat den Vorzug, dass sie das Selbstverständnis ihrer Religion von innen her mit vollziehen, birgt aber auch die Gefahr, sich in einer Binnenperspektive einzukapseln. Theologie hat daher, will sie über bloße Positionsmarkierungen hinauskommen, die Aufgabe, das Selbstverständnis einer Religion mit der Außenwahrnehmung der anderen, mithin der historischen Kritik, der soziologischen Analyse, des philosophischen Einspruchs zu konfrontieren. Für das Selbstverständnis der christlichen Religion aber ist die Differenz zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern zentral, selbst wenn die Rede vom einen Gott immer schon unterschiedliche Ausdeutungen gefunden hat. Überdies geht das Christentum davon aus, dass sich der eine Gott in der Geschichte zu erkennen gegeben hat und die Bedeutung dieser keineswegs selbstverständlichen Selbstkundgabe durch den Satz "Gott ist Liebe" (1 Joh 4,8.16) angemessen bezeichnet werden kann. Diese auf Offenbarung gestützte Wahrheit des christlichen Glaubens in der religiös unübersichtlichen Lage der Gegenwart als befreiende Wahrheit für alle zu explizieren, ist die Aufgabe systematischer Theologie. Dabei sieht sie sich mit der bedrückenden Tatsache konfrontiert, dass es in der Geschichte des Christentums immer wieder zur Diskriminierung Andersgläubiger und Praktiken der Gewalt gekommen ist - ein religionspolitisches Feld, das Arnold Angenendt in seiner historischen Studie "Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert" differenziert aufgearbeitet hat. Intoleranz und Gewalt sind in der Tat bedrängende Pathologien der Religion auch in der Gegenwart, die es durch historische Selbstkritik und dialogische Lernbereitschaft einzudämmen gilt. Die therapeutische Devise Jan Assmanns, die eigene Religion "mit den Augen der anderen zu betrachten",[1] erscheint mir daher wichtig und hilfreich. Für weniger hilfreich halte ich seine weitergehende Empfehlung, den Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligionen einzuklammern und nur so zu tun, als ob sie wahr seien.[2] Ein solcher Vorschlag scheint mir letztlich an der Teilnehmerperspektive vorbeizugehen, was ich im Folgenden weiter ausführen möchte. Ich beginne mit einleitenden Bemerkungen zur Debatte um das Gewaltpotential des Monotheismus:


1. Monotheismus unter Gewaltverdacht? Wahrnehmungsdifferenzen

In der Debatte um das Gewaltpotential des biblischen Monotheismus sind - das wäre eine erste Beobachtung - nicht unerhebliche Differenzen zwischen den Außen-Zuschreibungen und der Binnen-Wahrnehmung von Religion zu registrieren. Im aktuellen Religionsdiskurs scheint es inzwischen einen anschwellenden Chor von Stimmen zu geben, die den biblischen Monotheismus recht pauschal unter Intoleranz- und Gewaltverdacht stellen. Schriftsteller wie Martin Walser, Michel Houellebecq, José Saramago,[3] aber auch Stimmen wie Peter Sloterdijk und Ulrich Beck haben ihr Unbehagen am Monotheismus deutlich geäußert.[4] Ohne die Artikulationen dieses Unbehagens in einem apologetischen Abwehrreflex vorschnell zurückweisen zu wollen, drängt sich aus der Beteiligtenperspektive spontan die Rückfrage auf, ob der biblische Monotheismus - und die Religionen, die ihn auf je unterschiedliche Weise tradieren: Judentum, Christentum und Islam - hier nicht erheblich verkürzt zur Darstellung gelangen. Selten ist etwa von der humanisierenden Kraft der biblisch geprägten Religion die Rede, die eine Gerechtigkeits- und Solidaritätskultur ausgebildet hat, die den Benachteiligten vermehrte Aufmerksamkeit zukommen lässt. Spricht nicht die Überlieferung des Alten Testaments auf weiten Strecken von einem Gott der Barmherzigkeit, der den Schrei der Armen hört und auf der Seite der Unterdrückten steht? Und, um die Linie bis ins Neue Testament auszuziehen, wo ist von der gewaltigen Gewaltlosigkeit Jesu von Nazareth die Rede, der Feindesliebe und Gewaltverzicht in der Bergpredigt nicht nur rhetorisch gefordert, sondern durch sein freiwilliges Sterben am Kreuz auch eingelöst hat (vgl. Lk 23,34)? Die Religion, in deren Zentrum der Satz "Gott ist Liebe" steht, soll Gewalt und Intoleranz verstärken? Wie konnte es - zugespitzt gefragt - dazu kommen, dass die jüdisch-christliche Religion, von der René Girard gesagt hat, sie habe den verborgenen Sündenbockmechanismus aller menschlichen Kultur aufgedeckt, selbst zum Sündenbock geworden ist? Mir scheinen vor allem drei Faktoren im Hintergrund zu stehen:

Da ist zunächst eine Verschiebung der philosophischen Großwetterlage: der metaphysische Primat des Einen vor dem Vielen, der die abendländische Philosophie von Jonien bis Jena bestimmt hat, ist durch das Denken der Postmoderne infrage gestellt und unterlaufen worden. Die Vorherrschaft des Einheitsdenkens müsse dekonstruiert werden, es habe die Alterität des Anderen und Fremden, die Vielfalt der Kulturen und die Heterogenität der geschichtlichen Kontexte zu lange eingebebnet und nicht hinreichend gewürdigt.[5]
Ein zweiter Faktor, der den Monotheismus in Misskredit gebracht hat, ist die kritische Aufarbeitung der Geschichte der Religionen, besonders der katholischen Kirche. In diesem Zusammenhang sind die Hypotheken der Kirchengeschichte - Antijudaismus, Kreuzzüge, Inquisition - immer wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden. Der christliche Antijudaismus, der den Juden als den konversionsresistenten Anderen systematisch herabgesetzt hat, aber auch die kriegerischen Auseinandersetzungen im Gefolge der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts zeigen, dass die Religion der Nächstenliebe politisch nicht unschuldig gewesen ist. Allerdings käme es einer Halbierung der Geschichte gleich, würde man das Christentum auf eine Kriminalgeschichte verkürzen, ohne die humanisierenden Impulse des Evangeliums zu würdigen.
Ein dritter Faktor sind Gewaltakte im Namen Gottes, die heute vor allem im gewaltbereiten Islamismus zu beobachten ist. Es sind die Ereignisse des 11. September 2001, welche die religionspolitische Debatte um das Gewaltpotential des Monotheismus neu entfacht haben. Die Frage, wie islamistische Selbstmordattentäter dazu kommen, die "Rache Gottes" an seinen vermeintlichen Feinden innergeschichtlich zu vollstrecken, hat den Blick zurück auf die Quellen der monotheistischen Religionen gelenkt und die Frage nach deren Gewaltträchtigkeit neu angestoßen. Sind die Szenen der Gewalt, die Massaker, Vernichtungsweihen und Vertreibungen, die in den heiligen Texten erzählt und erinnert werden, für die Produktion religiöser Feindbilder auch heute verantwortlich?[6]

