Heute in den Feuilletons

Niemand sprach mit mir

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2013. In der FAZ verzweifelt Michael Kumpfmüller an den Franzosen. Die Welt staunt über die Lebensfreude des Honoré Fragonard. Die NZZ erklärt den Erfolg von Buzzfeed. Die SZ freut sich über eine Satire auf einen islamistischen Gottesstaat, für die sich aber nirgends ein Verleger findet. In Eurozine kritisiert Slavenka Drakulić das kroatische Gesetz gegen die Homoehe. Die taz warnt: 180 Gramm schwere Vinylplatten sind reine Angeberei.

Welt, 03.12.2013

Tilman Krause spaziert durch die Karlsruher Ausstellung Honoré Fragonards und bewundert Verve und Witz des Rokokomalers: "Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Triumph der Sinnlichkeit, den Fragonard wieder und wieder malt. Die Grenzen zur Pornographie, das verlangt dem Betrachter auch heute noch einiges ab, sind fließend. Aber selbst wenn wir 'Das Mädchen mit Hund' betrachten, wie es auf schwellenden Alkovenkissen halb nackt mit einem Hündchen tollt, das seinen Schwanz sehr eindeutig auf eine Körperöffnung legt, so wirkt das eigentlich nicht aufreizend, nicht lüstern, strahlt vielmehr naive Lebensfreude aus."

Weitere Artikel: Andrea Backhaus berichtet über syrische Künstler, die in Beirut ein neues Publikum finden. Matthias Heine und Stefan Grund porträtieren den britische Dramatiker Martin Crimp. Kai Luehrs-Kaiser vergießt eine Träne um das Deutsche Fernsehballett, dem der MDR jetzt schnöde kündigte. Melanie Suchy berichtet über Rekonstruktionen von Choreografien Pina Bauschs und Mary Wigmans. Ekki Kern meldet, dass der Spiegel ab 2015 samstags erscheinen soll. Sascha Lehnartz trifft in Brüssel den belgischen Elektro-Hiphopper Stromae ("Alors on danse").

Weitere Medien, 03.12.2013

Die reaktionären, antiliberalen Tendenzen in Kroatien sollten dem Rest der EU als abschreckendes Beispiel dienen, warnt die Schrifstellerin Slavenka Drakulić bei Eurozine. Dort hat die Initiative "Im Namen der Familie" für eine Volksabstimmung geworben, die inzwischen abgehalten wurde: Knapp zwei Drittel der Wähler wollen einen Verfassungszusatz, der die Ehe nur zwischen Mann und Frau erlaubt (mehr hier). "In einem Land, das geplagt ist von wirtschaftlicher Krise, Arbeitslosigkeit und wachsender Armut, sind Angst und Zukunftssorgen nicht überraschend. Auch nicht überraschend ist, dass in Zeiten wie diesen, die Leute auf alte und bekannte Werte und Verhaltensmuster zurückgreifen, vor allem Nation, Tradition und Religion betreffend. Der zunehmende Einfluss von rechtem Populismus in ganz Europa ist ein Beweis dafür, dass die großen Parteien nicht mit dieser Angst umgehen können, die sich in Hass gegen Homosexuelle, Immigranten, Serben oder andere Sündenböcke äußert."

NZZ, 03.12.2013

Martin Hitz betrachtet das Phänomen Buzzfeed, das erfolgreich die Zielgruppe "bored at work" bearbeitet - durchaus mit seriösem Journalsimus und viel mit drolligen Listicles ("19 Cats Who Just Want To Look Sexy For Halloween"), vor allem aber mit einer "obsessiven Fokussierung auf Teilbarkeit": "Unterstützt werden sie dabei von einem neunköpfigen Team von Datenanalytikern, das das Web mithilfe selbstentwickelter Analysewerkzeuge - man versteht sich nicht zuletzt auch als Technologieunternehmen - in Echtzeit nach potenziellen viralen Inhalten durchforstet und die 'Buzzfeed'-Beiträge oder Hinweise darauf auf ihrer Reise durch das World Wide Web verfolgt... Die Analyse-Software wird auch von den rund 250 Partner-Websites des sogenannten Buzzfeed Network verwendet, so von der New York Times, der Daily Mail oder der Huffington Post. Buzzfeed bekommt so Daten über das Nutzungsverhalten von 490 Millionen Personen."

