Vorgeblättert

Leseprobe zu Alaa al-Aswani: Der Jakubijan-Bau. Teil 3

18.01.2007.
Im Jahre 1934 beschloss Hagop Jakubijan, Millionär und damals Oberhaupt der armenischen Gemeinschaft in Ägypten, ein grosses Wohnhaus zu errichten, das seinen Namen tragen sollte. Er wählte dafür die beste Stelle in der Sulaiman-Pascha-Strasse und beauftragte mit dem Bau ein bekanntes italienisches Architekturbüro, das ihm einen überzeugenden Plan vorlegte: zehn eindrucksvolle Ge-schosse im prächtigen klassisch-europäischen Stil: Balkone, geschmückt mit steingehauenen griechischen Gesichtern, Säulen, Treppen und Gänge in naturbelassenem Marmor, ausserdem das neueste Modell eines Schindler-Aufzugs. Die Bauarbeiten dauerten zwei volle Jahre, doch das Ergebnis war ein architektonisches Juwel, das in einem solchen Ausmass alle Erwartungen übertraf, dass der Bauherr den italienischen Architekten bat, innen über die Tür in grossen, bei Nacht mit Neonlicht erleuchteten lateinischen Lettern seinen Namen "Jakubijan" einzugravieren. Es war, als wollte er sich und seine Besitzerschaft an dem grossartigen Bauwerk verewigen.
     Im Jakubijan-Bau lebte in der Folgezeit die Creme der ägyptischen Gesellschaft. Minister und landbesitzende Paschas, ausländische Industrielle und zwei jüdische Millionäre, deren einer zu der berühmten Familie Mossiri gehörte. Das Erdgeschoss war zweigeteilt. Auf der Rückseite des Gebäudes befand sich eine geräumige Garage mit verschiedenen Türen, wo die Bewohner ihre Autos einstellten, die meisten prunkvolle Edelkarossen mit Namen wie Rolls-Royce, Buick oder Chevrolet, auf der Vorderseite eine grosse dreieckige Halle, die dem Hauseigentümer als Ausstellungsraum für die Silberwaren aus seinen Werkstätten diente. Diese Nutzung florierte vier Jahrzehnte lang, dann ging es nach und nach bergab mit dem Raum, und schliesslich übernahm ihn jüngst Hagg Muhammad Asam und machte daraus ein Konfektionsgeschäft. Auf dem weitläufigen Dach des Gebäudes waren zwei Räume samt sanitären Einrichtungen für den Portier und seine Familie bestimmt. Auf der anderen Dachseite baute man fünfzig Kammern - je eine pro Wohnung und jede zwei Meter im Quadrat, mit Wänden und Türen aus solidem Eisen. Sie waren mit Vorhängeschlössern gesichert, deren Schlüssel den Wohnungsinhabern ausgehändigt wurden. Diese Kammern dienten ursprünglich unterschiedlichen Zwecken. In manchen wurden Nahrungsmittel aufbewahrt, in andere nachts Hunde gesperrt, wenn diese gross und bösartig waren, in wieder anderen wusch man Wäsche, eine Tätigkeit, die damals - vor der Verbreitung elektrischer Waschmaschinen - durch professionelle Waschfrauen besorgt wurde. Sie wuschen die Wäsche in jenen Kammern und hängten sie danach an langen, über das Dach gespannten Wäscheleinen auf. Zur Unterbringung von Domestiken wurden diese Eisenkammern zunächst nicht verwendet, vielleicht weil die damaligen Bewohner des Hauses Aristokraten und Ausländer waren, denen es nicht einfiel, ein menschliches Wesen in einem derartig engen Raum schlafen zu lassen. Sie pflegten in ihren weitläufigen, prächtigen Wohnungen, die manchmal acht oder zehn Zimmer auf zwei durch eine innere Treppe miteinander verbundenen Etagen umfassten, ein Zimmer für das Dienstpersonal abzuzweigen.
