Mord und Ratschlag

Riverrun Raskolnikow

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
23.10.2008. In "Citizen Sidel", dem zehnten Teil von Jerome Charyns grandioser fantasmagorischer Saga ist Isaac Sidel auf dem Sprung zur Vizepräsidentschaft und kämpft mit seiner Glock und einer zugelaufenen Ratte namens Raskolnikow gegen das Böse, um sein Leben und natürlich die mythische Geliebte Anastasia.
Schnell los mit der Kritik, denn wir sind spät dran. Im Original ist "Citizen Sidel" - gerade noch so - schon im letzten Jahrtausend erschienen, 1999, um genau zu sein. Es ist auch der zehnte Band bereits der Saga um Isaac Sidel, die Jerome Charyn lange vorher schon, 1974, um genau zu sein, zu schreiben begann, der Titel des ersten Romans, auch bei Rotbuch erhältlich: "Blue Eyes".
Jetzt, inzwischen, bzw. erst einmal, 1999, all die Jahre später, die mit normalem Menschenmaß schwerlich zu messen sind, ist Sidel, der Jude, der aus der Bronx kam, der ein alles andere als moralisch völlig einwandfreier Polizeikommissar wurde in New York und Bürgermeister gar, auf dem Sprung. Für das Amt des demokratischen Vizepräsidenten kandidiert er und er ist derjenige, den die Massen verehren, nicht der zwielichtige, blutarme Baseball-Zar mit dem sprechenden Namen J. Michael Storm. Rein geht's gleich zu Beginn des Buchs, das auf recht wenigen Seiten verdammt viel zu erledigen hat, in den Madison Square Garden, es ist der Nominierungsparteitag der Demokraten. Und raus geht's gleich wieder, denn Sidel hat viel, alle Hände voll, mehr als genug zu tun. Die Glock, mit der er schießt, wann es ihm passt, hat Sidel noch immer dabei, die Glock, die sein Markenzeichen ist und auch Insignie seiner Vigilante-haften Unbezähmbarkeit durch alle Institutionen auf dieser Erde.

Einen Mordfall, bei dem sich, wie man im Lauf der Erzählerung erfährt, alles anders verhält, als es scheint, muss er aufklären. New York muss er retten und seine eigene Haut und, wer weiß, von hier aus die ganze Welt. Fallen werden ihm gebaut, Kamikazekillerinnen auf ihn angesetzt, Intrigen um Intrigen werden gesponnen und wir, arme LeserIn, der oder die wir sind, erhaschen hier einen Vorfall, da einen Totschlag; hier einen Lauschangriff, da eine infame Schlinge, ausgelegt vom einen oder anderen Vertreter des Staatsapparats oder einer Todesengel-Gang aus der Bronx - aber was wir damit anfangen, wie wir uns darin zurechtfinden, wie wir Kopf oder Schwanz aus all diesen einander immerzu überkreuzenden Sachverhalten und Kabalen und versuchten und gelingenden Morden machen, das ist wirklich ganz und gar uns überlassen.

Allerlei Gelichter mit Macht ist mit üblen Machinationen im Spiel: der FBI-Chef zum Beispiel und ein Polizei-Chef im Revier der Elizabeth Street in Manhattan, das Charyn aber stets mit der Welt des Isaak Babel, der von diesem erfundenen Figur Benya Krik, dem untergegangenen Odessa von einst, dem dortigen Viertel Moldavanka einfach so überblendet. Am Rande taucht eine Literaturwissenschafts-Dozentin der New York University auf, als trauernde Geliebte mit Buckel, als Tochter eines kriminellen Polizisten, als Isaak-Babel-Kennerin - aber es ist in diesem Buch und der ganzen Sidel-Saga in Wahrheit natürlich so, dass alles Rand ist und nichts, dass alles ständig in rasendem Tempo auf Abgründe zugeht und darüber hinaus schießt und wie in den großen amerikanischen Zeichentrickfilmen macht es nichts aus: auch die Luft trägt eine Weile, wenn man nur schnell weitererzählt.

