Gerhard Neumann

Selbstversuch

Cover: Selbstversuch
Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2018
ISBN 9783793099017
Kartoniert, 386 Seiten, 58,00 EUR

Klappentext

"Schwarmstruktur" nennt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Gerhard Neumann das an musikalische Gepflogenheiten erinnernde Verfahren seines autobiografischen Selbstversuchs: Immer wieder werden Themen und Ereignisse erneut aufgegriffen und in anderen Kontexten innovativ variierend verdichtet. Dazu zählen Flucht und Erinnerung, die Funktionen der im Blick auf Aristoteles gesehenen Metapher, Kultur, Ritual, deren Theorie und Lebenswirklichkeit. Ein Schlüsselereignis für Neumann ist die frühe Kränkung durch Paul Celan, die dazu führte, dass er, der als Fahrer der folgenreichen Begegnung Celans mit Heidegger 'stummer Zeuge' während der Autofahrt nach Todtnauberg war, fünfzig Jahre über dieses Ereignis und seine Folgen geschwiegen hat. Wenige Tage vor seinem Tod Ende 2017 konnte Gerhard Neumann seinen Selbstversuch abschließen.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 11.04.2019

Einer der wichtigsten Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit, so Hans-Peter Kunisch, scheint hier in einem nachgelassenen Lebensessay für eine fast Derrida'sche "Dekonstruktion" sorgen zu wollen, sein Leben und dessen "gediegene Form" als "Bastelei" zu entlarven. Dazu stellt er verschiedenste Materialien wie Familienfotos und Briefe, kindliche Schulaufsätze und "komplexe Gedanken" gleichwertig nebeneinander und interpretiert sie - und damit sein Leben. Im Zentrum steht allerdings, so der Rezensent, die gescheiterte Freundschaft zu Paul Celan. Den hatte Neumann, so berichtet uns Kunisch, in Paris kennengelernt, hatte seine Vorlesungen in Freiburg organisiert und ihn zum Treffen mit Heidegger gefahren. In einem Aufsatz von 1970 verglich Neumann dann das Gedicht eines Celan'schen Jugendfreundes, in dem schon von "Gräbern in der Luft" und dem Tod als "Meister aus Deutschland" die Rede gewesen war, mit Celans 'Todesfuge'. Dies galt Paul Celan nach der Goll-Affäre als weiterer unerträglicher Angriff und er brach jeden Kontakt mit Neumann ab. Kunisch empfindet die hier vorgelegte Interpretation, Celan habe auch bei ihm, Neumann, auf ein Antisemitismus-Eingeständnis gewartet, als "Provokation" - aber er scheint ihr eine gewisse Berechtigung nicht absprechen zu wollen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 11.12.2018

Helmut Böttiger ist enttäuscht von diesem "Selbstversuch": Noch immer hat er die "samtene" Stimme des 2017 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Gerhard Neumann im Ohr, den er nicht zuletzt für seine Kafka- und Kleistinterpretationen schätzte. Gern folgt er auch dessen Ausführungen zu Kindheit und Jugend im tschechoslowakischen Brünn, zum Studium in Freiburg und zu Aufenthalten in Paris und freut sich besonders über jene Passagen, in denen Neumann sehr persönlich seinen Umgang mit Lektüren schildert. Bald aber muss der Kritiker feststellen, wie wenig der Autor nicht nur auf die Rolle seines Vaters während des Nationalsozialismus eingeht und darüber hinaus das Schicksal der von den durch die Tschechen vertriebenen Deutschen mit jenem der von den Nazis verfolgten Emigranten gleichsetzt, sondern auch, wie unsouverän Neumann über seine Beziehung zu Paul Celan schreibt: Neumann hatte in seinem Aufsatz über die "absolute Metapher" Celan mit Stephan Mallarmé verglichen, worauf Celan den Kontakt zu Neumann abbrach, erinnert Böttiger. Wenn Neumann nun Celans Gedicht "Todtnauberg", in dem er als Fahrer Celans bei einem Besuch Heideggers selbst auftaucht, sehr "persönlich" deutet, Celan zudem unterstellt, dessen "poetologische Kommunikationsstrategie" sei generell darauf ausgerichtet gewesen, "dem Kommunikationspartner, als dem Schuldigen, das Geständnis, die Äußerung dieser Schuld, abzupressen", vermisst Böttiger das sonst für Neumann typische "Zweifelnde, Suchende" und entdeckt stattdessen nur Rachegelüste und "aggressive Verdrängung".
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