     Mit der Revolution vom Jahre 1952 änderte sich alles. Juden und Ausländer verliessen nach und nach Ägypten, und jede Wohnung, die durch die Abwanderung ihres Inhabers frei wurde, riss sich einer dieser Offiziere der Streitkräfte unter den Nagel, die zu jener Zeit die eigentlichen Machthaber waren. So war in den sechziger Jahren das halbe Haus von Offizieren unterschiedlicher Dienstgrade bewohnt, vom frischverheirateten einfachen Leutnant oder Hauptmann bis hinauf zum General. Sie alle zogen mit ihren vielköpfigen Familien in das Gebäude. General al-Dakruri, dem Chef des Präsidialamtes unter Muhammad Nagib*), gelang es gar, zwei grosse, nebeneinanderliegende Wohnungen im zehnten Stock zu erwerben, deren eine er mit seiner Familie bewohnte, deren andere er als Privatbüro brauchte, wo er am Nachmittag Bittsteller empfing.
     Die Ehefrauen der Offiziere benutzten die Eisenkammern auf neue, unterschiedliche Weisen. Zum erstenmal wurden Hausangestellte darin untergebracht, Köche oder die jungen
Dienstmädchen, die man vom Dorf für die Haushalte der Offiziere holte. Manche dieser Ehefrauen stammten aus sehr einfachen Verhältnissen und fanden nichts dabei, dort Kleintiere wie Kaninchen, Enten oder Hühner zu halten. In den Kommunalarchiven von Westkairo sind zahlreiche Klagen alteingesessener Hausbewohner gegen das Halten von Tieren auf dem Dach dokumentiert. Doch wurden solche Klagen, aufgrund der Stellung der Offiziere, nicht weiterverfolgt, bis sich die Bewohner schliesslich direkt an General al-Dakruri wandten, der mittels seines Einflusses bei den Offizieren erreichte, dass man diesem unhygienischen Treiben ein Ende setzte. Die siebziger Jahre sahen dann die Zeit der Liberalisierung, der wirtschaftlichen Öffnung. Die Reichen begannen die Innenstadt zu verlassen und nach al-Muhandassin oder nach Nasr-City zu ziehen. Einige verkauften ihre Wohnungen im Jakubijan-Bau, andere wandelten sie in Büros oder Praxen für ihre Söhne um, die gerade ihr Studium abgeschlossen hatten, oder sie vermieteten sie möbliert an arabische Touristen vom Golf. Dadurch löste sich nach und nach die Beziehung zwischen den Eisenkammern und den Wohnungen. Die ehemaligen Hausangestellten überliessen gegen Bezahlung ihre Kammern neuen Bewohnern, armen Leuten vom Land, die in die Stadt kamen oder irgendwo in der Innenstadt arbeiteten und eine billige Bleibe in der Nähe brauchten.
     Diese Entwicklung beschleunigte sich nach dem Tod von Monsieur Gregoire, der Hagop Jakubijans gesamtes Eigentum, also auch den Jakubijan-Bau, immer aufs gewissenhafteste und zuverlässigste verwaltet und die Einkünfte jeden Dezember in die Schweiz überwiesen hatte, wohin die Jakubijanschen Erben nach der Revolution emigriert waren. Die Verwaltungstätigkeit hatte Fikri Abdalschahid übernommen, ein Anwalt, der für Geld alles tat und beispielsweise für die Ausstellung eines Vertrags sowohl von denen, die eine Kammer weitervermieten, als auch von denen, die sie mieten wollten, je eine stattliche Provision einstrich.
     So entstand auf dem Dach eine neue, vom übrigen Gebäude völlig unabhängige Gesellschaft. Einige der Neuankömmlinge mieteten zwei nebeneinanderliegende Kammern und machten daraus eine kleine Wohnung samt sanitären Einrichtungen, Klo und Bad, während andere, noch ärmere, für jeweils drei oder vier Kammern ein gemeinsames Klo einrichteten. Diese Dachgesellschaft unterscheidet sich in nichts von anderen Gruppen einfacher Leute in Ägypten: Die Kinder rennen barfuss und halbnackt herum. Die Frauen verbringen den Tag damit, Essen zu kochen, in der Sonne zu sitzen und herumzutratschen oder miteinander zu streiten und dabei die hässlichsten Flüche und ehrenrührigsten Verdächtigungen gegeneinander auszustossen, nur um sich gleich darauf aufs innigste zu versöhnen und einträchtig miteinander umzugehen, als wäre nichts geschehen. Ja, sie pflanzen einander voller Rührung und Zuneigung heisse, schmatzende Küsse auf die Wangen.
