9punkt - Die Debattenrundschau

Die Intelligenz reibt sich selbst auf

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2014. Hongkong brodelt weiter. Seit den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat sich Peking keiner solchen Herausforderung mehr konfrontiert gesehen, meint die FAZ. Der Streit zwischen Google und den in der VG Media organisierten Verlagen eskaliert: Google listet aus. Die Verlage fühlen sich erpresst. Und wir setzen Links. Die NZZ-Debatte über den Islam geht weiter: Man weiß mittlerweile, dass der Islam sehr wohl intellektuell lebendig ist, betont Islamwissenschafter Ulrich Rudolph in Antwort auf Necla Kelek.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.10.2014 finden Sie hier

Politik

Auszug aus dem Twitter-Bilderstrom zum Hashtag #Hongkong:



FAZ-Korrepondentin Petra Kolonko bilanziert die Studentenproteste: "Seit der Studentenbewegung von 1989 hat sich die kommunistische Regierung in Peking nicht mehr einer solchen Herausforderung gegenübergesehen. Emotional, idealistisch und ordentlich demonstrieren die Studenten für die Zukunft ihrer Heimatstadt."
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Stichwörter: Hongkong, Studentenbewegung

Geschichte

Nicht Elend und Verzweiflung, sondern Langeweile und Ärger über die Lügen und Bevormundung waren die Stimmungen, die das Leben in der DDR prägten, erinnert sich der frühere Bürgerrechtler Jens Reich in der Welt. Weil die Welt nach Westen abgeriegelt war, wandte er sich notgedrungen nach Osten, in die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, nach Polen und Ungarn: "Die Familie durfte auch mitfahren, und so tauchten wir in die fremde Welt ein, erlernten Sprache und Kultur, die Kinder gingen in die russische Schule, wir schlossen zum Teil bis heute dauernde intensive Freundschaften. Wir gehören zu der Minderheit von Deutschen in unserer Generation, die sehr stark osteuropäisch geprägt ist. Immer wieder wird mir das heute bewusst, wenn neue Freunde und Bekannte von ihrer Zeit zum Beispiel in Berkeley oder Pune erzählen, während wir von Wologda oder Novorossijsk berichten können."

Auch in den Niederlanden wurde der Fall der Mauer gefeiert, erzählt der Historiker Jacco Pekelder in der taz. Nur über die Rolle Deutschlands war man besorgt: "Die Niederlande sind traditionellerweise ein antikommunistisches Land. Wir sind halt eine alte Handelsnation und können mit einem System wenig anfangen, das nicht auf freiem Handel basiert, sondern auf Vorschriften, Vorausberechnungen und Plänen. Für solche Vorgaben sind wir zu pragmatisch und zu freiheitsliebend. Aber wir waren auch verunsichert... Nun aber war die Zukunft der Nato unklar, und es war auch unklar, ob es dem wiedervereinigten Deutschland gelingen würde, sich in Europa zu integrieren."

Wolfgang Rindfleisch hat eine Dokumentation über Sascha Anderson gedreht, dessen IM-Tätigkeit nach dem Mauerfall für solche Debatten sorgte. Im Gespräch mit Matthias Dell im Freitag sagt er: "Das klärt nichts mehr. Die ganze Staatssicherheitsgeschichte hätte man nur unter den Verhältnissen der DDR klären können, die Bevölkerung hätte das noch tun müssen. Jetzt wird das nur noch benutzt. Insofern zeigt der Film einen Kampf gegen Windmühlen."
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Gesellschaft

Daniele Dell"Agli setzt sein Plädoyer für eine neue Ethik des Sterbens im Perlentaucher fort. Nötig wäre sie: "Noch immer klammern sich Ärzte an eine obsolete Standesethik, die Lebensverlängerung auf jeder organischen Schwundstufe mit Lebensrettung gleichsetzt; und noch immer geistert die Vorstellung vom Schmerz als Fegefeuer der sündigen Seele und angemessene Vorbereitung für ihren Auftritt vor dem Allmächtigen in den Köpfen gläubiger Christen herum. So wird in ganz Europa tagtäglich peinigende Sterbensverlängerung als Triumph wahlweise ärztlichen Könnens oder christlicher "Barmherzigkeit" gefeiert."
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Europa

Viktor Jerofejews FAZ-Aufmacher liest sich wie ein Notruf aus einem zusehends gleichgeschalteten Russland: "Die Intelligenz reibt sich selbst auf. Ihre kleinen oppositionellen Medien bewirken nichts. Würden sie verboten, ertönten nur wieder die "Stimmen" aus dem Ausland. Wozu? Sollen sie doch lieber sich selbst entlarven. Erledigen kann man sie immer noch. Terror mit Applaus des Volkes. Der moralische Terror ist schon in Aktion."
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Stichwörter: Jerofejew, Viktor, Russland

Überwachung

Der Journalist Glenn Greenwald wird für sein Buch "Die globale Überwachung" mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, meldet der Tagesspiegel. In der Begründung der Jury heißt es: "Als engagierter Jurist und leidenschaftlicher Journalist warnt Glenn Greenwald vor einem mächtigen Überwachungsapparat, der unsere Privatsphäre zu zerstören und die Grundlagen der Demokratie zu untergraben droht."

