Magazinrundschau

Das Paradox des Über-Ichs

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.01.2015. In der Paris Review erklärt Michel Houellebecq, warum er eine muslimische Partei für wahrscheinlich hält. Da kann einem die Burka richtig sympathisch werden: Aus unseren Gesichtern werden jetzt sogar die Emotionen ausgelesen und vermarktet, berichtet der New Yorker. Die britischen Linken sind solche Heuchler, ruft Slavoj Zizek im New Statesman. Karen Armstrong porträtiert den Islamischen Staat als reichste Dschihadisten-Gruppe der Welt. In Vice schildert Roberto Saviano das gute Einvernehmen von Londoner und New Yorker Börsen mit der Mafia. Und der Guardian freut sich, dass John Galliano nach seinen antisemitischen Ausfällen wieder einen Job hat - in Frankreich.

Paris Review (USA), 12.01.2015

In einem Interview über seinen neuen Roman "Unterwerfung" erklärt Michel Houellebecq, warum er in absehbarer Zeit eine muslimische Partei in Frankreich für recht wahrscheinlich hält: "Ich habe versucht, mich an die Stelle eines Muslims zu versetzen und erkannt, dass sie in der Realität in einer total schizophrenen Situation sind. In der Regel sind Muslime nicht an wirtschaftlichen Dingen interessiert. Ihre großen Interessen liegen in dem was wir heute gesellschaftliche Belange nennen. In diesen Dingen sind sie offensichtlich sehr weit entfernt von der Linken und noch weiter von den Grünen. Man denke nur an die Schwulenehe, dann wird klar, was ich meine. Aber sie können auch nicht rechts wählen, schon gar nicht die extreme Rechte, die sie vollkommen ablehnt. Wenn ein Muslim also wählen will, was soll er dann tun? Die Wahrheit ist, dass er in einer unmöglichen Situation steckt. Niemand repräsentiert ihn. Darum erscheint mir eine muslimische Partei sinnvoll. [...] Auf der Ebene, die wir gewöhnlich Werte nennen, haben Muslime mehr gemeinsam mit der extremen Rechten als mit der Linken. Es gibt eine fundamentalere Opposition zwischen Muslimen und Atheisten als zwischen Muslimen und Katholiken. Das scheint mir offensichtlich."
Archiv: Paris Review

New Statesman (UK), 10.01.2015

Kein Interesse am Geld? Zumindest in diesem Punkt würde die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong Michel Houellebecq wohl widersprchen. Sie rekapitulierte einige Wochen vor dem Anschlag die Geschichte des wahabitischen Islams, der seit 1973 genauso wie das Öl von Saudia-Arabien in alle Welt exportiert wird. Im Islamischen Staat sieht sie allerdings eher eine Rebellion gegen den offiziellen Wahabismus als die reine Lehre: "Es wäre ein Fehler, den IS als altmodisch zu betrachten. Er ist, wie der britische Philosoph John Gray meint, eine durch und durch moderne Bewegung, ein effizientes Geschäft, das sich mit einem Vermögen von zwei Milliarden Dollar bestens selbstfinanziert. Seine Plünderungen, der Raub der Goldbarren aus Banken, Entführungen, das Ölabschöpfen in den eroberten Gebieten und die Erpressungen haben sie zur reichsten Dschihadisten-Gruppe der Welt gemacht. In der Gewalt des IS steckt nichts Willkürliches oder Irrationales. Die Videos mit den Exekutionen sind sorgfältig und strategisch geplant, um Terror zu schüren, Dissidenten abzuschrecken und in der Bevölkerung Chaos zu stiften."