Unter den Stimmen, die das Unbehagen am Monotheismus artikulieren, verdienen die Arbeiten Jan Assmanns besondere Aufmerksamkeit.[7] Er hat auf das klärungsbedürftige Faktum hingewiesen, dass in den heiligen Texten des Judentums, des Christentums und des Islams die Gründung und Durchsetzung des Monotheismus immer wieder in einer Sprache der Gewalt erzählt wird. Zugleich hat er die These vertreten, dass der biblische Monotheismus eine neue Form[8] von Hass in die Welt gebracht habe, nämlich einen Hass, der durch religiöse Wahrheitsansprüche motiviert werde. Die "Mosaische Unterscheidung", die im Namen der Wahrheit des einzigen Gottes alle anderen Götter als falsch ablehnt und deren Verehrung als Götzendienerei kritisiert, begründe die Gewaltanfälligkeit des Monotheismus. In seiner Studie "Moses der Ägypter" hat Assmann demgegenüber auf einen lange verdrängten Tiefenstrom der abendländischen Geistesgeschichte hingewiesen: die Faszination an der ägyptischen Religion, die hinter dem Schleier der Symbole das göttliche Eine in seiner Verborgenheit verehrt habe. Ihre Weltfrömmigkeit, die sich auf die natürliche Evidenz der kosmischen Phänomene stützt, scheint toleranter und pluralitätsverträglicher als der biblische Monotheismus zu sein, der sich auf einen Akt göttlicher Offenbarung rückbezieht. Auch wenn Assmann nach eigenem Bekunden keine systematisch-theologischen Absichten verfolgt, so ist doch deutlich, dass er selbst mit der kommunikativen Verflüssigung der Mosaischen Unterscheidung auf eine Relativierung religiöser Wahrheitsansprüche abzielt und eine verborgene Menschheitsreligion als "natürliche Religion" als Rezept gegen Religionskonflikte empfiehlt.[9] Das aber erfordert eine systematisch-theologische Auseinandersetzung, die umso schwieriger ist, als Assmann seine Position immer wieder präzisiert und im Gespräch mit anderen teilweise revidiert hat. Während er in "Moses der Ägypter" (1997) das exklusive Bekenntnis zum einen Gott grundsätzlich als gewaltanfällig kritisiert, ist das Buch "Die Mosaische Unterscheidung" (2003) bereits wesentlich zurückhaltender und differenzierter. Neuere Beiträge konzentrieren sich auf die "Sprache der Gewalt"[10] oder lassen gar - sit venia verbo - eine kommunikative Selbstverflüssigung erkennen, wenn sie die mit dem biblischen Monotheismus verbundenen zivilisatorischen Fortschritte ausdrücklich würdigen.[11] In seinem Eröffnungsbeitrag zu dieser Debatte hat Jan Assmann klargestellt, dass er weder einer "romantischen Polytheismussehnsucht" anhängt noch den Kosmotheismus als Alternativreligion empfehlen möchte. Stattdessen trägt er ein Plädoyer für eine verborgene Menschheitsreligion vor, hinter der alle Offenbarungsreligionen zurückzutreten sollen: "Jeder soll seine bestimmte Religion praktizieren, als ob sie wahr wäre, in voller Anerkennung der Möglichkeit, […] dass die Wahrheit verborgen ist" (S. 10). Andere Religionen zu respektieren, ist inzwischen Standard des Dialogs zwischen den Religionen oder sollte es zumindest sein; die Forderung hingegen, den eigenen Wahrheitsanspruch einzuklammern, ist diskussionsbedürftig, da sie das Selbstverständnis religiöser Akteure an der Wurzel tangiert. Wie kann ein gläubiger Mensch, der davon ausgeht, dass Gott aus dem Verborgenen herausgetreten ist und sich ein für alle Mal geoffenbart hat, sowohl seiner Überzeugung treu bleiben als auch anerkennen, dass die Wahrheit möglicherweise doch noch verborgen ist? Läuft das nicht auf das Konzept einer gespaltenen Wahrheit hinaus, die hier die geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes als wahr bekennt, die sie dort angesichts der verborgenen Menschheitsreligion als "uneigentlich" zurücknimmt?