     Die Männer kümmern sich nur wenig um die Zänkereien der Frauen. Sie halten diese lediglich für einen weiteren Beweis des mangelhaft ausgebildeten weiblichen Gehirns, über das sich schon der Prophet, Gott segne und beschütze ihn, ausliess. Alle Männer auf dem Dach verbringen den Tag im bitteren, harten Kampf ums tägliche Brot und kehren am Abend erschöpft zurück und wollen möglichst rasch ihren drei kleinen Vergnügen nachgehen: etwas schmackhaftes Warmes essen, ein paar Wasserpfeifen mit honigsüssem Tabak - samt Haschisch, sofern verfügbar - rauchen, entweder allein oder gemeinsam mit anderen, draussen auf dem Dach unter dem sommernächtlichen Himmel. Das dritte Vergnügen ist Sex, den die Leute auf dem Dach häufig praktizieren und nichts dabei finden, darüber in aller Offenheit zu reden - solange er sich in den von der Religion erlaubten Bahnen bewegt. Hier gibt es einen seltsamen Widerspruch.
Jeder Mann auf dem Dach scheut sich, wie bei einfachen Leuten üblich, vor anderen Männern seine Frau mit ihrem Namen zu erwähnen. Statt dessen nennt er sie Umm Soundso, also Mutter seines ältesten Sohnes, oder er spricht von ihr als "die Familie". Wenn einer von ihnen zum Beispiel erzählt, die Familie habe Muluchija gekocht, so wissen die anderen, dass er von seiner Frau spricht. Demselben Mann ist es aber nicht im geringsten peinlich, vor anderen Männern Einzelheiten aus seinem ehelichen Intimleben preiszugeben. Daher wissen auf dem Dach praktisch alle Männer alles über das sexuelle Treiben der anderen. Auch die Frauen, egal wie religiös oder moralisch sie sind, lieben den Sex heiss, flüstern sich ihre Bettgeheimnisse zu und lachen darüber, wenn sie unter sich sind, herzlich oder sogar unanständig. Sie lieben den Sex nicht nur zur Befriedigung ihrer Lust, sondern auch, weil die sexuelle Gier ihrer Männer ihnen das Gefühl gibt, dass sie trotz ihrer elenden Lebensverhältnisse noch immer schön und begehrenswert sind. In einem solchen Augenblick, wenn die Kinder schlafen, das Abendessen verzehrt und Gott gepriesen ist, wenn genug Nahrung im Haus ist für eine Woche oder länger und etwas Geld auf der hohen Kante für Notfälle, wenn der Raum, in dem sie alle wohnen, sauber und aufgeräumt ist und der Mann am Donnerstagabend, gut gelaunt durch die Wirkung des Haschischs, kommt und nach seiner Frau verlangt - ist es dann nicht ihre Pflicht, seinem Ruf zu folgen, nachdem sie sich gewaschen, hergerichtet und parfümiert hat? Zeigen ihr nicht diese kurzen Stunden des Glücks, dass ihr ärmliches Leben trotz allem irgendwie erfolggesegnet ist? Nur ein hervorragender Maler wäre imstande, den Gesichtsausdruck einer Frau auf dem Dach am Freitagmorgen festzuhalten, wenn ihr Mann hinuntergeht, um das Gebet zu verrichten, und sie die Spuren der Liebe entfernt, dann hinaus aufs Dach geht, um die frischgewaschenen Bett-tücher aufzuhängen. In diesem Augenblick sieht sie, mit ihren nassen Haaren, ihrer rosigen Haut und ihrem klaren Blick, aus wie eine vom Morgentau befeuchtete Rose, vollkommen erblüht.

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*) Einer der "Freien Offiziere", die in Ägypten die Julirevolution von 1952 durchführten. Er war erst Minister-, dann Staatspräsident und wurde 1954 von Gamal Abdel Nasser gestürzt.


Mit freundlicher Genehmigung des Lenos-Verlages

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