Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
17.06.2003. "Der Geist war meist ein entzückendes Beiwerk, das man sehr zu schätzen wusste, aber doch nicht ganz so sehr bewunderte wie Nacken, Oberschenkel, Busen und Haar der Gäste." Arno Widmann hat Bücher zum 17. Juni, zur Wiedergeburt des Hartknoch'schen Verlages im Geiste Kant'scher Konversation, zum Berlin der achtziger Jahre und zur Geburt der Öffentlichkeit aus dem Geist der Fronde vom Nachttisch geräumt.
Scheues Reh

Der Volksaufstand des 17. Juni (mehr hier und hier) war der erste der großen gescheiterten Versuche der Bevölkerungen in den Volksrepubliken, mit den von der sowjetischen Besatzungsmacht aufgezwungenen Regimen fertig zu werden. Ilko-Sascha Kowalczuk (mehr hier) hat ein sehr lesenswertes Buch darüber herausgebracht. Es breitet das Material aus. Neben den Erklärungen des Historikers stehen die Dokumente, die Zeugnisse der Zeit und der Zeitgenossen. Eine interessante, aber auch enervierende Lektüre. Man schafft es nicht, sich durch Texte durchzulesen, die so beginnen: "Die Verwirklichung des historischen Beschlusses der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands über die Schaffung der Grundlagen zum Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik sowie die Verwirklichung des vom großen Stalin entdeckten Grundgesetzes des Sozialismus..." Aber es ist wichtig, dass man es tut. Nur dann wird einem klar, wie massiv sich die Sprache nicht etwa erst bei der Vermittlung der Politik zwischen Herrscher und Beherrschte schob, sondern wie sie die Herrscher schon an der Wahrnehmung der Wirklichkeit hinderte. Sie gehorcht einem Protokoll, das festlegt, welche Erkenntnisse zu gewinnen sind. Es ist keine Sprache, derer die Sprecher sich bedienen, sondern es ist eine Sprache, die sich der Sprecher bedient. Wer in dieser Sprache versuchte ein Stück Wirklichkeit einzufangen, der musste erst durch Berge von vorgestanztem Material hindurch. Eine Mühe, die auch die kräftigsten Naturen sich nur zwei-, drei-, vier- oder fünf Mal machen konnten. Mehr schaffte niemand.

Wollte man denken, kam es darauf an, diese Sprache abzuwerfen, sich also - mit Brecht zu sprechen - dümmer zu machen. Dem Buch ist eine CD beigegeben, die die Diskussion auf einer Belegschaftsversammlung im Elektromotorenwerk Wernigerode am 18. Juni 1953 dokumentiert. Das Auffälligste ist die Kürze der Redebeiträge. Selbst die SEDler sprechen knapp zur Sache. Kaum jemand sagt mehr als zehn Sätze. Die Arbeiter in Wernigerode haben keine Probleme, auf die Sprache der Partei zu verzichten. Das öffentliche Reden fällt ihnen schwer. Darum tragen sie vor allem ihre Forderungen vor. Es fehlen Begründungen. Jeder weiß, dass es nicht um die besseren Begründungen geht, sondern um die Frage, wer die Macht hat. Das ist für die Leute in Wernigerode noch nicht entschieden. Sie denken noch an freie und geheime Wahlen. Sie hoffen noch auf einen allgemeinen Rückzug des Regimes. Ein merkwürdiger Effekt stellt sich bei der Lektüre des Buches ein. Man liest zum Beispiel Johannes R. Bechers berühmte "Danksagung", sein Gedicht zum Tode Stalins und wird, so stark die unfreiwillige Komik des Textes ist, doch bewegt von dem Pathos. Becher wusste, welche Saiten er anschlagen musste. Dann kommen die verrücktesten Zeilen:

"Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte/
Der Apfelbäume an dem Bodensee,/
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,/
Und winkt zu sich heran ein scheues Reh."

und man denkt: Der muss durchgeknallt sein. Wie viel Koks hatte er intus? (Das ganze Gedicht findet sich hier, etwa auf der Mitte der Seite.) Aber ist das eigentlich Verrückte nicht, dass er sich und uns die Macht genießbar machen will, indem er sie als gütig darstellt? "Väterchen Stalin" mag Bestandteil des vorgeschriebenen Herrscherlobes sein, aber hier tobt sich nicht nur die sowjetische Kulturbürokratie, sondern auch Bechers Sehnsucht aus: die Vereinigung von grenzenloser Macht, von schlimmster Gewalttätigkeit mit Güte. Man mag darin religiöses Erbe sehen. Man muss darin aber auch das Bild vom Kinderschänder wiedererkennen, wie er sich zu dem kleinen Mädchen herabbeugt. Am 17. Juni ging es nicht nur um Normen und staatsbürgerliche Freiheit, es war auch ein Aufstand gegen eine verbrecherische Gemütswelt.