Marc Zitzmann kann nach einer neuen Studie melden, dass sich die französische exception culturelle auswirkt: "Frankreichs Kulturindustrie wiegt wirtschaftlich schwerer als die hiesige Autoindustrie und nur wenig leichter als die Telekom- oder die Chemieindustrie."

Weiteres: Hannelore Schlaffer bemerkt, wie Armin Petras das Schauspiel und die Stadt in Stuttgart verändert: "Armin Petras hat einen Auftritt, und das ist für Stuttgart, auch was ansässige Künstler und Schriftsteller betrifft, eine Novität." Franz Haas macht uns mit dem neuen italienischen Fernsehformat "Masterpiece" vertraut, das literarische Talente castet - oder zumindest Leute mit einer guten Geschichte.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg in der Wienbibliothek, Roger Perrets Anthologie "Moderne Poesie in der Schweiz", Mohsin Hamids bissiger Roman "So wirst du stinkreich im boomenden Asien" und Lisa Elsässers Erzählungen "Feuer ist eine seltsame Sache" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 03.12.2013

Alex Bechberger beobachtet einen neuen Run auf die Schallplatten, die jetzt zu lachhaft hohen Preisen verkauft werden: "Wie Hippiekinder nach einem Bausparvertrag sehnt sich eine neue, mit Nullen und Einsen aufgewachsene Generation Y nach Haptik." Für ein reines Angeberformat hält Bechberger - nach Rücksprache mit Platten-Pedro aus Charlottenburg (mehr hier) - die neue 180 Gramm schwere Vinylplatte: "Eine Wertigkeit wird vorgegaukelt, die Vinylplatte verwandelt sich in ein Coffeetable-Objekt. Pedro fasst das auf seine unnachahmliche Art zusammen: '180 Gramm kannste vergessen, die Platte kann so dünn sein, wie sie will, solange die Nadel nicht auf der anderen Seite durchkommt. Jetzt kommt die Industrie mit 200 Gramm, reine Geschäftemacherei."

In seiner Kolumne befasst sich Micha Brumlik mit einem heiklen Fall aus der universitären Begutachtung. Besprochen werden die Rüsselsheimer Ausstellung mit Noa Eshkols Wand-Teppichen in den Opel-Villen, eine Bremer Inszenierung von Elfriede Jelineks Bühnentext "Tod-krank.doc" und Dev Hynes Album "Cupid Deluxe".

Und Tom.

SZ, 03.12.2013

Nicht alle SZ-Redakteure haben Angst vor "Provokationen". Mit viel Freude hat Tomas Avenarius eine unter dem Pseudonym H.Z. Imli und aus Sicherheitsgründen bislang nur als selbstverlegte englische Kindle-Edition vorliegende Science-Fiction-Satire "The Thirty-Third Marriage of Donia Nour" gelesen, die das denkbar groteske Bild eines islamistischen Gottesstaates auf ägyptischem Boden im Jahr 2048 zeichnet. Ein Verleger fand sich weder in der arabischen Welt noch in Europa oder in den USA, Schade, findet Avenarius: "Ilmi selbst schreibt am zweiten Roman, über eine utopische Gesellschaft, die frei ist von den Geißeln Glauben, Schuld, Ehre. Sein erstes Buch sollte man drucken, auf Arabisch: 85 Millionen Exemplare, verteilt an alle Haushalte Ägyptens, Pflichtlektüre in der Schule, die Kurzfassung am Wahlzettel angeheftet. Vielleicht bewegt sich doch etwas in den Köpfen."

Willi Winkler bedankt sich freundlich bei Schwarzkopierern für die Zugänglichmachung dreier, nach Willen des Autors nicht vor 2060 zu veröffentlichender Kurzgeschichten aus der Feder von J.D. Salinger: Nun könne jeder "für sich nachprüfen, auf welch schwachen Füßen selbst J. D. Salinger einmal stand, noch ganz an seinem Schreibanfang, aber bereits auf dem Weg zur Vollkommenheit." Mehr zum Leak hier.