2. Die Verborgenheit des Göttlichen und das Geschick der Menschen - der Preis des Kosmotheismus

Jan Assmanns Kritik an der Mosaischen Unterscheidung ist also nicht einfach mit einem Lob des Polytheismus verbunden, ja wohl nicht einmal als direkte Anempfehlung des Kosmotheismus als Alternativreligion zu lesen. Dennoch wird man beide Aspekte nicht einfach trennen können: Die Kritik am Gewaltpotential des biblischen Monotheismus und der Hinweis auf den monistischen Tiefenstrom der abendländischen Geistesgeschichte gehören zusammen. Assmann bewegt gerade nach dem 11. September 2001 die Frage, wie die Koexistenz der Religionen in einer globalen Welt friedlich gestaltet werden kann. Dabei geht es ihm darum, das "semantische Dynamit", das mit der Mosaischen Unterscheidung potentiell verbunden ist und das heute vor allem in fundamentalistischen Spielarten des Islam - aber nicht nur dort - begegnet, durch "diskursive Verflüssigung" zu entschärfen. Das Gefahrenpotential, das der exklusive Monotheismus in sich birgt, soll durch Relativierung der Wahrheitsansprüche eingedämmt werden. Dazu bietet sich die Erinnerung an den Kosmotheismus an, für den in den Aufklärungsdiskursen des 17. und 18. Jahrhundert Moses der Ägypter steht. Im Grunde geht es in seinem Plädoyer für ein "Sowohl-als-auch" darum, die unterschiedlichen Religionen, ihre Symbolwelten und rituellen Praktiken, als plurale Ausdrucksgestalten einer Oberflächenreligion gelten zu lassen, deren Differenzen angesichts der Tiefenreligion des in der Natur verborgenen All-Einen zurücktreten. Der Preis einer solchen kosmotheistischen Tiefenreligion erscheint mir allerdings zu hoch, und dies aus drei Gründen[12]:

(1) Mit der These von der Unbestimmbarkeit des Göttlichen schließt der Kosmotheismus aus, dass sich Gott selbst offenbaren und geschichtlich mitteilen könnte. Daher vermag er dem Selbstverständnis der Offenbarungsreligionen nicht gerecht zu werden. Das ist der offenbarungstheologische Vorbehalt.

(2) Mit der These, dass das All-Eine in der natürlichen Evidenz der kosmischen Phänomene aufgehe, schließt der Kosmotheismus aus, dass Gott in der Geschichte wirkt und Anteil nehmen kann am Geschick der Menschen. Das Konzept der biblischen Bundesgeschichte, das der neuzeitlichen nach vorne hin offenen Freiheitsgeschichte zugrunde liegt, ist im Rahmen des Kosmotheismus ebenso wenig denkbar wie das Motiv einer Compassio Gottes mit den Leidenden und Unterdrückten, das im Zentrum des biblischen Gottesgedächtnisses steht. Das ist der geschichtstheologisch-passiologische Vorbehalt.

(3) Mit der These vom namenlosen Walten des Göttlichen in der Welt unterläuft der Kosmotheismus die Unterscheidung zwischen Gott und Welt, die eine wesentliche Errungenschaft des biblischen Monotheismus darstellt, wie Jan Assmann selbst einräumt. Die Entgöttlichung der Welt ermöglicht dem Menschen allererst eine freie und verantwortliche Weltgestaltung, wenn anders mit der Depotenzierung der kosmischen Mächte die Ermächtigung des Menschen als eines freien Akteurs der Geschichte verbunden ist. Das ist der schöpfungstheologische Vorbehalt.

Zum offenbarungstheologischen Vorbehalt
Mit der Betonung der Verborgenheit und Unbestimmtheit des Göttlichen sind, systematisch-theologisch betrachtet, zwei weitreichende Implikationen verbunden: zum einen wird jeder theologische Wahrheitsanspruch, der sich in bestimmter Weise, also dogmatisch artikuliert, in die Schranken gewiesen. Wer meint, das unbestimmbare Geheimnis begrifflich bestimmen zu können, vergreift sich am Unbegreiflichen. Über das Göttliche kann allenfalls andeutungsweise in vagen Chiffren gesprochen werden. Zum anderen schafft die Betonung der Unzugänglichkeit des Göttlichen Spielraum für unterschiedliche Symbolisierungen und rituelle Praktiken, die in ihrer Pluralität alle zulässig sind. Viele Wege sind möglich, das Göttliche zu verehren. Kein Weg darf beanspruchen, der einzig richtige zu sein, weil sich keine Religion die Definitionshoheit anmaßen kann, anzugeben, was das Göttliche wirklich ist, wie es wahrhaft verehrt werden soll. Bestimmt kann allenfalls gesagt werden, dass das Göttliche unbestimmt ist. Mit der Behauptung, dass sich über das Göttliche nichts Bestimmtes sagen lässt, gibt der Kosmotheismus jedenfalls die Unbestimmbarkeit als letzte Bestimmung aus. Schließt er aber dadurch nicht gerade aus, dass Gott sich selbst in der Geschichte durch einen freien Akt der Selbsterschließung mitteilen könnte?[13]
Jan Assmann sieht in der Depotenzierung der religiösen Wahrheitsansprüche - durchaus auf der Linie von Lessings Ringparabel - den Schlüssel zu einer friedlichen Verständigung zwischen den Religionen in einer globalisierten Welt. Dem Programm der pluralistischen Religionstheologie vergleichbar, die eine prinzipielle Gleichwertigkeit unterschiedlicher Heilswege behauptet[14], hegt Assmann große Sympathien für eine "Menschheitsreligion der verborgenen Wahrheit". Den Offenbarungsreligionen aber, so gibt er zu verstehen, ist eine Selbstrelativierung abverlangt: "keiner von ihnen ist es erlaubt [sic], sich im Besitz absoluter und universaler Wahrheiten als 'allein seligmachende' zu verstehen. Nur als religio duplex, das heißt eine Religion auf zwei Ebenen, die sich als eine unter vielen und mit den Augen der anderen zu sehen gelernt hat und dennoch den verborgenen Gott oder die verborgene Wahrheit als Fluchtpunkt aller Religion nicht aus den Augen verliert, hat Religion in unserer globalisierten Welt einen Ort."[15] Bei aller berechtigten Kritik am Exklusivismus, der unfähig ist, sich selbst mit den Augen der anderen zu betrachten, möchte ich die Rückfrage stellen, ob die Ablehnung absoluter und universaler Wahrheitsansprüche im Bereich der Religion hier nicht selbst als absolute und universale Wahrheit ausgegeben wird.
Die "Toleranz" und "Friedfertigkeit" einer religio duplex, welche die faktischen Religionen auf die aufgeklärte Menschheitsreligion des verborgenen Gottes hin übersteigt, kann jedenfalls unter der Hand intolerante Züge annehmen, wenn sie kein Verständnis aufbringt für religiöse Akteure, die sich weigern, ihre Glaubensüberzeugung zur Disposition zu stellen und im Blick auf das verborgene All-Eine hin zu relativieren. Aus der Beteiligtenperspektive ist der christliche Glaube an den einen Gott, der sich in der Person und Geschichte Jesu zu erkennen gegeben hat, mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, der sich nicht in das System des Kosmotheismus einpassen lässt. Insofern kann ich Rolf Schieder und Klaus Müller nicht folgen, wenn sie sich in ihren Beiträgen Assmanns Devise "Sowohl - als auch" zu Eigen machen und das Christentum offensichtlich als eine der möglichen Varianten von Oberflächenreligion betrachten, die vor dem All-Einen, der alles relativierenden Hintergrundreligion, zurücktreten müssen. Das christliche Bekenntnis geht davon aus, dass der unbegreifliche Gott aus der Verborgenheit herausgetreten ist und sich in der Geschichte ein für alle Mal geoffenbart hat. "Incomprehensibilis voluit comprehendi - der Unbegreifliche wollte sich begreiflich machen"[16] - in diesem Satz von Leo dem Großen ist die Logik der Inkarnation festgehalten, die sich dem Monismus letztlich widersetzt.