Ilko-Sascha Kowalczuk unter Mitarbeit von Gudrun Weber, 17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR - Ursachen - Abläufe - Folgen, mit einem Vorwort von Marianne Birthler, Edition Temmen, Bremen 2003, 312 Seiten, 130 Duo Ton Abbildungen, 19 Euro, ISBN 3-86108-385-X


Patriotismus und Bewaffnung

1762 erschien das erste Buch des Hartknoch-Verlags, der bis 1767 seinen Sitz in Mitau hatte, dann nach Riga umzog und dort bis 1804 unter anderem Werke von Kant und Hamann veröffentlichte. Die "Geistlichen Lieder" von Christoph Friedrich Neander, von denen einige noch heute zu den schönsten der evangelischen Gesangbücher gehören, erschienen auch bei Hartknoch. Der erste Titel aber ist die "Rede über den Patriotismus" von Ludwig von Beausobre. "Aus dem Französischen" steht im Katalog. Dieser kleine Vermerk reißt den Horizont weit auf und gibt den Blick frei auf die Geschichte des Nationalbewusstseins in Europa, auf seine Wanderungen, Abschweifungen und Entlehnungen. Nationalbewusstsein ist eine Konstruktion, entstanden nicht aus der Sehnsucht nach einem Zusammenhalt, sondern eine Ideologie, die die gewaltsam hergestellte Einheit, den Zentralismus des französischen Absolutismus in den Köpfen der Untertanen verankerte. Erst im zersplitterten Deutschland wurde die Importware "Nationalbewusstsein" ein Sehnsuchtsgut, eine Utopie. Der Autor der in Riga - in der östlichsten deutschsprachigen Diaspora - erschienenen "Rede über den Patriotismus" war ein hugenottischer Flüchtling, dessen Familie am eigenen Leibe erfahren hatte, dass die Vereinigung, die das Nationalbewusstsein meint, immer auch Ausschließung und Vernichtung bedeutet.

Zu den letzten Büchern des Verlages gehört eine deutsche Übersetzung von Nikolai Karamsins "Briefe eines reisenden Russen", ein Gedichtband von Johann Gottfried Seume und eine Broschüre, an deren patriotischem Wert kein Zweifel aufkommen kann: "Über Bewaffnung". 1918 erschien, besorgt von Arthur Poelchau, ein Verzeichnis der Veröffentlichungen des Hartknoch-Verlages. Diese liegt jetzt - zusammen mit einer Einführung von Klaus Kocks - wieder vor als erste Veröffentlichung des in Riga neu gegründeten Hartknoch-Verlages. Dass man unter der im Buch eingedruckten ISBN-Nummer das Buch nirgends angezeigt findet, ist Teil eines mystifikatorischen Spiels, das den bibliophilen Reiz erhöhen soll.

Klaus Kocks, Zur Wiedergeburt des Hartknoch'schen Verlages im Geiste Kant'scher Konversation, Hartknoch, Riga, Cesu iela 27, LV 1012 Riga, Latvia, 2003, 70 Seiten, ISBN 9984-720-33-0


Die Gabe

Nicolaus Sombart war 1982/83 "Fellow" des von Peter Wapnewski geführten Wissenschaftskollegs in Berlin. Er hat Tagebuch geführt über jene Zeit. Das Buch ist jetzt veröffentlicht worden. Es gibt kein besseres Buch über das Berlin, das damals gerade die Postmoderne entdeckt hatte. Die "Zeitgeist"-Ausstellung machte Furore, Punks bevölkerten nicht mehr nur Kreuzberg, sondern auch Parties der feinen Charlottenburger Gesellschaft. Die Professoren Kamper und Taubes stritten über das Posthistoire. Die Revolutionäre von 1968 hatten den Glauben an ihre Revolution - und damit den an jede - verloren und predigten das Ende der Geschichte. Ost und West bekriegten sich nicht mehr an der Berliner Mauer, sondern führten im fernen Afghanistan mörderische Stellvertreterkriege, mit deren Folgen wir heute zu kämpfen haben. Aber davon wusste man noch nichts. Hinzu kam - der vom Europarat in Straßburg in seine Geburtsstadt Berlin heimgekehrte Sombart notiert es immer wieder - Berlin interessierte sich nur für Berlin. Nein: Westberlin interessierte sich nur für Westberlin. Die Stadt lebte in dem Wahn, das beste Theater der Welt - die Schaubühne - und die besten Maler der Welt - die "jungen Wilden" - zu haben. Das genügte. Sombart wird nicht müde, das Provinzielle, den kleinbürgerlichen Mief dieses Milieus festzuhalten. Aber er verfällt ihm.