Slavoj Zizek zeigt wenig Verständnis für die Selbstzensur unter britischen Linken, die Charlie Hebdos Karikaturen nicht publizieren, um keine religiösen Gefühle zu verletzen: "Die Folge einer solchen Haltung wird genau das sein, was man in solchen Fällen erwarten kann: je mehr die westlichen Linken sich schuldig fühlen, desto mehr werden sie von islamischen Fundamentalisten als Heuchler beschuldigt werden, die ihren Hass auf den Islam nur verbergen. Die Konstellation reproduziert auf perfekte Weise das Paradox des Über-Ichs: Je mehr man das tut, was ein anderer von einem verlangt, umso schuldiger wird man sich fühlen."
Archiv: New Statesman

New Yorker (USA), 19.01.2015

Vielleicht sollten wir uns wirklich langsam mit der Burka anfreunden? Unsere Daten sind ja schon off- und online ein gutes Geschäft. Aber demnächst werden auch unsere Emotionen vermarktet, lesen wir in Raffi Khatchadourians gruseliger Reportage für das neue Heft des New Yorker. Ursprünglich sollte die Interpretation unserer Gesichtsausdrücke (dahinter steckt keine Esoterik, sondern eher das Auszählen von Gesichtsfalten) medizinischen Zwecken dienen - der Kommunikation mit autistischen Kindern etwa. Inzwischen hat die Werbeindustrie Wind von der Sache bekommen und wittert ein Riesengeschäft: "Marian Bartlett, eine Forscherin an der Universität von Kalifornien in San Diego und führende Wissenschaftler bei der Firma Emotient, ließ einmal Filmmaterial durch ihre Software laufen, das ihre Familie beim Fernsehen zeigte. In einem Moment von Slapstick-Gewalt zeigte ihre Tochter in einem einzigen Frame wilde Wut, die in Überraschung und dann Gelächter mündete. Der Tochter war dieser Moment des Unbehagens gar nicht bewusst, aber der Computer hatte ihn bemerkt. Kürzlich demonstrierten Bartletts Kollegen in einer Studie, dass Computerprogramme, die "Mikro-Ausdrücke" scannen, vorhersagen können, ob Menschen ein finanzielles Angebot ablehnen werden: ein Aufblitzen von Widerwillen zeigt an, dass das Angebot als unfair empfunden wird, ein Aufblitzen von Ärger kündigt die Ablehnung an."

Außerdem: Adam Gopnik macht klar, dass es sich bei den ermordeten Redaktionsmitgliedern von Charlie Hebdo nicht um die Art zahme Karikaturisten handelt, wie man sie von amerikanischen Editorials her kennt: Ihre "Stilisierung zu Märtyrern und missverstandenen Botschaftern des Rechts auf freie Meinungsäußerung" erscheint ihm "als Verrat ihres Andenkens". Luke Mogelson berichtet, wie einzelne Gemeinden in Sierra Leone und Liberia mit großem Einsatz gegen das Ebola-Virus kämpfen. Und Sasha Frere-Jones annonciert das Comeback der Indie-Rockerinnen von Sleater-Kinney.
Archiv: New Yorker

Respekt (Tschechien), 08.01.2015

Martin M. Šimečka sieht in den ermordeten Pariser Karikaturisten die Dissidenten der Gegenwart: "Der Mordanschlag in der Redaktion von Charlie Hebdo beweist nicht nur den totalitären Geist fanatischer Islamisten, er bezeugt auch die moralische Kraft der westlichen Zivilisation, die viele schon abgeschrieben haben, und die von den Diktatoren der Welt als schwach belächelt wird, als unfähig, für ihre Überzeugungen Opfer zu bringen. Doch was ist der Tod der französischen Journalisten anderes als der Beweis ihres bewundernswerten Glaubens an die Freiheit, für die sie ihr Leben gaben? Sie wussten schließlich, dass sie sich in tödliche Gefahr begaben. ... Ich fürchte, in Tschechien haben wir das Verständnis dafür verloren. Die Journalisten von Charlie Hebdo und viele andere westliche Journalisten und Intellektuelle sind heute die wirklichen Helden und Dissidenten, sie halten die Werte des Westens hoch, sind die Quelle seiner moralischen Kraft."
Archiv: Respekt