Zum geschichtstheologisch-passiologischen Vorbehalt
Im Rahmen des Kosmotheismus nimmt das unter dem Mantel der Natur verschleierte Göttliche keinen Anteil am Geschick der Menschen. Das apersonale Mysterium des All-Einen lässt sich vom Leiden der Menschen nicht tangieren, es unterhält kein Verhältnis zur Geschichte. Die Theodizeefrage in Gestalt der Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Leidensgeschichte der Welt kann im Horizont des Monismus nicht sinnvoll gestellt werden. Es gibt keine Instanz, die zugleich gut und mächtig wäre und zur Verantwortung gezogen werden könnte. Anders der biblische Gott, der als Schöpfer der Welt und Initiator einer dramatischen Bundesgeschichte verstanden wird. Er kann zur Rechenschaft gezogen werden. In der Geschichte Israels, dann im Leben und Sterben des Menschen Jesus von Nazareth hat er seine Anteilnahme am Geschick der Menschen gezeigt, er kann kein vollends apathischer Gott sein, der sich vom Leid der anderen nicht betreffen lassen kann, weil jede Form von Betreffbarkeit seine Vollkommenheit beeinträchtigen würde. Vielmehr gehört das Mitleidenkönnen zur Vollkommenheit seiner Liebe. Ipse pater non est impassibilis. Was wäre das für eine Liebe, die gegenüber dem Leiden des Geliebten gleichgültig bliebe? In diesem Sinne notiert Origenes: "Der Erlöser ist zur Erde abgestiegen aus Mitleid für das Menschengeschlecht. Er hat unsere Leiden (passiones) auf sich genommen, ehe er das Kreuz erlitt, ja ehe er sogar unser Fleisch anzunehmen geruhte: hätte er sie nicht zuerst gespürt, so wäre er nicht gekommen, um an unserem Menschenleben teilzunehmen. Welches war dieses Leiden, das er zuerst für uns litt? Es war das Leiden der Liebe (passio caritatis)."[17]
In der Spur dieser passio caritatis, die eine neue Form von Liebe in die Welt bringt und deshalb auch das semantische Glutzentrum heutiger Entwürfe christlicher Gotteslehre[18] bildet, kann das Christentum als eine leidempfindliche Religion gekennzeichnet werden, das die alttestamentliche Wahrnehmung für den Anderen gerade in seiner Bedrohtheit aufnimmt. Allerdings bleibt die Frage nach dem Warum des Leids, nach einem Gott, der die Abgründe der Freiheitsgeschichte zulässt - eine drängende Frage, die eine Spiritualität der Klage freisetzt. Allerdings gibt es Klagen, die ohne Antwort bleiben, Schreie, die ungehört verhallen. Solche Ohnmachtserfahrungen wecken Zweifel an der Geschichtsmächtigkeit Gottes, es sind Erfahrungen, welche die Krise des personalen Gottglaubens ebenso verschärft wie die Anziehungskraft des monistischen All-Einheits-Denkens begünstigt haben. Allerdings gibt es in der kosmischen "Harmonie" des All-Einen nicht einmal einen Adressaten für die Klagen und Schreie der Opfer, während ihre Passionsgeschichten aus christlicher Sicht in einer untergründigen Verbindung zum Leiden des Gekreuzigten stehen.[19] Die Erinnerung an das befreiende Geschichtshandeln Gottes setzt die eschatologische Erwartung frei, dass sich der Schöpfer der Welt auch als deren Richter und Vollender erweisen wird.[20]
Mit dieser Hoffnungsgestalt, die gerade auch die Opfer der Geschichte noch einmal rettend umschließt, ist eine entsprechende Praxis der Solidarität und Gerechtigkeit verbunden, die sich von einer vagen kosmotheistischen Spiritualität klar absetzen dürfte. Denn eines ist es - zugespitzt formuliert -, sich mit der Teilnahmslosigkeit des All-Einen abzufinden und in einer wohlbehüteten Nische das kleine Glück zu suchen; ein anderes, sich hineinnehmen zu lassen in die "Compassio Gottes" mit den Erniedrigten und Beleidigten und eine solidarische Praxis zu üben. Das exemplum der bis ins Äußerste gehenden Liebe Jesu ist jedenfalls für die christliche Gebets- und Nachfolgegemeinschaft zugleich ein sacramentum, das zu einer Praxis der Gottes- und Nächstenliebe im Geist des auferweckten Gekreuzigten befähigen soll. Der Grenzfall dieser Praxis ist das Martyrium. Der christliche Märtyrer, der sich in seinem Leiden mit dem Geschick Jesu Christi verbindet, ist jedenfalls nicht mit einem militanten Gotteseiferer zu verwechseln. Der christliche Märtyrer erduldet Gewalt, aber er übt sie nicht. Er erduldet Gewalt, weil er sich weigert, sein Bekenntnis zu Jesus Christus, dem inkarnierten Wort Gottes, zur Disposition zu stellen. Diese Weigerung ist Ausdruck persönlicher Treue, die sich nicht durch sozialen Druck oder politische Gewalt korrumpieren lässt. Diese Treue, wie Jan Assmann es tut, als "reaktive Intoleranz" zu bezeichnen, erscheint mir daher fragwürdig. Noch fragwürdiger wäre es, den christlichen Märtyrer mit einem Selbstmordattentäter gleichzusetzen, der Andersgläubige im Namen seines Gottes tötet. Jan Assmanns These, dass "Martyrium und Gewalt, das Sterben für Gott und das Töten für Gott"[21] zusammengehören, erscheint mir daher korrekturbedürftig. Sein Verweis auf die Makkabäer, die nicht nur Widerstand gegen die Zwangshellenisierung des Antiochus Epiphanes IV. (175-164 v. Chr.) geleistet, sondern auch das Leben assimilierungswilliger Glaubensbrüder ausgelöscht haben, mag historisch zutreffen, aber das Beispiel der Makkabäer kann nicht auf das Verhalten der christlichen Märtyrer übertragen werden. Diese haben in ihrem Leiden die gewaltige Gewaltlosigkeit Jesu nachgeahmt und tun dies bis heute, ohne zuvor barbarische Gewaltakte gegen schwache Glaubensbrüder oder Anders- und "Ungläubige" verübt zu haben. Dies hat der Film "Von Menschen und Göttern" (2010, Regie Xavier Beauvois) einer breiteren Öffentlichkeit deutlich gemacht.[22]