Weitere Artikel: Nachdem in Kroatien ein Volksentscheid mit zwei Dritteln gegen die Homoehe ausging, zeigt sich Gerhard Matzig missmutig, was die ursprüngliche Absicht von Volksentscheiden - mehr politisches Mitspracherecht für Minderheiten - betrifft: "Die direkte Demokratie scheint mehr für den Status quo tun zu können - als dass sie sich für Dynamik und Veränderung anbietet." Stadtsoziologe Andrej Holm erklärt Laura Weissmüller in einem ausführlichen Gespräch Ursachen und Folgen der Gentrifizierung. Willibald Sauerländer durchstöbert seine Privatbibliothek nach Juden geraubten Kunstbüchern. Egbert Tholl resümiert das Münchner Spielart-Festival, bei dem ihm vor allem die "Situation Rooms" des Rimini Protokoll imponierten: "Ein hybrides Meisterwerk."

Außerdem hat die SZ heute noch eine Buchbeilage.

Besprochen werden zwei Textil-Ausstellungen in Bielefeld und Wolfsburg, ein Münchner Klavierkonzert mit Murray Perahia (ein ziemlich angefressener Helmut Mauró hat mitgestoppt: "Klavier und Orchester klafften bis zu einer halben Sekunde auseinander) und Bücher, darunter der vierte Band der Reihe "Art Now" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 03.12.2013

Michael Kumpfmüller hat in der französischen Literaturszene die Erfahrung aller deutschen Autoren gemacht, die nicht hegeln oder heideggern: Sie werden nicht wahrgenommen - und das, obwohl er in Frankreich einen Literaturpreis bekommen hat: "Beim Empfang sagte der Präsident der Jury mit großer Geste, dass hier alles mir zu Ehren sei, dann drehte er mir den Rücken zu und unterhielt sich mit jemand anderem. Ab und zu stellte sich ein Mitglied der vierzehnköpfigen Jury vor, Gespräche jedoch - Fehlanzeige. Niemand sprach mit mir..."

Weitere Artikel: Rolf Jessewitsch, der das Kunstmuseum Solingen mit dem Schwerpunkt "Verfemte Künste" leitet, bietet im Gespräch mit Andreas Rossmann Hintergründe zum Fall Gurlitt und erzählt die Geschichten einiger weniger bekannter Künstler aus dem Konvolut, das darum auch eine Chance zur Wiederentdeckung bietet. In der Reihe über "Kosmopolitismus" denkt Mark Siemons über den chinesischen Blick auf die Außenwelt nach. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod von Chris Howland. Unter der Überschrift "Belgien will die Euthanasie für Kinder und Jugendliche" erläutert Oliver Tolmein, dass in Belgien jetzt auch Jugendliche und Kinder, die unheilbar erkrankt sind, Sterbehilfe verlangen können. Fünfzig Jahre nach Thomas Bernhards Debütroman "Frost" erfährt die Autorin Bettina Erasmy, dass sie das dort beschriebene Land und die Leute nicht so grimmig sehen kann. Auf der Medienseite hofft Michael Hanfeld, dass Wolfgang Büchners Reformprogramm für den Spiegel für Aufbruchsstimmung in dem komplizierten Hause mit seinen großen sozialen Unterschieden sorgt. Und Oliver Jungen empfiehlt eine Reportage über "Indiens verlorene Töchter" heute Abend auf Arte.

Besprochen werden "Inside Llewyn Davis", der neue Film der Coen-Brüder (Jan Wiele ist hingerissen), eine Platte Robert Wyatts mit Material aus dem Jahr 1968 und einem Auftritt von Jimi Hendrix höchstpersönlich, eine Ausstellung über den Wiederaufbau an der japanischen Ostküste in der Berliner Galerie Aedes, zwei Theaterpremieren in Berlin, nämlich "Atmen" von Duncan Macmillan an der Schaubühne und "In der Republik des Glücks" von Martin Crimp am Deutschen Theater und Bücher, darunter ein Band der Weltgeschichte von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).