Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2002. In der FAZ fragt Georg Klein: War E.T. ein Männchen oder ein Weibchen? In der SZ ruft Carl Amery die Kirchen zur Bekämpfung des "totalen Marktes" auf. In der FR denkt der Historiker Klaus Naumann über die Abschaffung der Wehrpflicht nach. Die NZZ sieht Deutschland auf dem Weg von der Täter- zur Opfergesellschaft.

FAZ, 03.04.2002

Georg Klein hat sich "E.T." noch mal angesehen und wieder die entscheidende Frage gestellt: Ist es ein Männchen oder Weibchen? Steven Spielberg lässt es offen. "So sind wir vor der Leinwand wie die drei Geschwister im Film auf indirekte Hinweise angewiesen. 'Ich mag seine Füße nicht!' sagt die kluge Gertie einmal sinnierend mit Blick auf E.T.s gewaltige untere Extremitäten. Als sie den Außerirdischen probeweise mit Perücke, Fummel und Schmuck ins Weibliche travestiert (Bild), ruft Elliot, den Frevel durchschauend: 'Du darfst ihm seine Würde nicht nehmen!'"

Eleonore Büning schreibt über Daniel Barenboims Guinness-Buch-verdächtiges Wagner-Festival in Berlin: zehn Opern in zehn Tagen. Ausverkauft! Und kommt ohne einen Subventionscent aus. Die Inszenierungen von Harry Kupfer (der demnächst seinen Abschied an der Komischen Oper nimmt) kommen bei Büning aber nicht so gut weg: "Der Ringelreihen, den die Götterbrut veranstaltet vor dem Einzug in Walhall; das fleißige Beinezeigen der Rheintöchter beim Herumklettern auf der Weltesche: all das sieht aus wie laientheaterhaftes Bewegungsvokabular; es handelt sich aber um bekannte Kupfer-Chiffren für luxurierende Emotionen wie Glück, Wonne und Sex. Gretchen-Mädchen oder Puff-Mutter, dies sind die polaren Frauenbilder des Regisseurs: blond oder rothaarig."

Fania Oz-Salzberger kritisiert die Europäische Union, die ihre Vermittlungsrolle im Nahen Osten nicht wahrnimmt: "Das neu vereinte Europa hat sich nie ernsthaft mit seiner kollektiven Vergangenheit und seiner kollektiven Verantwortung für den Konflikt im Nahen Osten auseinandergesetzt. Es hat nie den öffentlichen Versuch unternommen, einem Jahrtausend jüdisch-europäischen Lebens gerecht zu werden, das heute tot und vergangen ist. Es ist nie auf die brutalen Erinnerungen eingegangen, von denen so viele Menschen im Nahen Osten heimgesucht werden, ob nun Araber oder Juden nordafrikanischer oder europäischer Herkunft. Führende europäische Intellektuelle nähern sich den komplexen Verhältnissen im Nahen Osten mit atemberaubenden Vereinfachungen: Jose Saramagos verblüffender Vergleich zwischen Ramallah und Auschwitz ist da nur das jüngste Beispiel."

Weiteres: Joseph Croitoru resümiert ein Symposion auf dem Schloss Elmau über den Islamismus. Der Didaktik-Professor Achim Leschinsky (mehr hier) befasst sich mit Reformbestrebungen an Schulen nach der Pisa-Studie. Paul Ingendaay gratuliert dem Dichter Jose Hierro zum Achtzigsten. Klaus Englert stellt die von Santiago Calatrava entworfene (und vom Erbe Gaudis inspirierte) Kunst- und Wissenschaftsstadt in Valencia vor. In seiner Kolumne "Aus der Hauptstadt" skizziert Mark Siemons soziale Veränderungen in Berlin-Mitte anhand einer Markthalle. Auf der Medienseite werden die Fernsehproduktionen "Die Hoffnung stirbt zuletzt" (ARD) und "Liebe darf alles (Sat 1) besprochen. Auf der Stilseite läst Achim Bahnen die Semana Santa in Sevilla Revue passieren, und Klaus Ungerer erinnert an den Typografen Jan Tschichold (Bilder).