Zum schöpfungstheologischen Vorbehalt
Der Kosmotheismus ebnet die Unterscheidung zwischen Gott und Welt ein. Damit verblasst das Göttliche zu einer apersonalen und namenlosen Größe. Nichts macht dies deutlicher als die kühne Identifizierung der Selbstoffenbarung Gottes am Sinai "Ich bin, der ich bin" mit der Inschrift zu Sais: "Ich bin alles, was ist, war und sein wird, kein Sterblicher hat meinen Mantel gelüftet", die Karl Leonhard Reinhold erstmals vorgenommen hat, als er in seiner Schrift über die hebräischen Mysterien schrieb: "Wem aus uns, meine Brüder! sind endlich die alten ägyptischen Inschriften unbekannt; die eine auf der Pyramide zu Sais: Ich bin alles, was ist, war und seyn wird, meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgehoben; und jene unter der Bildsäule der Isis; Ich bin, was da ist? Wer aus uns, meine Brüder! versteht nicht den Sinn dieser Worte so gut, als ihn vormals der ägyptische Eingeweihte verstehen mußte, und weiß nicht, daß damit das wesentliche Daseyn, die Bedeutung des Wortes Jehovah, beynahe wörtlich ausgedrückt ist?"[23] Durch diese semantische Umcodierung des biblischen Monotheismus wird die Mosaische Unterscheidung unterlaufen. Der Kosmos ist nun der Ort des göttlichen Waltens, nicht ein sich selbst in der Geschichte offenbarender Gott. Damit aber entfällt die Instanz, die den Menschen zur Freiheit berufen und zur Wahrnehmung der Weltverantwortung motivieren könnte. Mit der Unbestimmbarkeit des Göttlichen drohen Kategorien wie Freiheit und Verantwortung semantisch unscharf zu werden. Der biblische Monotheismus hingegen überschreitet den Horizont der Immanenz, weil er auf einen Gott bezogen ist, der sich von der Welt klar unterscheidet. Diese "Unterscheidung von Gott und Welt hat uns" - wie Assmann selbst vermerkt - "befreit von der Tyrannei des Gegebenen und uns Perspektiven einer anderen Wirklichkeit erschlossen, ohne die wir nicht mehr leben können."[24] Die Schöpfungserzählung im Buch Genesis unterscheidet zwischen Gott, dem Schöpfer, und der Welt, seiner Schöpfung. So werden die Gestirne, die in Babylon und vielen anderen vorderorientalischen Religionen als Götter verehrt wurden, zu bloßen Leuchten am Himmel degradiert.[25] In dieser Depotenzierung und Entmythologisierung der kosmischen Mächte liegt die Ermöglichung menschlicher Freiheit und ihrer Entfaltungsspielräume. Jürgen Habermas hat in diesem Zusammenhang zurecht festgehalten, dass "Gott nur so lange ein 'Gott freier Menschen' [bleibt], wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen."[26] Der biblische Monotheismus ist Statthalter dieser Einsicht. Er begreift die Welt als Schauplatz, auf dem der von Gott in seine Freiheit entlassene Mensch seinen Weltauftrag wahrnehmen kann. Das Christentum ist daher keine Religion der Weltflucht, wie immer wieder unterstellt wird, sondern eine Religion der Weltgestaltung - in Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Der Kosmotheismus empfiehlt sich als Religion der Weltbeheimatung und Diesseitsbejahung. Das Sündenbewusstsein, das mit dem Aufkommen des biblischen Monotheismus geschärft wurde, scheint die unbeschwerte Lebensfreude zu durchkreuzen. "Von Ägypten aus betrachtet sieht es so aus, als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde in die Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen."[27] Aus theologischer Sicht wäre rückzufragen, ob dieser Satz nicht den Unrechtszusammenhang wieder verschleiern will, der durch den biblischen Monotheismus aufgedeckt wurde. Statt die Sünde, die im Horizont der Mosaischen Unterscheidung ein Akt der Untreue ist, zu denunzieren, wäre umgekehrt zu sagen, dass durch die Religion des einen Gottes die faktische Gewalt von Menschen gegen Menschen allererst in ihrer Schärfe ans Licht gebracht wird. Könnte die heute verbreitete Aversion gegen die jüdisch-christliche Rede von der Sünde, welche die Schlusspassage von "Moses der Ägypter" ins Wort bringt, nicht auch als eine Spielart spätmoderner Schuldverschleierung und Verantwortungsflucht gelesen werden? Die lebenspraktische Devise jedenfalls, das kleine Glück der Erde unbeschwert genießen zu wollen, steht in Verdacht, das Leid der anderen zu vergessen und durch einen Solidaritätsverfall erkauft zu sein. In der All-Einheits-Spiritualität, die im heutigen Spektrum der religiösen Angebote breiten Raum einnimmt, besteht jedenfalls die Gefahr, dass sich die Apathie des verborgenen Göttlichen in eine "Mystik der geschlossenen Augen" übersetzt. Ein "moralischer Optimismus", der sein Brot mit Freuden isst, ohne den Armen vor seiner Tür zu sehen, widerspräche der biblischen Gottesbotschaft und ihrer Ethik. Diese steht für eine "Mystik der offenen Augen"[28], die die Not der Schwachen nicht übersieht. Sie bringt das Leid der Opfer von Gewalt zur Sprache und ruft die Täter von Unrecht zur Rechenschaft, ohne sie auf ihre Taten festzulegen. Sie artikuliert am Ende die endzeitliche Vision einer Aufrichtung des Friedens und der Gerechtigkeit, die den Täter nicht über sein Opfer triumphieren lässt - entscheidende Motive, die im Rahmen einer Alleinheitsspiritualität Leerstellen bleiben.


