9punkt - Die Debattenrundschau

Der Umschwung im Bewusstsein zählt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2014. In der FAZ fragt Mykola Rjabtschuk, welche Rolle der russische Geheimdienst in Kiew spielt. Und: Wer beauftragte die Scharfschützen zu schießen? In der Welt meint Arkadi Babtschenko: Die Revolution in der Ukraine hat schon lange gesiegt. Im Guardian stellt Julian Barnes klar: Der Grad unserer Freiheit erweist sich nicht an den unbescholtenen Bürgern. Auch Edward Snowden schreib zum achtzigährigen Bestehen von Liberty. In der FR sieht Angelo Bolaffi keinen Zusammenhang zwischen deutscher Austeritätspolitik und antieuropäischen Ressentiments
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.02.2014 finden Sie hier

Europa

Der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk hofft im Interview mit Sandra Kegel sehr auf jetzt gefundene Einingung zwischen Janukowitsch und der Opposition. Gefährlich findet er allerdings die obskure Rolle, die der russische Geheimdienst bei den Geschehnissen in der Ukraine spielt: "Die Russen werden kaum mit Panzern in Kiew einfallen. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass es zu verdeckten Aktionen kommen könnte, die beide Seiten provozieren, die Regierung und die Opposition. Da sind zuletzt seltsame Dinge passiert. Wir wissen zum Beispiel immer noch nicht, wer die Scharfschützen beauftragt hat zu schießen. Es gibt Videos, die zeigen, dass dieselben Scharfschützen sowohl die Polizisten als auch die Demonstranten beschossen haben. Das ist beunruhigend."

In der Welt berichtet der russische Schriftsteller Arkadi Babtschenko im Interview mit Paulus Wagner von seinen Erlebnissen auf dem Maidan. Auf die Frage, ob sich in der Auseinandersetzung entscheide, ob die Ukraine ein Teil Europas werden könne, sagt er: "Die Ukraine ist bereits Teil Europas. Die Revolution ist bereits geschehen, und zwar nicht auf den Barrikaden, sondern in den Köpfen. Das ist viel wichtiger. Die Ukraine hat ihre Wahl längst getroffen. Ob Janukowitsch dieses Jahr abtritt oder nächstes, ob er selbst geht oder ob man ihn in Handschellen abführt - das ist schon nicht mehr von Bedeutung. Der Umschwung im Bewusstsein zählt."

Über die Lage in Lemberg, wo die staatliche Verwaltung zusammengebrochen ist, berichtet der Bürgerrechtler Alik Olisewitsch im Interview mit Thomas Gerlach in der taz. Eine Spaltung des Landes will die Opposition aber eben nicht, im Gegensatz zu den Kräften im Osten: "Nach dem Motto: Wenn ihr das in Kiew nicht in den Griff bekommt, dann machen wir unseren eigenen Staat, und Charkow wird ukrainische Hauptstadt, wie in den 20er Jahren. Diese Funktionäre wollen einfach nicht, dass es im Osten so liberal zugeht wie in Lemberg. Sie wollen es so wie in Russland haben und verstehen nicht, dass die Menschen darauf keine Lust haben. Wir wollen nicht in einem großen Gulag leben."

Der italienische Politologe Angelo Bolaffi, der mit seinem Buch "Deutsches Herz für eine deutsche Führungsrolle in Europa plädierte, erklärt im Interview mit Arno Widmann in der FR, dass Europa nicht an dem kleinen Griechenland oder an Zypern kaputtgehen kann, wohl aber an einem Italien in der Krise. "Es heißt jetzt oft, die Merkelsche Austeritätspolitik treibe die Wähler den europafeindlichen Parteien zu. Ich glaube das nicht. Erstens gibt es Europafeindschaft in Ländern, die von der Krise kaum etwas mitbekommen: Finnland, Holland, Österreich etwa. Zweitens: Antieuropäische Stimmungen gab es schon vor der Krise. Marine LePen wird ebenso viele Stimmen bekommen, wie sie ihr Vater Jean-Marie LePen bekam. Die Lega Nord hatte 1992 zehn Prozent der Stimmen. Da wird sich nicht viel dran ändern."
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Kulturpolitik