Auf der letzten Seite fühlt Patrick Bahners mit Prinz Charles, der um seine Großmutter trauert. Andreas Rosenfelder stellt den "Modellversuch konsekutive Lehrerausbildung" in Bochum und Bielefeld vor. Und Christian Schwägerl und Joachim Müller-Jung besuchen den Ameisenforscher und Evolutionsbiologen Edward O. Wilson (meher hier und hier und hier) in Harvard: "Es macht ihm eine fast kindliche Freude, die Ameisen mit einem kleinen Stab zu ärgern und die Wachsoldaten zu provozieren. So hat in den Wäldern von Alabama und den Sümpfen Floridas der kleine Edward angefangen. Nun liegt in seinem Kopf ein Gehirn, das die Komplexität des biologischen Lebens erfasst und in ihr eine Heimat gefunden hat. "

Besprochen werden die Ausstellung über Madame de Pompadour im Schlossmuseum von Versailles, das Festival der religiösen Musik in Cuenca, die Telemann-Festtage in Magdeburg und die Ausstellung "Non Places" im Frankfurter Kunstverein.

NZZ, 03.04.2002

Der Riesenerfolg von Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang", die die Leiden der Vertriebenen zur Sprache bringt, ist für Harald Welzel ein deutliches Anzeichen für einen "Umbau der deutschen Erinnerungskultur: von der Täter- zur Opfergesellschaft": "Natürlich betonen die Protagonisten des Umbaus der Tätergesellschaft unisono, dass die Thematisierung deutschen Leidens keineswegs die Verbrechen mindere und das Leid der Holocaustopfer und -überlebenden relativiere. Aber genau das geschieht. Wenn alle traumatisiert sind, so die Logik dieses Diskurses, ist niemand traumatisiert. Und wer könnte noch Täter sein, wenn alle Opfer sind?" Ein Dresdner Mütterchen, das ausgebombt wurde, war also kein Opfer?

Waadih Saadah resümiert arabische Reaktionen auf das Manifest "What we are fighting for", in dem sechzig amerikanische Intellektuelle den Krieg gegen den Terror um der amerikanischen Werte willen rechtfertigten. Er geht auf Edward Saids polemische Reaktion ein (die wir bereits vor einiger Zeit in Outlook India fanden) zitiert aber auch Stimmen, die die Moslems zur Selbstbesinnung aufrufen: " Der Denker und Forscher Khalil Abdul Karim sieht ein grundlegendes Problem darin, dass die muslimische Gesellschaft sich nicht in Gegensatz zu den militanten Islamisten zu stellen wagt und sich weigert, die Zusammenhänge zwischen Islam und Terrorismus wahrzunehmen. Nur eine völlige Befreiung von erstarrten Denkmustern und Autoritäten könne die schon lang anhaltende Krise des Islam beenden."

Weiteres: Daniel Kletke bespricht die große Gerhard-Richter-Retro in New York ("Faszinierend ist und bleibt die Durchmischung reinster Malereifreuden mit den Fragen der Tagespolitik in immer wieder neuen theoretischen und maltechnischen Standpunkten."). Besprochen werden eine Ausstellung mit Günther Förgs Fotos von Israels Bauten der Moderne in Weimar, eine CD mit Werken der Komponistin Violeta Dinescu, eine Lieder-CD Christoph Pregardiens (mehr hier) mit Schubert und Schumann, Aufnahmen mit dem Dirigenten Charles Munch und einige Bücher, darunter Dick Howard Abhandlung über "Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie" (mehr hier), Ferdinand Schmatz' Roman "Portierisch" und Angelika Dörfler-Dierkens Studie "Luthertum und Demokratie" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 03.04.2002

