Außer Atem: Das Berlinale Blog

Auf Augenhöhe: Die starken Frauen im Berlinale-Wettbewerb 2013

Von Lukas Foerster
16.02.2013.
"How to do things with women": Das könnte, spätestens seit der Nouvelle Vague, ein Motto des internationalen und hinter der Kamera nach wie vor weitgehend männlichen Autorenkinos sein. Der aktuelle Berlinalewettbewerb ist da keine Ausnahme; schon alleine in den Filmtiteln tauchen sechs Frauennamen auf und kein einziger Männername. Bei den Regisseursnamen sieht die Verteilung anders aus: drei weibliche, siebzehn männliche. Das ist eine offensichtliche Schieflage, aus der man andererseits auch nicht zuviel machen muss, schließlich wird auch diese Perlentaucher-Kolumne sexistische Strukturen nicht aus der Welt schaffen. Was man aber schon machen kann: sich etwas genauer anschauen, was die Filme von den vielen Frauen wollen, die sie in ihre Zentren stellen. Denn das sind jeweils durchaus unterschiedliche Dinge.



Da fallen zunächst einmal durchaus prägnante Figuren auf: Nina Hoss, die sich in Thomas Arslans klugem neuen Film "Gold" als deutsche Exilantin Emily allein unter Männern in die geheimnisvollen Wälder Kanadas schlägt; Gloria (Paulina Garcia), eine Chilenin fortgeschrittenen Alters, die sich in Sebastian Lelios nach ihr benannten (und nebenbei bemerkt grotesk überbewerteten) Arthausdrama mit den Untiefen des Lebens und der Liebe auseinander setzt; Layla Fourie (Rayna Campbell), die sich im ebenfalls nach ihr benannten dritten Spielfilm der in Berlin lebenden Regisseurin Pia Marais in einem beengenden, konfusen Thrillerplot verfängt; Juliette Binoche, die nach historischem Vorbild als Camille Claudel eingesperrt in eine psychiatrische Anstalt vor sich hinleidet, exquisit fotografiert vom einstmals aufs Transgressive zielenden Franzosen Bruno Dumont (der diesmal einen großen Schritt in Richtung alteuropäisches Qualitätskino unternommen hat).

Bei aller (nicht nur qualitativer) Differenz kommen diese Filme zusammen in ihrem Blick auf die Hauptfiguren: Zweifellos sind diese Frauen nicht nur, eben, prägnant als hauptsächliches Objekt der Kamerabegierde (Rayna Campbells Profil, Nina Hoss’ sich langsam lösendes Haar etc), sondern auch, in einem mal mehr mal weniger geläufigen Sinne, stark. Sie müssen sich gegen (sehr unterschiedliche) Männernbündnisse behaupten, bilden, gegen alle Widerstände, eine eigene Subjektivität aus, die sie in gewisser Weise aus ihrer Umgebung heraushebt, exemplarisch werden lässt.

Gleichzeitig aber sind alle vier Figuren verhältnismäßig eindimensional und statisch angelegt; fast scheint es, dass die Filme die Frauen, wenn sie sie einmal für sich definiert haben, nicht mehr loslassen wollen. Die Eindimensionalität selbst ist nicht das Problem; in der Filmgeschichte wimmelt es nur so vor großartigen eindimensionalen Figuren. Auch die ewig staksige, ewig kühle, geisterhafte Verbissenheit zum Beispiel, mit der sich Nina Hoss durch Kanada schlägt, ist im Genrekontext, den Arslan aufruft, durchaus funktional: Die Reise, die die Gruppe antritt, kennt von Anfang an nur eine Richtung und Emily ist von Anfang an das Gespenst, zu dem alle anderen erst im Laufe des Films werden. Schon größere Probleme hatte ich mit der ewig verbissen-ehrgeizigen Layla Fourie und vor allem mit der ewig linkisch-sympathieheischenden Gloria. "Gloria" ist der ärgerlichste Film in diesem Zusammenhang, weil Lelio die Gewalt, die er seiner zur totalen Liebenswürdigkeit verdammten Hauptfigur und damit auch dem zum Verlieben geprügelten Publikum antut, ästhetisch sublimiert.



Eine bereits reflexive Variante ist "Camille Claudel, 1915": Schließlich geht es da ganz explizit um das Wegsperren einer Frau, um den Versuch, sie durch Freiheitsberaubung und Medikation stillzustellen, sie daran zu hindern, ihre vielfältigen Potentiale zu verwirklichen, ihr nichts zu lassen als ihre ewige Empfindsamkeit. Dumonts Film spricht von nichts anderem als davon, wie autoritäre Zugriffe eine Frau in die Eindimensionalität zwingen, Was ihn nicht daran hindert, den Effekten dieser Einschließung in intensiven, regelrecht immersiven Großaufnahmen auf Binoches Gesicht nachzuspüren.