Über seinem Berlin-Aufenthalt steht: incipit vita nova. Der Sechzigjährige stürzt sich mit einem selten zu findenden Lebenshunger auf die Stadt und ihre Menschen. Mädchen und Jünglinge, Studentinnen, Prostituierte und Senatorengattinnen - niemand ist vor seinem Appetit, vor seiner immer sexuell bestimmten Lebensgier sicher. Sie kommen alle vor. Die meisten mit vollem Namen. Der wird freilich oft so falsch geschrieben - das Lektorat ist an Schlampigkeit kaum zu übertreffen - , dass statt der von Sombart angestrebten Offenheit Geheimniskrämerei zu walten scheint. Peter Szondi zum Beispiel wird konstant Szondy geschrieben. Aus Michael de Ferdinandy wurde ein Michael von Ferrandy.

Die Gier, mit der der alte Mann sich ins Leben stürzt, scheint viele Leser abzustoßen. Sie empfinden sie als unappetitlich. Man kann dagegen nicht argumentieren. Das Gefühl hat Recht. Aber auch das andere Gefühl hat Recht. Das nämlich der Befreiung. Hier führt sich einer in seiner ganzen unbändigen Eitelkeit, seiner alle Dämme brechenden Ichsucht vor und - wenn wir uns eine Sekunde lang aus dem uns schützenden Ekel herauswagen - dann entdecken wir: so sind wir auch. Wir sind nicht sechzig, wir waren nicht Mittags mit einer großen, attraktiven Siebzehnjährigen auf einer Vernissage, haben Nachmittags mit zwei Frauen gevögelt, abends über die Rolle des Judentums bei der Herausbildung der deutschen Nation debattiert, anschließend eine Telefonnummer aus den entsprechenden Seiten der "B.Z." herausgesucht, zum Hörer gegriffen und eine halbe Stunde später einer Prostituierten die Tür geöffnet. Wir haben auch nicht, nachdem sie gegangen war, noch in Graf Hutten-Czapskis Memoiren gelesen. Der Herr ist ansonsten Autor einer Weltgeschichte des - Adel verpflichtet - Pferdes. Das ist ein Männertraum. Ihn zu leben ist schrecklich. Aber ihn nicht zu leben, ist wahrscheinlich nicht weniger schrecklich. Die Aggressionen, die Nicolaus Sombart auf sich zieht, haben hier ihre Ursache. Man ist nicht bereit ihm zu zugestehen, was man sich selbst nicht zugesteht. Das beginnt bei der Selbstverständlichkeit, mit der er sich für den Mittelpunkt der Welt hält, und es endet noch nicht bei seinem die halbe Berliner Boheme jener Zeit einbeziehenden Sexleben.

Dabei ist Sombart Soziologe. Er sieht sich als Produkt, als Fall, als Sujet einer Erzählung, die den Blick freigibt auf die Gesellschaft, in der wir alle leben. Er wirft sich uns zum Fraße vor. Aus Eitelkeit und masochistischer Genusssucht, aus ungezügeltem Exhibitionismus, aber auch, weil er das Kostbarste ist, das er verschenken kann, und billig will er sich nicht davon machen. Wir sollten das Geschenk annehmen. In zwanzig Jahren werden wir es mit Freude tun und sein "Journal intime 1982/83" als tiefsten Einblick in das Westberlin vor dem Mauerfall feiern. Warum fangen wir nicht gleich damit an?