Der Historiker Klaus Naumann macht sich Gedanken über die Wehrpflicht, die bald fallen werde. Dass der Aufbau einer Pflichtarmee in Deutschland kaum diskutiert wird, beunruhigt ihn. Um zu sehen, was auf uns zukommt, empfiehlt Naumann, sich die Entwicklung von Berufsarmeen in anderen Ländern anzusehen, z.B. bei den Amerikanern. "Insgesamt, konstatieren amerikanische Militärautoren, habe sich die Identität der Army verändert. An die Stelle des zivilen Selbstverständnisses des G.I., der gleichsam mit Blick auf die Rückkehr ins Berufsleben Dienst schiebt, sei die militärische Identität langfristig engagierter Professionals getreten, deren Berufs- und Leistungsstolz naturgemäß militärisch ausgerichtet sei. Vielleicht, resümiert Eliot Cohen seinen Befund und schließt damit wie zufällig an die deutsche Diskussionslage an, vielleicht ist der Abschied vom Bürgersoldaten (alten Typs) weniger problematisch als die fehlende Auseinandersetzung darum, was an seine Stelle tritt."

Weitere Artikel: Katrin Hillgruber porträtiert den Schriftsteller Wolfgang Hilbig, dem der Peter Huchel-Preis verliehen wird, Eckhard Henscheid widmet sich in seiner Kolumne den Olympischen Spielen, und Sabine Heinlein beschreibt die Memorials, mit denen New York sich und die Welt an den 11. September erinnert: "Oft widersprüchlich und manchmal unheimlich ehrlich reiht sich pathetisches Erwachsenenhandwerk an Kindergartenbasteleien. Flaggen, deren Streifen mit blutroten Kinderhandabdrücken dargestellt sind - das Gemeinschaftswerk einer New Yorker Vorschulklasse. Daneben Bekenntnisse, die bei den anonymen Alkoholikern vielleicht besser aufgehoben wären als im Grand Central Terminal: Sergeant Harry, Sie haben mein Leben wieder lebenswert gemacht. Ich habe aufgehört zu trinken!"

Besprochen werden Wang Xiaoshuais Film "Beijing Bicycle", Detlev Glanerts Oper "Joseph Süß" in Heidelberg, Lasse Halströms Film "Schiffsmeldungen", Rares und Philharmonisches in Wien und Salzburg, Spielbergs "E.T.", der neu bearbeitet wieder in die Kinos kommt und eine Ausstellung über "Jan van Eyck und seine Zeit" im Groeninge-Museum in Brügge.

TAZ, 03.04.2002

Im Interview erzählt der Galerist Jack Persekian, warum er aus den USA nach Jerusalem gegangen ist, um mit seiner Galerie Anadiel palästinensische Künstler zu unterstützen: "Ich dachte, wenn so viele Leute zurückkommen, gibt es vielleicht einen Markt für Kunst. Aber das stimmt nicht, es hat nie einen Markt gegeben. Aber ich war inzwischen so stark in die Sache involviert, dass ich weitermachen musste. Ab einem bestimmten Punkt war das wichtiger als ich selbst. Die Arbeit nur wegen des Geldes aufgeben? Was bin ich dann wert? Ich bleibe bei dem, was ich angefangen habe. Vielleicht bin ich ja einfach zu faul, auch zu faul, das Land zu verlassen."

Eine Auswahl von Arbeiten der von Persekian vertretenen Künstler ist zur Zeit in der Berliner ifa-Galerie zu sehen, berichtet Silke Lode.

Weitere Artikel: Björn Döring porträtiert die Musikerin Susheela Raman, die südindische Tradition mit dem Willen zum Pop verbinden. Der Schriftsteller Frank Witzel kritisiert die Aut-Idem-Regel, nach der es Apotheken künftig erlaubt ist, ein vom Arzt verschriebenes Medikament durch eins mit demselben Wirkstoff zu ersetzen. Besprochen wird die Videoausstellung "Private Affairs" im Kunst Haus Dresden.

