Wo wir nicht sind

Die Kunst der sanften Beschwichtigung

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
23.05.2022. Wole Soyinka, der Titan der afrikanischen Literatur, legt nach dreißig Jahren wieder einen Roman vor: "Die glücklichsten Menschen der Welt" ist eine beißende, unbändige Satire auf Nigerias selbstsüchtige Eliten, religiöse Scharlatanerie und pompöse Impotenz.
Für Wole Soyinka war das Wort immer eine Waffe, die beißende Lyrik das Mittel der Konfrontation. Schon sein frühes Drama "A Dance for the Forest", das er für die Unabhängigkeitsfeiern Nigerias 1960 schrieb, wurde nicht aufgeführt, weil es der noch unsouveränen Kulturbürokratie zu subversiv erschien. Soyinka sah sich stets dem Yoruba-Gott Ogun verbunden, der in sich zwei Kräfte vereint, die selten zusammen gedacht werden: das Kriegerische und das Kreative. Tatsächlich verlangen beide eine gewisse Unbezwingbarkeit, innere Stärke und Hingabe, ein Selbstbewusstsein, das an Selbstherrlichkeit grenzt.

Der 1934 geborene Wole Soyinka, der Titan der afrikanischen Literatur, hat Zeit seines Lebens gegen Nigerias Militärmachthaber gekämpft. Die Militärs, die von 1966 an das Land in ihrer Gewalt hielten, kamen an ihm nicht vorbei, erst recht nicht, als er 1986 den Literaturnobelpreis erhielt, als erster afrikanischer Schriftsteller. Sie haben ihn umworben, ins Gefängnis geworfen und ins Exil getrieben. Lebenslang Feindschaft verband ihn mit Sana Abacha, der 1995 den Ogoni-Menschenrechtler Ken Saro-Wiwa und acht Gefährten hinrichten und später Soyinka selbst in Abwesenheit zum Tode verurteilen ließ. Aber Soyinka hat auch mit einigen Diktatoren zu Abend gegessen. Mit Olusegun Obasanjo verband ihn unverbrüchliche Freundschaft, obwohl der ihn nach seinem Biafra-Abenteuer für zwei Jahre ins Gefängnis steckte.

Soyinka ist in erster Linie Lyriker und Dramatiker, neben zahllosen Gedichten, Essays und Theaterstücken hat er auch etliche autobiografische Bände vorgelegt. Seine schönen Kindheitserinnerungen "Aké" sind als einziger Band noch lieferbar. Völlig verschwunden sind Aufzeichnungen aus dem Gefängnis "Der Mann ist tot" oder die politischen Memoiren "Brich auf in früher Dämmerung", die einen mitten hinein in die existenziellen Kämpfe des unabhängigen Nigerias werfen, sie bersten vor politischer Leidenschaft und dem Glauben an die eigene Gestaltungskraft. Nun legt Soyinka, mittlerweile 88 Jahre alt, nach dreißig Jahren noch einen Roman vor, es ist überhaupt erst sein dritter. "Die Glücklichsten Menschen der Welt" ist, wie der Titel ahnen lässt, eine scharfe Satire auf das heutige Nigeria. Es ist ein unbändiges Buch, scharfsinnig und beißend, aber auch überbordend und unmäßig.

Der Roman führt uns in ein Land, das sich den Neid aller Nachbarn zugezogen hat, die nur darauf bedacht sind, dieser Nation die Krone des Glücks zu entreißen. Es gibt sogar ein Ministerium für Glückseligkeit, das von der Gattin eines Gouverneurs geführt wird, dessen armer Bundesstaat mit Fantasie wettmachen muss, was ihm an materiellem Reichtum mangelt. Doch vor allem verdankt das Land seine Besonderheit drei fundamentalen Stützen aus Religion, Politik und Medien. Es sind drei fantastische Figuren, die Soyinka zu Beginn seines Romans einführt.