Nicolaus Sombart, Journal intime 1982/83 - Rückkehr nach Berlin, Elfenbein, Berlin 2003, 213 Seiten, keine Fotos, obwohl er unentwegt fotografierte, 18 Euro ISBN 3-932245-60-1


Aufstand und Aufklärung

Wer aufgewachsen ist mit der Vorstellung, die großen französischen Salons des 17. Jahrhunderts wären so etwas wie die Wiege der weiblichen Emanzipation gewesen, hier hätten die Frauen erst einmal damit begonnen, ein paar Jahrhunderte in den eigenen Räumlichkeiten zu trainieren, bevor sie dann auf die Straße gegangen sind, um den Kampf aufzunehmen - wer solchen in der Literatur weit verbreiteten Vorstellungen anhängt, der lese Benedetta Craveris "La civilta della Conversazione". Hier tritt ihm ein anderes Bild entgegen. Der Salon zum Zeitpunkt seiner Entstehung ist für die ihn betreibenden Damen nicht ein erster Schritt in die Öffentlichkeit, sondern im Gegenteil Rückzugsort, Fluchtpunkt.

Die Damen hatten sich engagiert in der Fronde, waren den Ansprüchen der Krone zum Teil bewaffnet entgegen getreten. Der Salon ist das Gelände, auf dem sie nach der Niederlage sich mit Freunden und Freundinnen - unabhängig, wenn auch nicht unbeobachtet vom siegreichen Hofe - treffen und erst einmal die Wunden lecken und dann die Köstlichkeiten eines Lebens außerhalb der Politik entdecken. Die Diskussionen über Literatur und Philosophie, über Musik und Malerei sind erst auf diesem Hintergrund zu verstehen. Es sind Zeugnisse der Resignation und des Trotzes zugleich. Die in den Salons räsonierende Öffentlichkeit weiß um die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten, aber sie weiß auch um die Hinfälligkeit selbst der stärksten Macht. Die Damen und die Herren jener Gesellschaft haben sie am eigenen Leibe erfahren. Sie hatten sich stark genug gefühlt, dem König die Stirn zu bieten, und sie waren gescheitert. Dass sie noch am Leben und nicht wie viele ihrer Verwandten hingerichtet worden waren, hatten sie dem König, gegen den sie mit Schwertern, Lanzen und Musketen vorgegangen waren, zu verdanken.

Die Aufklärung - das macht Craveri klar - kam nach dem Aufstand. Sie beginnt als die Reflexion einer Niederlage. Die Verlierer der Machtprobe verlassen das Terrain, auf dem sie besiegt wurden, und erschaffen ein neues, auf dem ihre Erben dann siegen werden: Öffentlichkeit. Es sind die Frauen, die nicht nur den Raum schaffen, in dem sie sich entfalten kann. Sie sind es auch, die über Jahrzehnte bestimmen, worüber und - wichtiger noch - wie diskutiert wird. Im Salon hat der Fachgelehrte nichts zu sagen. Jeder Fachjargon ist verpönt. Esoterik feiert allenfalls Saisonerfolge. Auf Dauer siegt das klare Raisonnement. Es siegt leichter, wenn es mit einem Witz daher zu kommen vermag. Verständlichkeit ist kein Vorwurf, sondern ein Ideal. Die Männer kommen aus Universitäten, Laboren und Kontoren in die Salons. Hier wird ihnen beigebracht, vor den Augen eines nicht spezialisierten Publikums aufeinander zu hören, sich aufeinander zu beziehen, einander zu kritisieren.

Benedetta Craveri schildert die Salons der Montbazon, der Sable, der Grande Mademoiselle. Sie heroisiert sie nicht. Sie hat einen untrüglichen Blick für die beredten Details. Sie versteht sie zum Sprechen zu bringen. Man lese nur ihre Zusammenfassung des Briefwechsels von Madame de Sable und der Madame de Rambouillet aus dem Jahre 1632 und man begreift, dass all die großen, die Welt verändernden Vorgänge sich in kleinen Eifersüchteleien herausbildeten. Es ging nur nebenbei darum, wer den frömmsten Pater und den atheistischsten Pamphletisten zusammentreffen lassen konnte. Im Wesentlichen stritt man sich darum, wer die schönsten, attraktivsten Menschen beiderlei Geschlechts in seinem Salon hatte. Der Geist war meist ein entzückendes Beiwerk, das man sehr zu schätzen wusste, aber doch nicht ganz so sehr bewunderte wie Nacken, Oberschenkel, Busen und Haar der Gäste. Es war eine Gesellschaft, die sich - nicht immer, aber doch immer wieder und mit einiger Ausdauer - für ganze Menschen interessierte. Vielleicht musste sie auch darum in eine Revolution führen.

Benedetta Craveri, La Civilta della Conversazione, Adelphi, Milano 2001, 651 Seiten, 20 s/w Abbildungen, 31 Euro ISBN 88-459-1617-0