Aeon (UK), 08.01.2015

Der Unterschied zwischen Musikvirtuosen und durchschnittlich musikinteressierten Menschen ist viel niedriger, als man annehmen würde, verkündet Elizabeth Hellmuth Margulis, Leiterin des Musikwahrnehmungslabors der Universität Arkansas und ausgebildete Konzertpianistin. Sie beschreibt, welch komplexes musikalisches Verständnis allein durch gelegentliches Musikhören entsteht. So verfügt beispielsweise zwar nur einer von Zehntausend über das absolute Gehör, doch die übrigen 9999 sind gar nicht so weit davon entfernt, wie sie vermutlich denken: "Studien zeigen, dass Menschen ohne besondere Übung bekannte Songs auf oder sehr nah an der korrekten Note beginnen. Wenn Leute beispielsweise "Hotel California" summen, dann tun sie es ungefähr in derselben Tonart wie die Eagles. Eine Studie der Universität von Toronto hat außerdem nachgewiesen, dass Menschen ohne besondere Vorkenntnisse die Originalversionen der Titelmelodien bekannter Fernsehserien von transponierten Versionen unterscheiden können. In einer anderen Tonart klingt "The Siiiiiimp-sons" einfach nicht richtig."
Archiv: Aeon

MicroMega (Italien), 11.01.2015

Aus Anlass des Todes von Francesco Rosi bringt Micromega ein wehmütiges Gespräch, das Curzio Maltese im Jahr 2012 mit dem Regisseur geführt hat: "Kino, das war eine sehr tief empfundene, wichtige kulturelle Aktivität. Ich merke es, wenn sich Leute an Filme erinnern. Sie erinnern sich auch an Dinge, die nicht leicht waren. "Christus kam nur bis Eboli" war kein leichter Film, den man nur zur Unterhaltung sehen wollte. Da ging man hin, um über eine zurückgebliebene Gesellschaft nachzudenken, Süditalien, die untere Hälfte des Landes. Es war nicht nur mein Verdienst, sondern vor allem das Carlo Levis, der dieses Meisterwerk geschrieben hatte. Damals hat man solche Filme noch gewollt... Viele hatten überlegt, das Buch zu verfilmen, De Sica, sogar Rossellini, dann Visconti, aber sie gaben auf. In dieser Zeit fing man an, von den Filmen "Plots" zu verlangen. Bei mir gab"s keinen Plot, es gab einen großen Schauspieler, Gian Maria Volonté. Er spielte eine großartige Persönlichkeit, die es schaffte, sich an der Kultur Süditaliens zu messen, das von der anderen Hälfte des Landes so gut wie vergessen war."
Archiv: MicroMega

Vice (USA), 03.01.2015

Rezessionen bedeuten Goldgräberstimmung im organisierten Verbrechen, erklärt Roberto Saviano: Kredithaie, Drogenbosse und illegales Glücksspiel profitieren von dem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit, wie der Autor im historischen Rückblick zeigt. Nutznießer sind in heutigen klammen Zeiten vor allem die Banken. Die umfangreichen Geldwäschen des Mobs stellten im Jahr 2008 eine letzte verbliebene Quelle für den ins Stocken geratenen Kapitalfluss dar. "Bargeld wird in elektronisches Geld umgewandelt und von einem Land ins nächste überwiesen, bis es irgendwann einen neuen Kontinent erreicht und kaum noch zurückverfolgbar ist. So kam es, dass Interbankkredite systematisch mit Geld aus dem Drogenhandel oder anderen illegalen Geschäften finanziert wurden. Ein paar Banken haben sich für ihre Rettung auf dieses Geld gestützt. Folglich ging ein Großteil der 352 Milliarden Dollar aus dem Drogenhandel frisch gewaschen ins legale Wirtschaftssystem über. ... Laut Aussage einiger Experten gehören die finanziellen Machtzentren London und New York nun zu den größten Wäschereien für schmutziges Geld. Dieser Titel gebührt also nicht länger Steuerparadiesen wie den Cayman Islands oder der Isle of Man, sondern der Lombard Street und der Wall Street."
Archiv: Vice

