Vom Nachttisch geräumt

So viel Geld wie möglich

Von Arno Widmann
29.10.2018. Niklas Maak und Leanne Shapton machen es wie die Siedler und ziehen von der Staten Island Ferry Terminal nordwärts "Durch Manhattan".
Ich liebe diese Idee: "Eine Frau, die ein Notizbuch und einen Aquarellkasten bei sich trägt, und ein Mann verabreden sich am Staten Island Ferry Terminal an der Südspitze von Manhattan und kaufen einen Stadtplan. Sie ziehen eine gerade Linie von der Südspitze bis zum oberen Ende der Insel und beschließen ihr zu folgen." Wo es zu viel gibt, das man sehen muss, hilft der Zufall. Er gibt einem dem Weg vor, nimmt einem die Entscheidung ab. Wer weiß, dass alles interessant ist, hat keine Angst vor der Langeweile, sondern freut sich auf das Unbekannte, auf das kein Reiseführer, geschweige denn er selbst, gekommen wäre. Ich habe das einmal vor vielen Jahren mit Berlin gemacht und einfach die Schnittpunkte des Stadtplanes entscheiden lassen, wo ich hinging. Viele Orte waren Nicht-Orte, aber die waren es auch oft erst geworden, nachdem sie lange wichtig gewesen waren. Das war damals noch im geteilten Berlin. Aber so stießen wir - ich hatte einen Fotografen dabei - auf einen Komplex, von dem aus die Westberliner Wasserversorgung verwaltet wurde und ich erfuhr so, was selbstverständlich war, worüber ich mir aber niemals Gedanken gemacht hatte, dass Westberlin - natürlich - völlig abhing vom Wasser aus dem Osten der Stadt.

Niklas Maak, 1972 in Hamburg geboren, Redakteur der FAZ und einer der besten deutschen Architekturkritiker, durchquerte mit der kanadischen Autorin und Künstlerin Leanne Shapton - sie lebt in New York - Manhattan. Herausgekommen ist ein großartiges Buch, das auch noch eines der schönsten des vergangenen Jahres ist. Die Linie, der die beiden folgen, sei, so meint Maak, gerade nicht vom Zufall diktiert, sondern sie folge der Besiedlung Manhattans. Mit ihrer Geschichte beginnt er. So kommt Zug in die Story. Es entsteht fast so etwas wie eine Handlung. Sie endet im Norden.

Die Autoren, gezeichnet von Leanne Shapton


Einer der letzten Einträge lautet: "West 218th Street / Muscota Marsh - Hier liegen die Salzmarschen. Bei Ebbe stochern die Möwen durch den Schlick und die Schneegänse, die Reiher sitzen auf den Wiesen. Da steht das alte weiße Bootshaus, ein Schild 'Peligro - No se permite Nadar / tirarse de cabeza'. Die Geschichte bohrt sich an die Oberfläche: Hier trafen sich die Lenape-Indianer und feierten ihre Rituale und aßen Austern, wovon die vielen Schalen im Boden zeugen, manchmal reißt das Wasser den Boden auf, dann erscheinen sie, hell und weiß wie alte Knochen. Da ist der Fluss, Name: Spuyten Duyvil Creek. Er trennt Manhattan von der Bronx, er verbindet den Hudson River mit dem Harlem River. Früher floss er weiter nördlich, hinter dem Marble Hill, der damals noch zu Manhattan gehörte. Die Tide war stark hier, deswegen gingen die holländischen Bauern hier bei Ebbe durchs Wasser, um das Geld für die Fähre an 125th Street zu sparen. Frederick Philipse ließ daraufhin im Jahr 1639 die King's Bridge genau an dieser seichten Stelle über den Spuyten Duyvil Creek bauen und erhob Brückenzoll: Sogar damals stand hinter der Veränderung der Topografie schon der Wunsch, so viel Geld wie möglich zu machen."

Maak ist immer in Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig. Er weiß, dass man beidem nicht entkommt. Also stellt er sich ihnen. Lustvoll und Lust machend. Das heißt, falls ich noch einmal Geld genug auf dem Konto haben sollte, um nach New York zu reisen, werde ich Zeit brauchen, denn ich werde erstens dem Weg folgen, den Maak und Shapton gebahnt haben, ich werde aber zweitens mir einen eigenen suchen. "Durch Manhattan" ist einfach zu animierend, um darauf zu verzichten. Aber - wir wissen es - man sieht nur, was man weiß, also werde ich fast nichts sehen im Vergleich zu dem, was alles Maak und Shapton entdeckten. Und wir, ihre Leser, mit ihnen.

Noch ein Wort zu Leanne Shaptons Aquarellen. Sie bilden nicht ab, worüber Niklas Maak schreibt. Es sind Striche und Linien, quellende Formen meist in Grau. Dann sieht man genauer hin und entdeckt eine Schriftzeile z.B. "97th Street/Central Park West" Das grün-bräunliche Grau sind die Wiesen und der Krummstab ist die sie durchquerende 97. Straße. Eine schöne Linie. Es gab Epochen der Kunstgeschichte, die über kaum etwas anderes diskutierten. Die 52nd Street habe ich im Text nicht gefunden. Sie hat, wenn ich nichts überlesen habe, nur einen Auftritt bei Leanne Shapton auf den Seiten 90-91. Das treibt mich zu Wikipedia. Die Straße hat sogar einen Eintrag in der deutschen Wikipedia. Der beginnt mit den Worten: "Die legendären Jazzclubs der 52nd Street  waren in den 1930er bis 1950er Jahren in New York City ein Mekka des Jazz, insbesondere des Bebop, so dass sie damals auch Swing Street, The Street that never sleeps oder Street of Jazz genannt wurde…". Maak dachte wohl, das weiß eh jeder. Er hatte nicht mit meiner Ignoranz gerechnet.

Niklas Maak, Leanne Shapton: Durch Manhattan, Hanser Verlag, München 2017, 220 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ein Stadtplan, 25 Euro.
Stichwörter