Mozilla plant offenbar, den Anonymisierungsdienst Tor in seinen Browser Firefox zu integrieren, berichtet Patrick Beuth in Zeit digital: "Sollte der Ausbau gelingen, wird das zunächst einmal die Geheimdienste dieser Welt sehr unglücklich machen. Bisher senden Tor-Nutzer praktisch ein Warnsignal: Achtung, ich tue etwas, wobei ich nicht beobachtet werden will. NDR und WDR hatten im Juli berichtet, die NSA betrachte jeden, der sich auch nur für Tor interessiert, als Extremisten und speichere seine Daten in einer speziellen Datenbank. Wenn künftig 100 Millionen Menschen oder mehr Tor benutzen, ist dieses Signal wertlos."
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Religion

Der Kampf des IS richtet sich nicht nur gegen den Westen, sondern vor allem gegen schiitische Muslime. Im Gespräch mit Christian Schröder (Tagesspiegel) weist der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze darauf hin, wie jung dieser konfessionelle Konflikt eigentlich ist: "Erst seit 30, 40 Jahren hat sich die Trennlinie zwischen Sunna und Schia vertieft. Früher handelte es sich eher um Traditionstrennungen. So wie Katholiken und Protestanten miteinander klarkamen, hatten sich auch Sunniten und Schiiten miteinander arrangiert. Man ging in dieselbe Moschee, wusste aber auch, wen man heiraten oder nicht heiraten durfte. Es waren soziale und rituelle, eben keine politischen Differenzen. Heute wird hingegen betont, dass Sunniten und Schiiten völlig unterschiedliche Traditionen darstellten. Das geht so weit, dass in arabischen Zeitungen von einer "schiitischen Religion" die Rede ist."

Der Islamwissenschafter Ulrich Rudolph antwortet in der NZZ auf einen Artikel Necla Keleks (unser Resümee) und weist die Behauptung zurück, im Islam habe es seit dem Mittelalter einen intellektuellen Stillstand gegeben: "Wir wissen mittlerweile, dass die Philosophie im Islam vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart andauerte. Sie ist sogar zu einem Schwerpunkt islamwissenschaftlicher Forschung geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass der philosophische Diskurs nach 1200 nicht nur fortgesetzt wurde, sondern auch auf die Theologie und bestimmte mystische Strömungen, die für die gelebte Religion sehr wichtig waren, ausstrahlte."

Weiteres: Angesichts immer häufigerer Kircheneinbrüche beklagt Andreas Rossmann in der FAZ einen schwindenden Respekt vor sakralen Räumen.
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Medien

Der Streit um das Leistungsschutzrecht zwischen den in der VG Media organisierten Verlagen, die für Links Geld sehen wollen, und Google geht weiter, berichtet Stefan Winterbauer in Meedia und bezieht sich auf ein Blogpost bei Google: "Google zieht nun die Konsequenz und schmeißt Snippets und Thumbnails, also Vorschaubilder, der VG Media Verlage aus seinen Angeboten raus, um gegen Klagen gefeit zu sein. Damit dürfte Google in der verqueren Logik des Gesetzes tatsächlich Leistungsschutz-konform sein. Wo keine Snippets gezeigt werden, ist keine "Leistung", die eingeklagt werden könnte. Die VG Media hat in gewohnter Manier auf die Maßnahme reagiert. In einer Pressemitteilung wirft sie Google "Erpressung" vor."

In dieser Pressemitteilung können die Verleger es nicht fassen, dass Google sich nicht gezwungen sieht, einerseits die Snippets zu bringen und andererseits zu zahlen: "Google erpresst Rechteinhaber", heißt es dort lapidar. "Keiner der bei der VG Media organisierten Verlage hat Google aber aufgefordert, die verlegerischen Inhalte auf irgendeiner der Google-Oberflächen nicht mehr anzuzeigen. Den Presseverlagen geht es lediglich um eine ungehinderte Durchsetzung der Ansprüche auf Zahlung einer angemessenen Vergütung."

Google wird übrigens nicht ganz auf die Verlinkung verzichten, erläutert Stefan Niggemeier in seinem Blog, sondern bringt weiterhin dürre Überschriften, die vom Leistungsschutzrecht noch nicht berührt sind: "Das Unternehmen listet die Angebote der Leistungsschutz-Allianz nicht aus, was angesichts der marktbeherrschenden Stellung womöglich heikel wäre. Aber es zeigt nur das an, was unbestritten nicht gegen das Leistungsschutzrecht verstößt." Mehr auch bei Zeit online.
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