3. Die friedliche Koexistenz der Religionen in einer globalen Welt - eine bleibende Aufgabe

Der religionspolitischen Diagnose Assmanns, dass um des friedlichen Zusammenlebens willen in der globalen Moderne pathologische Zerrformen der Religion vermieden werden müssen, die ihren Eifer für Gott in militanten Operationen gegen Andersgläubige ausagieren, möchte ich vorbehaltlos zuzustimmen. Aus der Beobachterperspektive kann sicher auch der therapeutische Vorschlag Zustimmung finden, das Problem an der Wurzel anzugehen und die Mosaische Unterscheidung zwischen wahr und falsch durch Wiederanknüpfung an kosmotheistische Traditionen zu unterlaufen. Aus der Beteiligtenperspektive, die ich hier als christlicher Theologe einzubringen versuche, ist es allerdings unmöglich, den religiösen Wahrheitsanspruch einzuklammern und zugunsten einer verborgenen Menschheitsreligion zurückzunehmen. Dies macht auch das Dekret über die Haltung der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate deutlich, auf das sich Assmann am Ende seines Beitrags zustimmend bezieht. "Die katholische Kirche verwirft nichts von dem, was in diese Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtiger Hochachtung betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Gebote und Lehren, die, auch wenn sie von dem, was sie selber festhält und lehrt, in vielem abweichen, nicht selten dennoch einen Strahl jener Wahrheit wiedergeben, die alle Menschen erleuchtet." Dies wird im Sinne der Anerkennung und des Respekts klar festgehalten, zugleich wird der Anspruch der christlichen Religion nicht zurückgenommen, sondern affirmiert: "Unablässig verkündet sie und ist sie gehalten zu verkünden Christus, der 'der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Joh 14,6) ist, in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat" (Nostra Aetate, Art. 2). Die Wahrheit ist demnach gebunden an eine Person, die einen Namen trägt, von dem sich Christen im Leben und Sterben beanspruchen lassen. Davon können sie nicht absehen, sowenig sie ihre Augen vor dem Faktum verschließen können, dass der Wahrheitsanspruch des Christentums in einer globalen Welt mit einem Religionspluralismus konfrontiert ist, der Rückfragen aufwirft: Wie kann der Glaube an die Einzigkeit und universale Heilsbedeutung Jesu Christi aufrechterhalten werden, wenn andere anderes glauben und der christliche Glaube faktisch als partikulare Position neben anderen erscheint?
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) hat auf diese Situation so reagiert, dass es jeden Heilsexklusivismus hinter sich gelassen und in einer Hermeneutik der Anerkennung das Gute und Wahre in den anderen Religionen gewürdigt hat, ohne allerdings den Glauben an die universale Heilsbedeutung Jesu Christi preiszugeben, wie die angeführte Passage aus Nostra Aetate deutlich gemacht hat.[29] Eine rigide Lesart des Axioms Extra ecclesiam nulla salus, die heute noch in der traditionalistischen Piusbruderschaft begegnet, wurde aufgebrochen und ein gestuftes Modell von Ekklesiologie entwickelt, das nichtkatholische Kirchen, nichtchristliche Religionen, ja selbst bekennende Atheisten in ihrer potentiellen Verbundenheit in den Blick nimmt. Die herabsetzende Rede von Nichtkatholiken als "Häretikern" oder "Schismatikern" und Nichtgläubigen als "Heiden", die noch die Sprache des Codex iuris canonici von 1917 kennzeichnet, wurde überwunden.[30] Um einer Reinigung des Gedächtnisses willen - purificazione della memoria - hat Johannes Paul II. die moralischen Hypotheken der katholischen Kirche in den Großen Vergebungsbitten des Jubiläumsjahres 2000 zum Thema gemacht und so die selbstkritische Besinnung des Konzils symbolisch fortgeschrieben. Dieses öffentliche Eingeständnis der Schuld ist von kirchendistanzierten Stimmen wie Peter Sloterdijk[31] oder Slavoj Zizek[32] ausdrücklich gewürdigt worden. Die Weltgebetstreffen in Assisi hingegen haben auf der Linie des Vatikanum II ein sichtbares Zeichen für Frieden und Gerechtigkeit in einer von Religionskonflikten durchzogenen Welt gesetzt. Man kam zusammen, um zu beten und sich im Angesicht der anderen auf die humanitätsfördernden Potentiale der eigenen Religion zu besinnen. Dabei haben sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. darauf geachtet, den Eindruck des Synkretismus zu vermeiden, und im Angesicht der anderen öffentlich bekannt, dass der Friede an die Person und den Namen Jesu Christi gebunden ist. Diese dialogische Haltung, die man religionstheologisch als reflexiven Inklusivismus kennzeichnen kann, entspricht Jan Assmanns Wiener Empfehlung, sich selbst mit den Augen der anderen zu betrachten, sie klammert aber die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht ein, sondern legt werbend dafür Zeugnis ab, ohne die Person des Anderen, dessen Religions- und Gewissensfreiheit uneingeschränkt geachtet wird, zu vereinnahmen. Es gesteht anderen Religionen ebenfalls zu, Zeugnis abzulegen für die Wahrheit, die sie bewegt. Der in Assisi beschrittene Weg, ein öffentliches Zeugnis für Frieden und Gerechtigkeit abzulegen und dabei zelotische Versuchungen in die Schranken zu weisen, erscheint mir daher geeigneter zu sein, pathologische Zerrformen von Religion zu heilen, als die religionspolitische Empfehlung, konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche durch das Instrument der Relativierung zu zähmen und angesichts einer verborgenen Menschheitsreligion zurückzunehmen.[33]