Zunächst wäre da Papa Davina, der als Führer der Ekumenika Ltd. hoch über Lagos im "Hort des Propheten" thront. Für eine Audienz in Papa Davinas prächtigem Palast müssen sich die Gläubigen des Chrislam über eine gewaltige Müllhalde hinaufquälen, die ihnen als Berg der Erkenntnis gilt. Papa Davina ist ein herrlicher Scharlatan, Religionsführer von ausgekochtem Pragmatismus: "Wunder waren gut und schön, aber selbst wenn man aus einem Felsen Wasser schlagen konnte, so musste der Fels doch erst beschafft werden; und das bedeutete Geld." Als junger Student in England war er von der Universität geflogen, zurück in Nigeria verdingte er sich als Schauspieler in Callywood und als Internetgauner der Yahoo-Yahoo-Bruderschaft, landete er beim Versuch, in die USA einzuwandern, ein halbes Jahr in Abschiebehaft und kehrte schließlich über Liberia, Senegal und Ghana wieder zurück. Die elf Jahre in der Fremde hatten ihn gelehrt, wie man Spiritualität kreativ verpackt und gewinnbringend verkauft, doch im Norden Nigerias, wo sich die Gouverneure Aufständische, Räuberbanden und Boko Haram vom Leib halten müssen, schulte er sich in der Kunst der sanften Beschwichtigung: "Speise mit dem Teufel an einer reich bestückten Tafel und halte Päckchen zum Mitnehmen bereit, gut mit Millionen gefüllt."

Die zweite Säule nigerianischer Herrlichkeit ist Chief Modu Udensi Oromotaya, wegen seiner Vorliebe für deutsche Luxuswagen auch einfach Chief Benzy genannt. Er ist Herausgeber des National Inquirer und ein ebenso eitler und ausgebuffter Geschäftsmann wie Papa Davina. Er veranstaltet Jahr für Jahr das Festival "Die Wahl des Volkes", ein grandioses Spektakel, bei dem die Yeomen of the Year (eine Art verdiente Unterlinge) gewählt werden und zu dem die erwartungsfrohen Anwärter mit einem Gefolge aus Ehefrauen, Günstlingen und Reiterakrobaten anreisen. Den People's Award for Common Touch (Pact) vegibt Chief Benzy persönlich, meist jedoch in Absprache mit dem Premierminister, der Preis ist ein Faustpfand in allen politischen Verhandlungen.

Sir Godfrey Danfere gibt als Premier die dritte Stütze des nationalen Erfolgsmodells, er hat so lange die Parteien gewechselt und neu gegründet, bis ihn eine zum Regierungschef machte. Nun regiert er mit Hilfe der People on the Move Party, der POMP. Politische Schurkereien beherrscht er einwandfrei, doch mit dem cleveren Labeling tut er sich schwer. Weil der Titel "Diener des Volkes" schon vergeben war, lässt er sich jetzt als "Heger des Volkes" anreden. So zumindest übersetzt Inge Uffelmann vielleicht etwas ungelenker als gemeint das englische "The People's Steward". Soyinka widmet der Beschreibung von Sir Goddies Hofstaat wunderbare Passagen: Eine ganze Seite verwendet er darauf, den Moment des Zögerns zu beschreiben, bevor der Sonderberater des Premiers es wagt, an dessen Tür zu klopfen, eine genauestens austarierte Gratwanderung aus Entschlusskraft und Ehrerbietung.

Sir Goddie interessiert sich für genau zwei Dinge: Kolanüsse aus dem Plateau State und die Firma Brand of the Land. Die gehört allerdings dem aufrechten Ingenieur und Unternehmer Duyole Pitan-Payne, einem außergewöhnlichen Spross der Kolonialaristokratie von Lagos, ein unabhängiger Geist, aus eigener Kraft erfolgreich, hochgradig kultiviert und anständig. Er soll Botschafter bei den Vereinten Nationen werden, doch bevor er das Land verlässt, setzt Sir Goddie alles daran, ihm die Firma abzujagen. Duyole ist einer der beiden großen moralischen Gegenspieler des herrschenden Triumvirats. Der andere ist sein alter Freund, der hochgeachtete Chirurg Kighare Menka, der im Norden in seiner Heimatstadt Gumchi in der Nähe von Abuja lebt. Die zarten Ziernarben im Gesicht markieren ihn in den Augen der weltläufigen Südnigerianer als Hinterwäldler, doch er hat außer seinem medizinischen Eid auch geschworen, in Gumchi ein erstklassiges medizinisches Zentrum zu errichten, um die Opfer fundamentalistischer Gewalt zu behandeln. Komme, was da wolle: Militärputsch, Staatszerfall oder Bankrott. Kighare ist Idealist und das moralische Zentrum des Romans.