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 13.01.2015

Ohne schon von jüngsten Attentaten der Terrortruppe Boko Haram im Norden Nigerias zu wissen, schreibt der Schriftsteller Elnathan John vor den Wahlen über Nigerias korrumpierte Demokratie, die Gewalt Boko Harams und des Militärs sowie den Fall eines Crossdressers, der in seinen Frauenkleidern als vermeintlicher Attentäter gefoltert wurde: "Wir als Land haben gegenüber Menschen wie Mansir die Verpflichtung, ein auf Gesetze und Institutionen gestütztes System zu entwickeln, das zu freier Meinungsäußerung ermuntert, die Handlungen der Regierung transparent und rechenschaftspflichtig macht, die Existenz und die Rechte von Minderheiten anerkennt und die Minderheiten vor den Launen der Mehrheit schützt. Das klingt vielleicht idealistisch, denn wir schaffen es ja kaum, freie und faire Wahlen durchzuführen, ohne dass hunderte von Menschen auf den Straßen abgeschlachtet werden. Womöglich ist das Nachdenken über Mansir eine Art Luxus in einem Land, in dem jemand auf der Straße bei lebendigem Leibe verbrannt werden kann, nur weil man ihn als Dieb verdächtigt."

Außerdem beschreibt Rodrigue Nana Ngassam, wie sich Boko Haram jetzt auch in Kamerun auszubreiten droht: "Die tollkühnen Überfälle auf hochrangige Personen vom Juli 2014 lassen vermuten, dass Boko Haram Zuträger vor Ort hat - wenn nicht sogar in den Zirkeln der Macht. Derartige Aktionen sind ohne verlässliche Informationen nicht durchführbar. Manche verdächtigen Mitarbeiter des kamerunischen Geheimdienstes, die in den Dörfern wohnen und den schwierigen Alltag der Menschen dort teilen, als Kundschafter und Informanten für die Terrorgruppe zu arbeiten."
Stichwörter: Boko Haram, Kamerun, Luxus, Nigeria

Guardian (UK), 13.01.2015

Gott sei Dank, dass es die politisch unkorrekten Franzosen gibt. Da finden sogar britische Antisemiten einen neuen Job! Die britische Presse atmet auf und applaudiert: John Galliano, unehrenhaft entlassener Modezar von Dior, hat in London seine erste Schau für das in Paris ansässige belgische Modelabel Martin Margiela vorgeführt. Und diesmal hat er alles richtig gemacht, lobt Jess Cartner-Morley: "Die Atmosphäre war ernst, fast zeremoniell. Aber schließlich ist es keine gewöhnliche Modenschau, wenn sie in Anwesenheit von Kate Moss und dem Rabbi Barry Marcus von der Londoner Zentralsynagoge stattfindet. Die 180 Stühle waren in zwei langen Reihen aufgestellt, so dass jeder einen Platz in der ersten Reihe hatte (in dieser Hinsicht war Galliano schwer darauf bedacht, niemanden zu beleidigen)."
Archiv: Guardian

New York Times (USA), 13.01.2015

In einer schönen kleinen Reportage beschreibt Rachel Donadio ein Redaktionstreffen von Charlie Hebdo zur jüngsten Ausgabe. "Eins war klar: Sie wollten die Erinnerung an ihre Kollegen wachhalten, indem sie deren letzte Arbeiten veröffentlichen. Das Blatt wird Zeichnung der fünf getöteten Karikaturisten bringen: Stéphane Charbonnier, bekannt als Charb, Jean Cabut, bekannt als Cabu, Bernard Verlhac, bekannt als Tignous, Georges Wolinski und Philippe Honoré. Sie wollen außerdem die anderen Opfer ehren, mit einem Text des Ökonomen Bernard Maris und der Psychiaterin Elsa Cayat, die beide Kolumnen schrieben, und vielleicht eine unredigierte Kolumne ihres Korrekturlesers Mustapha Ourrad. "In dieser Ausgabe haben sie niemanden getötet", sagt Mr. Biard said. Die Redaktionsmitglieder werden "erscheinen wie immer". Auf die Frage, was es sonst noch im Blatt geben wird, antwortet Patrick Pelloux, ein Notarzt, der auch für Charlie Hebdo schreibt, mit einem Lachen: "Ich weiß es nicht, nicht viel passiert in dieser Woche.""
Archiv: New York Times