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[1] Diese Devise hat Jan Assmann bei einem Symposium bei den Theologischen Kursen in Wien vorgetragen. Vgl. Henning Klingen: "Wie gewalttätig ist der Monotheismus? In Wien diskutierten Jan Assmann und Jan-Heiner Tück über Wahrheitsanspruch, Gewalt und Allmachtsansprüche der Religionen", in: Christ in der Gegenwart Nr. 20 (2012) 334 (pdf).

[2] Vgl. Joseph Ratzinger: "Glaube - Wahrheit - Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen", Freiburg 2003, 175: "In schönen Fiktionen zu leben, mag den Theoretikern der Religion gegeben sein; für den Menschen, der die Frage stellt, womit und wofür er leben und sterben könne, langen sie nicht."

[3] Vgl. Martin Walser: "Ich vertraue. Querfeldein", Frankfurt/M. 2000, 9-22; Michel Houellebecq: "Plattform", Köln 2002, 239; José Saramago: "Im Namen Gottes ist das Schrecklichste erlaubt", in: FAZ vom 21. 9. 2001 (Nr. 220) S. 52.

[4] Vgl. Peter Sloterdijk: "Gottes Eifer", Frankfurt/M. 2008; Ulrich Beck: "Der eigene Gott", Berlin 2010.

[5] Vgl. Matthias Lutz-Bachmann: "Der eine Gott und die vielen Götter. Monotheistischer Wahrheitsanspruch versus 'postmoderne Toleranz'", in: Ders. - A. Hölscher (Hg.): "Gottesnamen", Berlin 1992, 193-205.

[6] In diesem Fragezusammenhang ist auch Rolf Schieders Buch angesiedelt: "Sind Religion gefährlich?", Berlin 2008. Seine These, dass bestimmte Varianten von Monotheismuskritik nicht minder gefährlich sind, hat er durch eine scharfe und sicherlich zu undifferenzierte Kritik an Jan Assmann und Peter Sloterdijk zu untermauern versucht - eine Kritik, die er in seinem Beitrag zu dieser Debatte inzwischen nicht nur revidiert, sondern, was Assmann betrifft, in eine emphatische Würdigung hat umschlagen lassen.

[7] Vgl. Johannes Thonhauser: "Das Unbehagen am Monotheismus. Der Glaube an den einen Gott als Ursprung religiöser Gewalt? Eine aktuelle Debatte um Jan Assmanns Thesen zur Mosaischen Unterscheidung", Marburg 2008.

[8] Insofern scheint mir Micha Brumliks durchaus eindrucksvolle Auflistung von geschichtlichen Gewaltexzessen, die jenseits des Einflussraumes der Mosaischen Unterscheidung stattgefunden haben, Assmanns Argument nicht wirklich zu treffen. Dieser hat nie bestritten, dass es Gewalt und Hass auch in polytheistischen oder kosmotheistischen Kulturen gegeben hat. Der Skopus seiner These läuft vielmehr darauf hinaus, dass durch die revolutionäre Unterscheidung zwischen wahr und falsch im Bereich der Religion eine neue Form von Gewalt im Namen Gottes freigesetzt worden sei, die im Judentum eher nach innen, im Christentum und Islam eher nach außen gerichtet gewesen sei. Vgl. Assmann: "Die Mosaische Unterscheidung", 28: "Natürlich glaube ich nicht, dass die Welt der primären Religionen von Hass und Gewalt frei gewesen wären. Sie war im Gegenteil von Gewalt und Feindschaft in verschiedensten Formen erfüllt, und viele dieser Formen sind von den monotheistischen Religionen im Zuge ihrer transformatorischen Machtentfaltung gebändigt, zivilisiert und geradezu ausgemerzt worden."

[9] Vgl. Jan Assmann: "Verborgene Weisheit", in: Uwe Justus Wenzel (Hg.): "Was ist eine gute Religion? Zwanzig Antworten", München 2007, 36-41.

[10] Jan Assmann: "Monotheismus und die Sprache der Gewalt", Wien 2006.

[11] Vgl. nur die Aussage: "Nichts liegt mir ferner, als dem Monotheismus den Vorwurf zu machen, er habe die Gewalt in die Welt gebracht. Im Gegenteil, der Monotheismus hat mit seinem Tötungsverbot, seiner Abscheu gegen Menschenopfer und Unterdrückung, seinem Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen vor dem Einen Gott alles getan, die Gewalttätigkeit dieser Welt zu verringern." In: Reinhard Gregor Kratz/ Hermann Spieckermann (Hgg.): "Götterbilder - Gottesbilder - Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike, Bd. 2: Griechenland und Rom, Judentum, Christentum", Tübingen 2006, 328. Vgl. auch: Ders.: "Der eine Gott und die Götter", in: Gesine Palmer (Hg.): "Fragen nach dem einen Gott. Die Monotheismusdebatte im Kontext", Tübingen 2007, 29-52.

[12] Ich greife hier verknappt Überlegungen wieder auf, die sich in dem Aufsatz "In Gott gibt es keine Gewalt. Was Jan Assmanns Monotheismuskritik theologisch zu denken gibt", in: Theologie und Philosophie 86 (2011) 222-253, bereits präludiert finden.