Mit Kighares Erscheinen wechselt der Roman seine Stoßrichtung. Wir begegnen dem Arzt im vornehmen Club des Hilltop Manor, in dem kolonialer Prunk und englische Nobilität in schönster Hassliebe gepflegt werden. "Manners maketh man", prangt über seinen Pforten. Der Club hat sich versammelt, um Kighare zu ehren, der gerade mit dem Pre-Eminence Award ausgezeichnet wurde. Doch Kighare verweigert sich. Denn zusammen mit der höchsten nationalen Ehre wurde ihm von einem Trio sinistrer Geschäftsleute ein ungeheurer Vorschlag angetragen: Einzusteigen in ihren Handel mit menschlichen Körperteilen. Sie glauben, Kighare in der Hand zu haben, weil er als junger Arzt einem Mann den Arm abnahm, nachdem ihn ein Scharia-Gericht für den Diebstahl einer Ziege verurteilt hatte. Das "Management humaner Ressourcen" hat sich seitdem professionalisiert. Die skrupellosen Unternehmer verstehen es, aus dem Terror Kapital zu schlagen, mit dem Boko Haram den Norden überzieht: Sie verkaufen die menschliche Überreste an Anhänger obskurer Rituale: "Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, im Zuge einer geführten Tour, alles ganz geschäftsmäßig. Die Ware lag ausgebreitet da. Regalbrett um Regalbrett voll mit abgepackten Körperteilen - Schenkel, Fußknöchel, Nacken, Brüste, Finger, Gibbusgewebe, alles bestens konserviert. Föten und Geschlechtsorgane." Besonders begehrt sind Köpfe.

Mit dieser makabren Wendung wandelt sich der Roman von der bissigen Satire zu einem irritierend mehrdeutigen Gebilde, einem Mix aus schwarzer Komödie, schriller Groteske und moralischem Aufstand: Ist der monströse Handel mit Menschenfleisch nur eine Metapher? Als Kighare und Duyole ihm auf die Spur kommen, müssen sie dafür zahlen. Dem Chirurgen Kighare wird das Haus abgefackelt, er kann nach Lagos fliehen, doch Duyole wird getötet. Seine Familie möchte ihn in einem undurchschaubaren Komplott in Salzburg beerdigen lassen. Seiner Witwe bleibt immerhin die berüchtigte Hexenprüfung erspart, ihre Unschuld beweisen zu müssen. Dafür hätte sie die Leiche ihres Mannes waschen müssen, und das Wasser der Leichenwaschung trinken: Wenn sie es erbricht, wäre sie als Mörderin überführt.

Zwischen Ausbrüchen wahnwitziger Übertreibung und greller Hysterie schaltet Soyinka Passagen ganz unironischer Empörung. Die zahllosen Anspielungen dürften nur für diejenigen durchschaubar sein, die sich in der nigerianischen Geschichte und Literatur gut auskennen. Das spricht in keiner Weise gegen den Roman. In einigen Personen werden seine frühere Mitstreiter und Freunde Dele Giwa, Bola Ige und Femi Johnson erkennbar, denen das Buch gewidmet ist. Ein wenig unübersichtlich wird es dadurch, dass aufwändig eingeführte Figuren wie Papa Davina, Sir Goddie und Chief Benzy für lange Zeit aus der Erzählung verschwinden, um erst wieder ganz zum Schluss aufzutauchen. Frauen spielen allerdings überhaupt keine Rolle. Manche Passagen strahlen vor stilistischer Brillanz, dann reihen sich elegante Satzgirlanden aneinander und verbinden feinsinnige Ironie mit galligem Humor, von Uffelmann meist sehr schön ins Deutsche übertragen. Soyinka ist allerdings kein ökonomischer Erzähler, er schwelgt auch ganz gern in seiner an dere englischen Literatur geschulten Wortkunst.

Doch so unausgewogen der Roman zum Teil auch sein mag, sein Furor gegen selbstsüchtige Eliten, gegen ihre Indifferenz und pompöse Impotenz ist überwältigend. Der zornige Wole Soyinka begehrt mit diesem Roman noch einmal auf gegen die mächtigen und reichen Dynastien, die sich das Land zur Beute machen und die Kinder der Revolution verschlingen.

Wole Soyinka: Die glücklichsten Menschen der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Inge Uffelmann. Blessing Verlag, München 2022, 650 Seiten, 24 Euro. (Bestellen)