(Kaum der Rede wert sind zwei geläufige, generische Alternativen: Zhang Ziyi als bloße Oberfläche, als weichgezeichnetes Fetischobjekt in Wong Kar-Wais "The Grandmaster", Rooney Mara in Steven Soderberghs "Side Effects" als Femme Fatale, die sich zwar schnell von ihrem ersten, verhuscht rehäugigen Auftreten emanzipieren darf, sogar eine regelrechte Gestaltwandlerin wird, aber nur, um am Ende dann genau dafür bestraft zu werden, wie eine späte Wiedergängerin der Camille Claudel.)

Auch Denis Côté scheint seine beiden weiblichen Hauptfiguren zu bestrafen, am furchterregenden Ende seines Films "Vic+Flo haben einen Bären gesehen". Aber worin genau das Vergehen der beiden Liebenden besteht, ist nicht so recht auszumachen. Wie überhaupt nicht immer klar auszumachen ist, auf welche Weise Côté über seine Welt und die Menschen - beiderlei Geschlecht -, die sie bewohnen, verfügt; zumindest aber lässt er ihnen gewisse Freiräume. Sein Film ist dialogisch angelegt, die Figuren definieren sich andauernd gegenseitig - und können sich diesen Definitionen auch wieder entziehen. Zumindest bis die Bärenfalle zuschnappt.



Die beiden interessantesten Frauen tauchen in den beiden besten Filmen des Wettbewerbs auf. Hong Sang-soos "Nobody’s Daughter Haewon" erzählt von einer Serie von Begegnungen, die eine junge Frau macht: mit ihrer Mutter, die nach Kanada auswandert, mit einer Freundin, mit der sie in einem nicht genauer definierten Konkurrenzverhältnis zu stehen scheint, vor allem mit einer ganzen Reihe von Männern. Fast alle Menschen, denen sie begegnet, haben eine Meinung über sie: schön finden sie viele, nicht wenige halten sie für überheblich und selbstbezogen, einer meint, gehört zu haben, dass sie keinen rein koreanischen Stammbaum hat, ein anderer, dass ihre Eltern in Geld schwimmen. Ein dritter meint zu wissen, dass sie nur äußerlich kühl, innerlich aber ein herzensguter Mensch sei. Zu all diesen Zuschreibungen, die an sie herangetragen werden, verhält sich die Filmfigur Haewon (Jeong Eun-Chae, eigentlich ein Model fast ohne Schauspielerfahrung, im Kino ein unbeschriebenes Blatt) indifferent, bleibt opak, ungreifbar. Sie selbst gibt nichts von sich Preis. Nur einmal meint sie, ohne rechten Anlass, sie sei ein Teufel. Doch vielleicht sagt sie das nur, weil sie in der Szene einen roten Pullover trägt.



"Closed Curtain" von Jafar Panahi und Kamboziya Partovi schließlich ist noch weniger als "Vic+Flo" oder "Nobody’s Daughter Haewon" ein Werk, dem man in auch nur irgendeinem Zusammenhang ein Attribut wie "Frauenfilm" anheften würde. Schon, weil die beiden Stars des Films vorderhand die Regisseure sind, die beide auch, abwechselnd, vor der Kamera agieren. Und doch spielt eine Frau eine wichtige, vielleicht die entscheidende Rolle. Eine junge Frau, verkörpert von Maryam Moghadam, bringt das komplexe Verwirrspiel erst ins Rollen, als sie in das Haus eindringt, in dem vorher lediglich ein Mann verhältnismäßig friedlich mit seinem Hund zusammengelebt hatte. Mehr noch als die anderen Figuren im Film ist diese Frau ein shifter, ein kaum stillzustellendes Wesen mit wechselnden Identitäten, zuerst ein Flüchtling vor der Polizei, später möglicherweise selbst Agentin der Staatsmacht, vielleicht auch nur eine Projektion, ein Gedankenbild; oder aber: der Ursprung aller anderen Bilder und Figuren. In gewisser Weise funktioniert die immer wieder neu definierte Moghadam als komplementäres Gegenbild zur nicht definierbaren Haewon.

Auch die allerschönste (und nebenbei: herzzerreißendste) Szene des Films gehört dieser faszinierendsten, geheimnisvollsten, lebendigsten Frau des Wettbewerbs: Kurz vor Schluss wirft sie einen langen, sehnsuchtsschweren Blick auf Jafar Panahi; einen Blick, der nicht erwidert wird, nicht erwidert werden kann, schon deshalb nicht, weil Panahi bis auf weiteres ein Gefangener des iranischen Regimes bleibt. Gleichzeitig aber dreht sich in diesem Moment, und sei es nur im Spiel, das gesamte Blickregime um: Die Frau schaut ihren Regisseur an, tritt ihm und uns auf Augenhöhe entgegen.

Lukas Foerster