[13] Vgl. dazu Michael Bongardt: "Ein in keiner Weise mehr bestimmbarer - und sich demnach auch nicht selbst bestimmender - Gott widerspricht nicht nur dem Wissen der religiösen Traditionen, er kann auch nicht Inhalt eines Glaubens und Orientierung eines (religiösen) Lebens sein, das nicht anders denn als bestimmt geführt werden kann." Ders.: "Einheit ja - aber welche", in: Klaus Müller - Magnus Striet (Hg): "Dogma und Denkform", Regensburg 2005, 93.

[14] Perry Schmidt-Leukel: "Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen", Güterlosh 2005.

[15] Jan Assmann: "Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung", Berlin 2010, 23.

[16] DH 294. Vgl. Magnus Striet: "Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie", Regensburg 2003.

[17] Origenes, In Ez. Hom. VI, 6.

[18] Eberhard Jüngel: "Gott als Geheimnis der Welt", Tübingen 1977; Hans Urs von Balthasar: "Theodramatik, Bd. IV: Das Endspiel", Einsiedeln 1986; Jürgen Werbick: "Gott verbindlich. Eine Gotteslehre", Freiburg 2006; Walter Kasper: "Der Gott Jesu Christi", Freiburg 2009.

[19] Vgl. Esther Maria Magnis: "Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung", Reinbek bei Hamburg 2012.

[20] Vgl. Magnus Striet: "Antimonistische Einsprüche", in: Klaus Müller / Ders.: "Dogma und Denkform", Regensburg 2005, 111-127.

[21] Vgl. Jan Assmann: "Ist der neue Mensch ein Eiferer?", in: NZZ vom 30. 10. 2004 (online).

[22] Vgl. Christoph Benke: "Gott im Antlitz des Anderen. Christian de Chergé und Pierre Clacerie als Zeugen für Christus im muslimischen Algerien", in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 41 (2012) 139-151 (online).

[23] Carl Leonhard Reinhold: "Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerei", hg. u. kommentiert von Jan Assmann, Neckargmünd 2001, 42. Die Inschrift zu Sais hat im Denken der Aufklärung eine beeindruckende Gedächtnisspur hinterlassen. Bei Kant, Schiller, Beethoven und in Mozarts Zauberflöte kommt sie vor. Aber Reinhold ist es, der in der Inschrift zu Sais "die Bedeutung des Namens Jehovah beynahe wörtlich ausgedrückt" sieht (ebd., 54) und die Selbstvorstellung Gottes am Sinai (Ex 3,14) so im Horizont der Inschrift von Sais liest. Der biblische Monotheismus erhält so eine Neuinterpretation im Licht des Kosmotheismus - allerdings um den Preis, dass die Gott-Welt-Unterscheidung kassiert wird. Vgl. dazu auch Klaus Müller: "Über den monistischen Tiefenstrom der christlichen Gottesrede", in: Ders. - Magnus Striet: "Dogma und Denkform", 47-84, hier 53f. und 63ff.

[24] S. Anm. 21.

[25] Vgl. Medard Kehl: "Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung", Freiburg 2006, 109.

[26] Jürgen Habermas: "Glaube und Wissen", Frankfurt/M. 2001, 30. Vgl. auch Ders.: "Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX", Frankfurt/M. 2001, 185 f.: "Philosophisch gesehen ist im Ersten Gebot der folgenreiche kognitive Schub der Achsenzeit festgehalten, nämlich die Emanzipation von der Kette der Geschlechter und von der Willkür der mythischen Mächte. Damals haben die großen Weltreligionen - mit der Ausbildung von monotheistischen oder akosmischen Begriffen des Absoluten - durch die gleichmäßig glatte Fläche der narrativ verknüpften kontingenten Erscheinungen hindurchgegriffen und jene Kluft zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur, zwischen Wesen und Erscheinung aufgerissen, die den Menschen erst die Freiheit der Reflexion, die Kraft zur Distanzierung von der taumelhaften Unmittelbarkeit geschenkt hat. Mit diesen Begriffen des Absoluten oder Unbedingten trennen sich nämlich die logischen Beziehungen von den empirischen, trennt sich die Geltung von der Genesis, die Wahrheit von der Gesundheit, die Schuld von der Kausalität, das Recht von der Gewalt usw."

[27] Assmann: "Moses der Ägypter", 282.

[28] Vgl. Johann Baptist Metz: "Mystik der offenen Augen", Freiburg 2008.

[29] Vgl. Karl Lehmann: "Das Christentum - eine Religion unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive", in: Ders.: "Zuversicht aus dem Glauben", Freiburg 2006, 401-435. Lehmann votiert - in Anlehnung an das Analogie-Denken - für ein dreifstufiges Vorgehen im Dialog mit anderen Religionen eintritt: Nach einem affirmativ-positiven Zugang, der im Sinne von Nostra Aetate partielle Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten festhält (1), gelte es Verzerrungen des Religiösen oder abergläubische Praktiken kritisch zu negieren (2). Schließlich sei eine Vermittlung der beiden Momente anzustreben, die Gemeinsames und Trennendes zusammenhält, ohne der Gefahr des Synkretismus zu erliegen (3).

[30] Vgl. Jan-Heiner Tück (Hg.): "Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil", Freiburg 2012, bes. 242-267.

[31] Vgl. Peter Sloterdijk: "Gottes Eifer" (s. Anm. 5), 56, der darauf hinweist, "dass das Christentum, das sich verbatim als Religion der Liebe, der Freiheit und der herzlichen Inklusion vorstellt, de facto auch in großem Ausmaß die Unerbittlichkeit, den Rigorismus und den Schrecken praktizierte […] Zu den fortwirkenden Erinnerungen an Johannes Paul II. werden die Momente gehören, in denen der Pontifex maximus sich vor aller Welt für die Verirrungen der 'Söhne und Töchter' einer fehlbaren Kirche entschuldigte."

[32] Vgl. Slavoj Zizek: "Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen", Berlin 2000, 168.

[33] Vgl. Roman Siebenrock - Jan-Heiner Tück (Hg.): "'Selig, die Frieden stiften'. Assisi - Zeichen gegen Gewalt", Freiburg 2012.