Trotz aller Sympathie gibt Harald Jähner der Berliner Initiative Offenes Schloss, die einen Verzicht auf den modernen Ostflügel beim Schlossbau fordert, wenig Chancen: "Die Berliner haben offenbar Mitleid mit ihrer Stadt. Eine weitere Baustelle, auf der es nicht vorangeht, braucht die Stadt derzeit nicht. Sie sehnt sich nach Ruhe an der Baufront, nach geordneten Abläufen und eingehaltenen Kostenplänen. Ja, wenn der Flughafen und die Oper nicht wären! Seit gestern ist es für die Kritiker des Ostflügels noch schwerer geworden, Mitstreiter und Sponsoren zu finden, seit nämlich bekannt wurde, dass der geplante Testlauf für Schönefeld gestrichen wird und auf der Endlosbaustelle Staatsoper die Ingenieurfirma Scholze ausfällt. Nun soll ausgerechnet der brave Schlossbau in letzter Minute mit ästhetischen und stadtplanerischen Bedenken gestört werden?
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Stichwörter: Berlin, Berliner Stadtschloss

Politik

Jörn Schulz findet in der linksradikalen Fraktion der "Antideutschen" mit ihrem oft leicht hysterischen Gebaren und ihrem dubiosen, einst eher DDR-treuen Mentor Hermann Gremliza auch vernünftige Züge, wie er in der Jüdischen Allgemeinen schreibt: "Man muss Staat und Kapital nicht lieben, um den 'bürgerlichen' Rechtsstaat der Diktatur vorzuziehen. Es gibt daher keinen Anlass, antiwestliche Diktatoren zu unterstützen. Westliche Interventionen gegen rechtsextreme Terrorgruppen wie Al Qaida sind nicht allein deshalb falsch, weil sie westliche Interventionen sind. Und nicht zuletzt: Israel hat ein Recht auf Existenz und Selbstverteidigung."
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Stichwörter: Antideutsche, Rechtsstaat

Medien

Die Meldung, dass SZ, NDR und WDR einen Recherchepool gründen, der von Georg Mascolo geleitet werden soll, ist bisher eher mit frommem Augenaufschlag begrüßt worden - aber ist das Konstukt nicht ein bisschen problematisch?, fragt sich Petra Sorge in Cicero.de, die von einem "öffentlich-rechtlich-privaten Recherche-Multi" spricht: "SZ-Mann Wolfgang Krach weist den Vorwurf weit von sich: 'Wir erhalten kein Geld vom NDR und der auch nicht von uns.' Weder gebe es einen gemeinsamen Etat noch sei dieser notwendig, wenn man sich besser vernetzen wolle, sagt auch NDR-Sprecher Martin Gartzke. Was beide nicht sagen: Die Süddeutsche profitiert natürlich auch von nicht-monetären Vorteilen - etwa Recherchekapazitäten oder dem Zugriff auf den öffentlich-rechtlichen Korrespondentenpool." Und Mascolo erhält laut Sorge zwei Pauschalen, eine vom NDR und eine von der SZ.
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Überwachung

Im Guardian feiern Schriftsteller wie Ian McEwan, Hari Kunzru und Deborah Levy das achtzigjährige Bestehen der britischen NGO Liberty. Auch Edward Snowden schickt ein paar Zeilen: "Heute kann kein normaler Mensch mehr telefonieren, einem Freund eine E-Mail schreiben oder ein Buch bestellen, ohne dass über seine Aktivitäten Aufzeichnungen erstellt werden, archiviert und analysiert von Leuten, die befugt sind, einen ins Gefängnis zu stecken oder Schlimmeres. Ich weiß das, ich saß an diesem Schreibtisch. Ich habe die Namen eingegeben."

Und Julian Barnes warnt, Freiheit ist sehr wohl teilbar. Wir erleben es jeden Tag: "Sobald ein Politiker behauptet, dass anständige, gesetzestreue Bürger von einer bestimmten Maßnahme nichts zu befürchten haben, können wir sicher sein, dass gerade jemand einen kleineren oder größeren Teil seiner Freiheit veriert."

Der Bremer Kommunikationswissenschaftler Friedrich Krotz hält in der taz fest, dass die Internetkonzerne und Geheimdienste inzwischen mehr über uns wissen als wir selbst: "Was derartige kontinuierliche Beobachtungsstrategien in der Psyche von Menschen anrichten können, wenn sie bekannt sind, haben theoretisch der französische Philosoph Michel Foucault und empirisch die Sozialpsychologie gezeigt - vielleicht ist das auch einer der Gründe, dass viele das nicht wahrhaben wollen. Man passt sich an und kontrolliert sich vorauseilend selbst. Ein Verharmlosen ist da ebenso gefährlich wie der Rückzug auf eine ignorante Ungestörtheit."
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