Schließlich Tom.

SZ, 03.04.2002

In der Debatte um die Modernität der Kirchen meldet sich mit Carl Amery der erste Katholik zu Wort und macht den "zentralen Sorgenpunkt der Kirchen" an einem Wort fest: TINA. TINA steht für "There is no alternative" und bezeichnet frei nach Walter Benjamin den "Totalen Markt". "Solange die TINA-Formel anerkannt wird und solange der Markt seine Seelsorge unbekümmert betreiben kann, sollen die Kirchen ruhig als Teil des Kulturbetriebs weiterwursteln. Und der Markt kann davon ausgehen, dass weniger schwierige, mit stärkeren Drogen angereicherte Kulte die alten Traditionen überflügeln und überflüssig machen werden." Die Kirche, so Amery, habe die Aufgabe, "die entscheidende Blindheit des fundamentalistischen Marktes" aufzudecken und nicht nur vor ihm zu warnen, sondern ihn zu bekämpfen.

Joachim Riedl berichtet von einem Comic-Band Gerhard Haderers, der die katholische Kirche in Österreich auf die Palme bringt. Haderer hat seine Version des Leben Jesu aufgezeichnet: "Kein blutschwitzender, gegeißelter, dornengekrönter und gekreuzigter Schmerzensmann tritt auf, sondern ein weihrauchverklärter Sonderling, dessen Wunder sich der berauschenden Kraft süßlicher Räucherkesselschwaden verdanken." Seitdem empören sich der Bischof von Wien und andere geistliche Würdenträger in Österreich, unterstützt von der Presse, gewaltig über dieses "Machwerk", denn, so der Salzburger Bischof Andreas Laun: "Über das Heilige lacht man nicht." Das hat Amery hoffentlich nicht gemeint.

Weitere Artikel: Es gibt zwei Interviews, eins mit der griechische Komponistin Eleni Karaindrou (mehr hier), die nach zwei Aufführungen der "Troerinnen" des Euripides eine "Music for Trojan Women" komponiert hat, und eins mit dem schwedischen Autor Per Olov Enquist (mehr hier), der darüber nachdenkt, warum historische Romane immer populärer werden. Navid Kermani erzählt vom letzten Teil seiner Reise in die Verwirrung, die in Jerusalem endet. Andreas Bock berichtet über ein Kolloquium in Elmau zum Thema "Die islamische Moderne als politische Theologie?", in der Reihe "Museumsinseln" stellt Julia Encke das elektropathologische Museum in Wien vor, "ein 'Pannenmuseum' im besten Sinn, ein Unfallkabinett, das nicht die Errungenschaften der Elektrizität, sondern - vom Blitzschlag über den Störlichtbogen zum elektrischen Trauma - ihre Gefahren ausstellt." Und lmue berichtet von einem Aufruf, in dem Autoren wie Durs Grünbein, Herta Müller, Adolf Muschg und Oskar Pastior gegen die Etatkürzung für das Literaturhaus in der Fasanenstraße protestieren.

Auf der Medienseite berichten Hans-Jürgen Jakobs und Klaus Ott über den schwierigen Versuch der Banken, mit Murdoch und Berlusconi eine sanfte Rettung für Kirch zu finden.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Totenporträts aus vier Jahrhunderten im Pariser Musee d?Orsay, die CD "Plastic Fang" von Jon Spencer, Choreografien von Balanchine, Tetley und Robbins, getanzt vom Stuttgarter Ballett, und Bücher, darunter Gregor Hens' Debütroman "Himmelssturz" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Weiter gibt es eine Reihe von Kurzkritiken zu CDs von Bryan Ferry, Faust, Jaguar Wright, Thomas Brinkmann, Nick Cave (der Let it be aufgenommen hat), eine Compilation des Labels Chisel Records und Beatles-Songs, aufgenommen von afroamerikanischen Musikern.