Karamelkekse muss und will Sidel essen, gebacken von Marianna, der 12-jährigen, aber nicht minder als der Rest des Personals völlig erwachsenen Tochter des Präsidentschaftskandidaten. Er versteckt sie vor ihren Eltern, die sie verabscheut. Wie ein Hund leidet Sidel, weil Margret Tolstoi, seine Anastasia, die Frau, die er immer schon liebt, im Weißen Haus, in den Gemächern des Präsidenten, der meist Prädi genannt wird, steckt. Was nicht heißt, dass sie nicht aus heiterem Himmel auftauchen könnte, Sidels Leben zu retten und selbst, später dann, einen bösen Schlag auf den Kopf zu bekommen, der sie ins Koma schickt. Schließlich ist, wer es mit wem oder was treibt, weiß der Teufel, ganz schwer auszumachen. Ebenso ist, wer auf wessen Seite steht und welche Seite, wenn man mal eine ausgemacht hat, die gute ist, welche die böse, naja, nicht immer so einfach zu sagen.

Gar nichts sagt die Ratte Raskolnikow, die sich davon abgesehen aber schon wie ein Mensch benimmt oder, um es etwas vorsichtiger zu formulieren, allemal wie eines der erratischen und von keiner Psychologie oder Wahrscheinlichkeit zu bremsenden Wesen, die den Roman sonst so bevölkern. Etwa, indem sie - die Ratte Raskolnikow - Augen auskratzt und Nasen abbeißt und so unter denen, die sie nicht leiden kann, Blutbäder anrichtet. Sidel hat von dem Mann mit den orangenen Hosen, dessen Tod er am Anfang zu klären versucht (ist aber alles viel komplizierter), die Ratte Raskolnikow geerbt und trägt sie, in der Bronx und anderswo unterwegs, auf der Schulter. Mit der Bronx und überhaupt all den Namen uns Straßen ist das so eine Sache. Zwar deuten sie bei Charyn auf den ersten Blick überdeutlich fast auf unsere Wirklichkeit, ohne deshalb aber je verlässliche Anhaltspunkte zu sein. Aus Literatur gespeiste Namen und Halluzinationen funken, die Realität überlagernd, konterkarierend, verdoppelnd dazwischen, nicht nur in dieser ganzen Elizabeth-Street-Moldavanka-Geschichte, sonder auch dann, wenn etwa eine psychiatrische Anstalt, aus der gegen Ende eine weitere, aus dem Sidel-Universum vertraute Figur geholt wird, den an "Finnegans Wake" gemahnenden Namen "Riverrun" trägt.

Aus dem zum Schein Realen und aus ganz einmaligem Wahnwitz erschafft Jerome Charyn - Professor für Film in Paris und Autor von unzähligen Büchern, in denen es um Babel, Hollywood, die eigene Kindheit in der Bronx, um Marilyn Monroe, um Tischtennis und immer wieder um Isaac Sidel geht - aus den wahrscheinlichsten und den unwahrscheinlichsten Zutaten also erschafft Charyn, um das zum Schluss einmal zusammenzufassen, seine das Hier und Jetzt in blühende Absurditäten transformierenden Fantasmagorien. Das Erstaunliche daran ist, dass er mit diesem Verfahren aus unserer Gegenwart einen Mythos macht, ohne die uns vertraute Welt dabei aus den Augen zu verlieren. Was er ihr entgegenzusetzen hat, diese Mixtur aus Traum, Altpraum, Gewalt und verzehrender Liebe, ist eine grandios und gewaltig verschrobene Vision, aber nicht einer anderen, sondern unserer Wirklichkeit.

Jerome Charyn: Citizen Sidel. New York knallhart. Roman. Übersetzt von Jürgen Bürger. Rotbuch Verlag. 189 Seiten. 16,90 Euro